Der vierte Abschnitt.

Von der Wahl der Materie.

[100] Das Verwundersame in der Natur, welches in den Verstand leuchtet, bringt dem grösten Haufen der Menschen kein Ergetzen. Unter den sinnlichen Gegenständen machen nicht alle Dinge einen gleichen Eindruck. Wahl der Urbilder nach den besondern Absichten des Poeten. Ein übelgewehlter Gegenstand bringt dem Poeten noch mehr Nachtheil als dem Mahler. Doppelter Grund des Ergetzens, das von der Nachahmung entsteht, die Befriedigung des Verlangens nach Wissenschaft, und die Bewegung des Gemüthes. Vorzug der bewegenden Bilder. Einschränckung der Wahl der Bilder durch die verschiedenen Gattungen Gedichte; ferner, durch die Gesetze der Ehrbarkeit. Vertheidigung einer Stelle in der Rede des Phenix zu Achilles wider la Motte. Lehrsatz der stoischen Weltweisen wider die Ehrbarkeit. Bestraffung der Cynischen Poeten. Daß das Nützliche in die Absichten der Poesie einfliessen müsse.


Nachdem ich nun gezeiget habe, daß die Kunst des Poeten so wohl als des Mahlers in einer geschickten Nachahmung der Natur bestehet, und daß ihre vornehmste und erste Absicht ist, die Wahrheit den Gemüthern auf eine angenehm-ergetzende Weise beyzubringen, so hoffe [ich], mein Leser werde mir mit seiner Aufmercksamkeit nicht ungerne zu einigen absonderlichen Betrachtungen der Materie der poetischen Nachahmung nachfolgen, da ich zu untersuchen gedencke, was für Kraft und Nachdruck eine geschickte Wahl der Materie den Wercken der Poesie mittheilen könne. Nach Vollendung dessen wird mir obliegen, die Vortheile und Geheimnisse der poetischen Kunst, welche sie in der Ausführung ihres Vorhabens mit so erwünschtem Fortgang anwendet, zu erklären und an das Licht zu stellen.

Die Kunst muß ihre Urbilder, die sie durch eine geschickte Nachahmung sinnlich vorstellen will, in der Natur aufsuchen und bey ihr entlehnen, alldieweil das Unnatürliche uns nicht gefallen kan. Die Natur hat denen Künsten des Poeten und des Mahlers alle ihre Schätze, auch die verborgensten, vor den äusserlichen Sinnen[101] eröffnet, und ihnen ohne Maßgebung überlassen, die Wahl unter denselben nach ihren Absichten einzurichten. Nun ist die Natur zwar in allen ihren Wercken über die Massen verwundersam, und ein aufmercksamer Geist findet in einer tiefen Betrachtung derselben immer neue Materie zu seiner Ergetzung, und gleichsam eine unerschöpfliche Quelle von Vergnügen, er richte seine Gemüthes-Augen auf das unerforschliche Wesen derselben, und auf ihre unbegreifliche Zeugung, oder auf ihre unermeßliche Mannigfaltigkeit, auf ihren Zusammenhang, Ordnung, Ebenmaß, Verhältniß unter und gegen einander, auf ihre weisen Absichten, auf eines jeden Stükes Gestaltung, innerliche Beschaffenheit, Vollkommenheit in seiner Art, und so fort. Alle diese Betrachtungen und derselben geschickte Vorstellungen müssen ohne Ausnahm und Unterschied einen angenehm-erleuchtenden Einfluß auf den Verstand haben: Alleine dergleichen Betrachtungen erfordern ein tiefes und strenges Nachdenken, wozu die wenigsten Menschen geschickt sind, daher auch das Verwundersame in den Wercken der Natur, welches alleine den forschenden Verstand bestralet, für den grösten Haufen der Menschen nichts empfindliches hat, und darum auch in ihrem Kopf ungeschmackt und ohne Ergetzen ist. Die Natur hat dem Menschen ein allgemeineres und vor seine Natur bequemeres Ergetzen zugedacht, dessen Genuß ihm nicht so schwer ankommen sollte, aus dieser Ursache hat sie ihn mit den Sinnen, als mit Werckzeugen begabet, mittelst deren die Schönheiten der Natur sich ihm durch einen blossen Eindruck ohne seine Mühe offenbareten; welches machet, daß auch die meisten Menschen mehr nach einem sinnlichen Ergetzen streben, und mehr durch das Gefühl als durch den Verstand geleitet werden; denn es ist viel leichter, den Eindrüken folgen, welche die Sachen in der Natur auf uns machen, und die meisten Leute wissen kein ander Mittel, als dieses, sich vor Verdruß zu verwahren. Und[102] eben dieses sinnliche Ergetzen ist dasjenige, welches die Dicht- und die Mahler-Kunst durch die Nachahmung hervorzubringen suchen; da sie nemlich sich bestreben, die Sachen so lebendig nachzubilden, daß ihre Gemählde eben dieselben Eindrücke auf die Phantasie und das menschliche Gemüthe machen, als die natürlichen Gegenstände durch die Kraft ihrer würcklichen Gegenwart thun würden. Nun lehret uns aber die unwidersprechliche Erfahrung, daß nicht alle Dinge in der Natur, die eine gleiche Wahrheit haben, auch einen gleichen Eindruck in dem Gemüthe machen, oder dasselbe mit einer gleichen Kraft rühren; nicht alle Speisen reizen den sinnlichen Geschmack auf einem gleichen Grad und mit einer gleichen Lust; wir suchen den widrigen Geruch, der uns von einem Todten-Aaß in die Nase steiget, durch einen angenehmern vorsichtig zu dämpfen; eine sanfte Musik, das murmelnde Rauschen einer Bache, und das gräßliche Gebrülle des Donners machen gantz verschiedene Eindrücke auf den Sinn des Gehöres; die Morgenröthe, die untergehende Sonne, der Zug und die Bewegungen eines Kriegs-Heeres, ein Sturm auf der See, ein Wasser-Fall, die Eißberge, die von den Schweitzern Glätscher genannt werden, sind alles Sachen, die nach gantz verschiedenen Weisen auf das Gemüthe würcken. Folglich hat unter den Urbildern, so die Natur dem Poeten und dem Mahler zum Muster ausgestellet hat, eine vernünftige Wahl Platz, welche durch die besondern Absichten eines jeden Vorhabens bestimmet wird; und es ist auch in der That sehr viel, ja alles an dieser Wahl der Bilder gelegen, angesehen der glückliche Fortgang einer Vorstellung gröstentheils von derselben abhängt, alldieweil die Nachahmungen uns nur in dem Maasse rühren, als die nachgeahmete Sache selbst thun würde, wenn wir sie wahrhaftig vor Augen sähen. Dergestalt wäre es an einem Poeten oder Mahler, wie Düboß wohl angemercket hat, das unvorsichtigste Stücke, wenn sie solche Sachen vor sich[103] nähmen nachzuahmen, welche wir in der Natur mit Gleichgültigkeit anschauen würden; wenn sie ihre Kunst anwendeten, uns Handlungen vor Augen zu stellen, die nur eine mittelmässige Aufmercksamkeit von uns erhalten würden, wenn wir sie wahrhaftig geschehen sähen. Wie wird uns die Copie rühren können, da ihr Original selbst solches nicht vermag? Wie wird ein Gemählde vermögen, unsere Augen auf sich zu ziehen, welches einen Bauer vorstellet, der zwey Last-Thiere vor sich her treibet, wenn die Handlung, die in diesem Gemählde nachgeahmet wird, unser Gesicht nicht auf sich ziehen mag? Wir loben zwar den Mahler wegen seiner Kunst, diese Sache geschickt nachzuahmen, aber wir tadeln ihn, daß er seinen Fleiß auf Sachen gewandt hat, um die wir uns so wenig bekümmern. Ja ich muß hier insbesondere anmercken, daß der Mahler in diesem Stücke noch einen wichtigen Vortheil vor dem Poeten besitzet, welchen ihm die besondere Art der Nachahmung, der er sich bedienet, einräumet; ein Gemählde kan uns durch die blosse Schönheit der Verfertigung gefallen, ohne daß die Sache, die es vorstellet, etwas dazu beytrage; wenn schon die Materie seiner Vorstellung nichts vortreffliches oder verwundersames an sich hat, so kan dennoch sein Gemählde durch das hohe Licht und die Vermischung der Farben, oder durch das Leben der Vorstellung, oder durch einen andern Vortheil der Kunst das Auge ergetzen, und in dieser Absicht schätzbar seyn; wie die künstlich-gemahleten Weintrauben des Zeuxes und des Parrhasius, und der feine Pinsel-Zug, mit welchem Apelles dem berühmten Mahler Protogenes seine unerwartete Ankunft auf der Insel Rhodus verrathen hat; diese belobten Meisterstücke haben ihren Preiß nicht von der Materie ihrer Vorstellung, sondern von der Kunst bekommen, die ihre Urheber in der Nachahmung erwiesen haben, man bewunderte in denselben den Pinsel, der die Natur so genau hat nachahmen können, woraus erhellet, daß eine glückliche[104] Nachahmung den Verdienst des Mahlers am meisten erhebet. Da hingegen der Poet in der Ausführung seines Vorhabens statt der sichtbaren Farben sich der Worte und ihrer harmonischen Verbindung bedienen muß, so hat die einfältige Nachahmung eines übelerwehlten Gegenstandes keine eigentümliche Schönheit oder Kraft, durch welche sie das Gemüthe entzücken, oder in Bewegung setzen könnte. Die Schönheiten in der Ausarbeitung machen vor sich alleine kein Gedicht zu einem guten Stücke, wie sie ein Gemählde zu einem schätzbaren Wercke machen. Die Welt machet niemahls viel aus den Wercken eines Poeten, der keinen andern Talent hat, als daß er es in der Mechanick seiner Kunst hoch gebracht hat. Vermöge dieser Anmerkung bestehet der wahre Verdienst eines Poeten im wenigsten darinn, daß er ohne Wahl und Unterschied alles schildere, was in der Natur vorkömmt, und es ist bey weitem nicht das vollkommenste Lob, wenn man gleich von seinen Wercken sagen kan, daß sie wahr, natürlich und ähnlich seyn; die Poesie empfängt ihre gröste Stärcke und Schönheit von der geschickten Wahl der Bilder. Also ist leicht zu erachten, was vor ein wichtiges Ding es um die Wahl der Materie ist, vornehmlich in poetischen Wercken.

Die Kunst des Poeten und des Mahlers, suchet durch den unschuldigen Betrug der künstlichen Nachahmung eben diejenigen Eindrücke in dem Gemüthe der Menschen zu erwecken, welche es von den gegenwärtigen in der Natur vorkommenden Dingen selbst empfangen würde; die Kunst der Nachahmung thut mehrers nicht, als daß sie die abwesenden Gegenstände gleichsam herbey bringet und vor Augen stellet: Also muß die Kraft und Würckung der Vorstellung auf das Gemüthe unmittelbar von der Materie der Vorstellung herrühren. Nun hat das Ergezen, welches die Natur und hiemit auch die Nachahmung durch die Eindrücke ihrer Vorstellungen hervorbringen, einen doppelten Grund; angesehen diese Vorstellungen[105] dienen, entweder den angebohrnen Vorwitz und die Begierde nach Wissenschaft zufrieden zu stellen, oder das Gemüthe in Bewegung zu setzen, an sich zu ziehen und einzunehmen; dasselbe in einer angenehmen Unruh aufzuhalten, es beschäftigt zu halten, und dadurch den verdrüßlichen Zustand einer Bewegungs-leeren Stille aufzuheben. Ihre Absicht ist demnach, entweder uns auf ihre Vorstellungen aufmercksam zu machen, und zu unterrichten, oder uns denselben zu Gunst einzunehmen und zu bewegen. Darum sind auch die Gegenstände, welche uns die Natur und die Nachahmung der Kunst vorstellet, entweder lehrreich oder bewegend. Alleine die Sachen, die nicht weiter bequem sind, als unsern Vorwitz zu stillen, ziehen uns nicht so sehr an sich, als die Sachen, die vermögend sind uns das Hertz zu rühren. Wenn es erlaubt ist, so zu reden, so ist der Verstand in seinem Umgang schwieriger, als das Hertz. Die Unruh und Bewegung der Gemüthes-Leidenschaften ist dem Menschen etwas so natürliches und angenehmes, daß man sagen kan, die Menschen überhaupt empfangen mehr Beschwerde von dem Leben das ohne Leidenschaften ist, als von den Leidenschaften selbst. Gleichwie die lange Weile ihnen beschwerlicher fällt, als die Unwissenheit, so ziehen sie die Lust in Bewegung gesetzet zu werden, der Lust Unterricht zu empfangen vor. Die verständigen Mahler, sagt Dübos, haben diese Wahrheit so wohl eingesehen, sie so wohl empfunden, daß sie selten Landschaften ohne Personen und öde vorgestellet haben. Sie haben sie bevölckert, sie haben in diese Gemählde irgend eine Materie hinein gebracht, dazu etliche Personen gehöreten, die uns mit einer gewissen Handlung in Bewegung bringen und folglich an sich ziehen könnten. Und aus demselben Grund haben auch geschickte Verfasser, die lehrreiche Gedichte verfertigen, und uns in ihren Wercken Unterricht ertheilen wollen, damit sie die Aufmercksamkeit der Leser unterhielten, ihre Verse mit[106] solchen Bildern ausgezieret, die hertzrührende Gegenstände abschilderten; wie Virgil in den Büchern von dem Feldbau gethan hat; und eben daher kömmt es, daß die Leute allezeit lieber die Bücher lesen werden, die sie rühren, als die, so sie unterrichten. Demnach ist ohne Streit die Wahl solcher Materien, die bequem sind, das Gemüthe zu rühren und einzunehmen, von einer kräftigern und sicherern Würckung, als die Vorstellung der todten Wercke der Natur: Ja ich darf behaupten, daß so gar unter den bewegenden Stücken diejenigen die kräftigste Würckung haben, und das strengste Ergetzen gewähren, welche die heftigsten, ungestümsten und widerwärtigsten Gemüths-Leidenschaften, als Furcht, Schrecken, Mitleiden, erregen, weil die Kunst der Nachahmung diese Leidenschaften, wie ich an dem Ende des vorhergehnden Abschnittes gezeiget habe, von allem würcklich Widerwärtigen reiniget; daher auch die Tragödie stärker anziehet und beweget als die Comödie.

Die Wahl aber der Materie wird noch näher bestimmet und eingeschräncket durch die verschiedenen Arten und Gattungen Gedichte. Diese sind so viele ungleiche Mittel und Wege, so die Kunst der poetischen Nachahmung erfunden hat, das erbauliche Ergezen, als ihre Haupt-Absicht zu erhalten. Unter denselben dienet das Epische Gedichte vornehmlich eine allgemeine moralische Wahrheit durch die geschickte Nachahmung einer grossen Handlung, die ihrer Wichtigkeit halber gantzen Nationen angelegen ist, nach ihren ausführlichen Umständen mit Ergetzen begreifflich zu machen; die Tragödie suchet durch die lebhafte Vorstellung eines harten und unvermutheten Schicksals, das vornehme Personen sich durch ihre Mißhandlungen zugezogen haben, bey den Zusehern Traurigkeit, Schrecken und Mitleiden zu erwecken, und sie auf ihre eigene Unglücks-Fälle vorzubereiten; die Comödie führet Leute von bürgerlichem Stand auf, sie durch die Nachahmung ihrer Fehler lächerlich zu machen;[107] die Satyre ist ein moralisches Straf-Gedicht über einreissende Laster, da entweder das Lächerliche in denselben entdecket, oder das abscheuliche Wesen der Boßheit mit lebhaften Farben abgeschildert wird; wie diese beyden die Menschen durch die Beschämung von dem Lasterhaften abschrecken, also suchen die Lobgedichte sie durch die Erhebung ungemeiner Thaten in einen nützlichen Ruhm-Eifer zu bringen; die Schäfer-Gedichte mahlen die glückselige Einfalt und Unschuld des ersten güldenen Welt-Alters mit den anmuthigsten Farben ab; die Elegie will dem Leser durch ihre wehmüthigen und verliebten Seufzer und Klagen eine innige und Mitleidens-volle Gemüthes-Bewegung abnöthigen; die Ode führet uns durch ihre entzükende Verwirrung aus uns selbsten; die Sinn-Gedichte belustigen durch ihre kleinen stacheligten und scharfsinnigen Einfälle; die Lehr-Gedichte unterrichten uns auf eine ergezende und leichte Weise von den Geheimnissen gantzer Wissenschaften oder besonderer Stücke derselben. Alle diese verschiedene Arten Gedichte geben der Materie der poetischen Nachahmung eine eigene Form, welche durch gewisse Regeln, die in der besondern Art der Nachahmung gegründet sind, gantz verschieden ausgesetzet und eingeschräncket wird. Ich halte vor unnöthig, hier die besondern Regeln, nach welchen diese verschiedenen Gattungen Gedichte müssen eingerichtet werden, anzuführen, ich setze voraus, daß ein Poet sich dieselben theils aus denen berühmten Schriften der alten und neuen Kunstrichter, dergleichen Aristoteles, Horatius, Boileau, Dübos, Dacier, la Motte, Fontenelle, Muratori, Addison, Pope sind, vorher bekannt gemachet, theils den Gebrauch derselben aus eigenen Anmerckungen unter Lesung der besten poetischen Stücke aus den ältern und den neuern Zeiten gelernet habe. Mein Vorhaben ist alleine, einige allgemeine Anmerckungen über den Unterschied der erwähnten poetischen Formen mitzutheilen, insoferne[108] die Wahl der poetischen Materie dadurch ungleich bestimmet wird.

Ich mercke vor allen Dingen an, daß in einigen Gattungen Gedichte der Poet selbst das Wort alleine führet, in andern aber fremden Personen übergiebt. In jenen Stüken, in welchen der Poet das Wort nimmt, herrschet die poetische Erzehlung und Beschreibung; da erweiset er seine mahlerische Kunst bald in der lebhaften Vorstellung der Wercke der Natur und der Kunst, bald in einer nachdrücklichen Erzehlung einer gantzen Reihe merckwürdiger Begebenheiten, bald in einer natürlichen Schilderey des verächtlichen und häßlichen Lasters in Absicht auf dessen unverständiges Betragen; bald in einer prächtigen Herausstreichung des erhabenen und bewährten Tugend-Ruhmes: Die hertzbrechenden und beweglichen Stücke beschreiben entweder den Schwung und den Gang der Gemüthes-Bewegungen, oder sie führen dieselben selbst auf den Schauplatz, wo sie sich in ihrer angebohrnen Sprache erklären, ja sie treiben dieselben zuweilen vermittelst der erhizten Einbildungs-Kraft auf einen solchen Grad der Verwirrung, daß es läßt, als wenn der Poet durch eine Begeisterung in die noch zukünftige Welt wäre entzüket worden, und die Dinge, die erst noch geschehen können, als gegenwärtig vor Augen sähe. Was die dramatischen Gedichte anbelanget, in welchen der Poet das Wort fremden Personen überläßt, herrschen in solchen die Handlungen, durch welche der Gemüthes-Zustand der Menschen deutlich characterisiert, und gleichsam sichtbar gemachet wird; diese Handlungen aber sind vornehmlich nach dem ungleichen Stand, Alter und Würde der Personen, welche aufgeführet werden, unterschieden, und eben daher rühret es, daß einige von diesen Gedichten in ihrer Ausführung weit prächtiger, andere aber gar natürlich und einfältig sind. Endlich fliessen in dem Epischen Gedichte alle andere Gattungen und Formen der besondern Gedichte gleichsam zusammen,[109] das Epische wechselt da mit dem Dramatischen, das Tragische mit dem Comischen beständig ab; gleichwie man nun angemercket hat, daß selten ein Mensch in allen Stücken und Gattungen der Mahlerey vortrefflich seyn könne, so ist es sich desto weniger zu verwundern, daß die wenigsten in diesem allervollkommensten Haupt-Wercke der Poesie etwas rechtschaffenes geschrieben haben.

Nun ist der Schluß leicht zu machen, daß der Poet sich in der Wahl seiner Materie allezeit nach dem Unterschied dieser poetischen Formen richten müsse. »Die Tragischen Begegnissen«, sagt Dübos, »können nicht in einem Sinn-Gedichte erzehlet werden; dieses kan zum höchsten einen scheinbaren Umstand solcher Begegnisse ausnehmen, und in sein gehöriges Licht setzen, es kan uns ein Stückgen davon zur Verwunderung vorlegen, aber es kan uns damit nicht das Hertz treffen; die Comödie will keine grausamen Lasterthaten vornehmen; Thalia kan keine Verwünschungen thun, noch einer schwartzen Übelthat die gebührende Straffe anthun. Die Ecloga schiket sich nicht vor gewaltthätige und blutige Leidenschaften.«

Endlich wird die Freyheit des Poeten und des Mahlers in der Wahl der Urbilder durch die Gesetze der Ehrbarkeit und der Sitten in engere Schrancken gesetzet. Die Natur lehret uns durch ihr eigenes Beyspiel, daß nicht alles, was natürlich ist, den Sinnen durch die Nachahmung mit Ergetzen könne vorgestellet werden, gestalt sie den Gliedmassen des menschlichen Leibes eine ungleiche Ehre und Würdigkeit zugeleget, und einige derselben nach ihrer weisen Vorsicht von den Sinnen weggewendet und verstecket, damit sie denselben durch ihre natürlichen aber eckelhaften Verrichtungen nicht beschwerlich fallen, oder sie an ihrem Ergetzen stören mögten. Da der Poet nun auch in seiner Wahl der Vorschrift und dem Exempel der Natur folgen muß, so wäre es ja thörigt gehandelt,[110] wenn er diejenigen Gliedmassen und Verrichtungen, welche die Natur so sorgfältig verborgen hat, damit sie dem Gesichte oder Geruche keinen Eckel verursacheten, durch die Nachahmung zu den Sinnen und der Einbildung herbey bringen, und ihnen nähern wollte. Zudem hat eben diese vorsichtige Natur dem Menschen, so bald die unordentliche Lust in seinem Hertzen angeflammet war, und ihn angereizet hatte, die Glieder des Leibes schändlicher Weise als Waffen der Unreinigkeit zu mißbrauchen, die Schamhaftigkeit eingepflantzet, die sich durch eine holde Röthe in dem Angesicht zeiget, so bald er seiner nacketen Blösse gewahr wird, und ihn hinterhält, daß er nicht über die Schrancken der Ehrbarkeit hinaus schweiffet, sondern alles sorgfältig verbirgt, was bey andern Menschen Anstoß und Ärgerniß verursachen könnte. Eben diese schamhafte Liebe der Zucht muß den Poeten in der Wahl seiner Bilder leiten, wenn er ehrbaren und vernünftigen Gemüthern gefallen will. Und daher entstehet denn die σεμνότης, die Züchtigkeit und Ehrbarkeit in den Gemählden, wenn alles auf das sorgfältigste vermieden wird, was die schamhaftigste Tugend nur im geringsten verlezen könnte. Dafern aber ein Poet sich gemüssiget siehet von solchen Dingen zu reden, so muß er auch alsdann von der Natur lernen, daß er solche anstössige Dinge den Sinnen nicht von ihren eckelhaften Umständen vorlege, sondern sie durch eine geschickte Umschreibung vielmehr errathen lasse, als entdecke. Die H. Sprache ist hierinnfalls überaus züchtig und eingezogen, und die dem Israel, Deuter. XXIII. 13.14. anbefohlene Reinlichkeit läßt sich auch in den Redens-Arten der Ebreer verspühren. Ich will nur die einzige Ausdrückung anführen, mit welcher sie eine solche natürliche Verrichtung anzudeuten pflegen, wenn sie sagen, die Füsse decken, Judic. III. 24. 1. Sam. XXIV. 4. womit sie zugleich die Sorgfalt gar genau anzeigen, die bey dergleichen Geschäften muß beobachtet werden.[111]

Ich erinnere mich hier eines Fehlers, welchen der Hr. la Motte in seiner Abhandlung von Homerus an diesem grossen Poeten dieses Stückes halber ausgesetzet hat. Er tadelt nemlich, daß Homerus in der Rede des Phenix, womit er den Achilles durch die Erinnerung der Pflege, die er in dessen zartesten Kindheit über sich genommen, zu begütigen gesuchet, ein gantz unangenehmes und eckelhaftes Bild habe einfliessen lassen, welches von diesem französischen Criticus dergestalt übersezet wird. »Wie ofte habet ihr mir den Busen voll gespien, wie Kinder gewohnt sind zu thun, und ihre Säugammen zu bespeyen.« Und er führt dieses Exempel bl. XCI. vor einen Beweißthum an, daß nicht alles, was in der Natur ist, darum weil es in der Natur ist, zu schildern sey. Alleine wenn ich den Homerus in dem neunten B. der Ilias v. 481. selbst einsehe, so fällt diese Beschuldigung gröstentheils auf die platte und ungeschickte Übersetzung dieses französischen Academici zurück, massen nichts ist, das durch pöbelhaftige, niedrige Wörter und Redens-Arten nicht könne verderbet und verunglimpfet werden, so daß auch in diesem Sinne die Anmerckung gilt:


Nihil est, quin male narrando possit depravarier.


La Motte übersezt diese Stelle mit Worten, die zwar die Haupt-Ideen von Homers Ausdrücken in sich enthalten, aber über dem noch einige zugesezte Begriffe, die gantz eckelhaft sind, mit sich führen. Hingegen haben die Wörter, die Homerus gebraucht hat, nichts von diesen Neben-Ideen, sie bringen nur den Haupt-Begriff von der Vergiessung des Weins hervor, ohne den Eckel, den das Wort, speyen, noch daneben anzeiget. Der alte Poet drücket sich ungefehr also aus: »Du hattest dich auch so sehr an mich gewöhnet, daß es schien, du könntest ohne mich nicht leben. Du wolltest ohne mich bey niemand[112] fremdem essen, und auch selbst daheim nichts kosten, wenn ich dich nicht auf die Knie nahm, ich mußte dir die Speisen vorschneiden, bis du dich satt gegessen hattest, und wenn ich dir zu trincken both, hast du mir in dieser rohen und unbehülflichen Kindheit die Weste oft mit Wein benetzet und übergossen. Also habe ich viel für dich gethan und ertragen, denn weil die Götter mir keine Kinder gegeben, die von mir entsprossen wären, hielt ich dich als mein eigenes Kind, und hoffete du würdest dereinst mein Trost seyn, und mein graues Haupt vor allem Ungemach bewahren.« Die Wörter καταδεύω und ἀποβλύζω haben nichts widriges in sich, jenes heisset naß machen, benezen, befeuchten; dieses bedeutet eigentlich das strudeln einer Quelle, und singultus bibentium. Auch ist hier die Rede von der ersten Kindheit des Achilles, und da ärgert man sich an kleinen Kindern nicht, wenn sie sich etwa bey allzu begierigem Trincken übergiessen. Alleine wenn ich dem französischen Tadler ein Genügen thun will, muß ich nicht alleine zeigen, daß dieses Bild natürlich und um etwas erträglich sey, sondern ich muß auch die Wahl desselben vertheidigen, weil er gläubet, die Weglassung dieses Bildes würde dem Nachdruck der Rede gewaltig aufgeholffen haben. Phenix will den zornigen Achilles auf gelindere Gedancken bringen, er erinnert ihn darum der zärtlichen und unermüdeten Sorge, die er in dessen ersten Jahren vor seine Auferziehung getragen. Sollte diese Vorstellung ihre Würckung thun, so mußte er zeigen, daß es nicht eine gemeine Vorsorge gewesen, sondern daß sie mit vieler Verdrüßlichkeit und grosser Müh vergesellschaftet gewesen. Diese beyden Stücke nun hat die Einführung des erwähnten Bildes in das gehörige Licht gesetzet, und Phenix giebt an dem Schlusse seiner Erzehlung deutlich genug zu verstehen, daß dieses seine Absicht gewesen, v. 488.


ὣς ἐτὶ σοὶ μάλα πόλλ᾽ ἔπαϑον, καὶ πόλλ᾽ ἐμόγησα.
[113]

Da er nun dasjenige, was die Auferziehung verdrüßliches hat, eben so wohl ausdrücken wollte, als was sie mühsames hat, so mußte er nothwendig einen Umstand erwehlen, der einen um etwas widrigen Eindruck machete, wozu sich das Übergiessen der Kleider trefflich wohl schickete. Und es ist so ferne daß dieser Umstand die Kraft der Vorstellung schwäche, daß er dieselbe vielmehr bis auf das höchste treibet. Man lege nur diese Worte einer Mutter, Säugammen oder Pflegerin in den Mund, so wird ihre Kraft jedermann empfindlich werden; und es wird sich wohl niemand ärgern, wenn eine solche ihrem undanckbaren Sohn als ein Zeichen der eckelhaften und verdrüßlichen Mühe seiner Erziehung vorrücket, daß er sie ofte übergossen habe. Denn daß Phenix als ein fürstlicher Herr, die Mühe der Erziehung bey Achilles selbst auf sich genommen, ist nicht alleine ein Zeugniß der zärtlichen Liebe, mit welcher er Achilles in dessen Kindheit zugethan gewesen, und machet uns eine gute und vortheilhaftige Meinung von Achilles, sondern es ist auch nach der Gewohnheit der alten heroischen Zeiten geschehen, da es sehr üblich war, daß Helden und Fürsten die Pflege junger Helden und Fürstlicher Kinder gehabt haben. Alleine damit ich wieder auf mein Vorhaben komme, so muß ich in Ansehung dieser Ehrbarkeit in den Gemählden hier auch anmerken, daß der weltweise Zeno und seine Anhänger sie nicht gebilligt haben, placuit enim illis, schreibet Cicero, suo quamque rem nomine appellare, wovon der Brief dieses Römischen Weltweisen an Pätus im neunten B. seiner Briefe verdienet nachgelesen zu werden, in welchem er diesen unverschämten stoischen Lehrsatz verwirfft. Mit Zeno hielt es eine andere berüchtigte Secte der Alten, die wegen ihrer Schamlosigkeit in den Reden und auch in den Thaten die Cynische genennet worden. Und ich werde nicht irren, wenn ich unter diese Cynische Secte alle diejenigen Poeten zehle, welche die edle Dicht-Kunst nöthigen,[114] unter der Fahne der Wollust Dienste zu thun, und mit der Keuschheit, Zucht und Ehrbarkeit Krieg zu führen. Ich meine hier nicht die heidnischen Poeten, welche ihr Religions-Systema und das Exempel ihrer Götter in ihren unreinen Lüsten gestärcket, massen sie mit dem Wahn eingenommen waren, daß sie durch die Ausübung derselben denjenigen ähnlich werden könnten, welche von ihnen angebetet wurden; sondern ich rede von solchen, die sich vor Verehrer einer Gottheit ausgeben, die aller Unreinigkeit feind ist, die auch selbst die ersten Regungen derselben zu unterdrucken befiehlt, und um jedes garstige Wort Rechenschaft fordert; welche dennoch ihre meiste poetische Arbeit nur dazu mißbrauchen, daß sie die Aufwallungen und Ausbrüche der unreinen Lüste auf das natürlichste ausdrücken, und bey ihren Lesern eben dergleichen Regungen erwecken. Der sel. Hr. Doctor Rambach hat in der Vorrede zu seinen poetischen Fest-Gedancken, wo er von dem Mißbrauche und rechten Gebrauche der Poesie handelt § 3 – § 8. mit einem billigen Eifer über die mehr als cynische Schamlosigkeit und das grosse Ärgerniß geklaget, das eine starcke Anzahl der deutschen Poeten dadurch angerichtet hat, und die Gefahr, in die sich solche cynische Dichter muthwilliger Weise stürtzen, klärlich vor Augen geleget. Ich verweise auch meinen Leser zu dieser Abhandlung, welche wohl werth ist, daß sie mit Bedacht gelesen werde, und begnüge mich nur noch die kurtze Anmerckung hinzu zu setzen, daß solche ärgerliche Reimen-Schmiede sich vergebens schmeicheln, mit ihren unflätigen Zoten und schlüpfrigen Allusionen ehrbare und zuchtliebende Gemüther zu belustigen, massen das Ergetzen, welches die Poesie gebähren soll, der Ehrbarkeit nicht anstössig, und hingegen der Glückseligkeit des Menschen beförderlich seyn soll.

Noch muß ich zu ihrer mehreren Beschämung gedencken, daß die verständigen Kunst-Lehrer unter den Heiden[115] selbst den Poeten unter ihren andern Regeln die Beobachtung der Ehrbarkeit vorgeschrieben haben; also hat Hermogenes in seinem vierten B. einen Abschnitt Περὶ τῆς σεμνότητος τοῦ λόγου gesetzet. Daselbst führt er ein Beyspiel aus Menander an, wo dieser die Schwächung einer Tochter mit dem Worte außdrücket: ἔγνω με. Wobey er diese Anmerckung hinzusetzet: ἐκόσμησε πρᾶγμα αἰσχρὸν, σεμνοτέρᾳ λόγου συνθέσει. Er füget ferner bey: Conficitur igitur dignitas in turpitudine: vel si nomen cum nomine commutemus: aut, quod sæpe fit, si res non exponatur, cum omnino turpis est: sed quæ ante rem fieri solent, & in sermonibus agitari, & quæ rem turpem consequuntur: quæ necessario aperte & cum dignitate significent etiam ea quæ silentio prætereuntur. Ut apud Homerum Odyss. λ᾽.


λῦσε δὲ παρϑενικὴν ζώνην, κατὰ δ' ὕπνον ἔχευεν.

ἣ δ' ὑποκυσαμένη τέκεν ὃν ἔδει τεκεῖν.


Hie συνουσίαν indicavit, cum posuit quæ ante rem & congressionem solent fieri, virgineam solvit zonam: & quia addidit, quæ post consuetudinem fiunt: Hæc vero gravida facta peperit, quem peperisse decebat.

Horatius hat schon angemercket, daß die Gelehrten gantz ungleiche Meinungen von der wahren Absicht der Poesie hegen, indem einige das Ergetzen, andere das Nützliche, noch andere beydes zugleich vor den Hauptzweck der Poesie angegeben haben:


Aut prodesse volunt, aut delectare poetæ,

Aut simul & jucunda & idonea dicere vitæ.


Alleine dieser Streit läßt sich leicht beylegen, wenn man einmahl bedencket, daß die Poesie, insoweit sie eine Kunst ist, die in der Nachahmung bestehet, nothwendig ergetzen muß, und dann ferner, daß alle Künste und Wissenschaften[116] zu der Beförderung der menschlichen Glückseligkeit müssen gebraucht werden; dergestalt, daß folglich das Ergetzen selbst ein Mittel abgeben muß, das Wohlseyn des Menschen zu befördern, gleichwie in der That die edleren Künste durch das Ergetzen den Wohlstand des Gemüthes, die mechanischen Künste aber die Vollkommenheit des äusserlichen Zustandes suchen. Woraus sich denn schliessen läßt, daß nichts in seinem rechten und vernünftigen Gebrauche könne ergetzlich seyn, was nicht zugleich nützlich ist. Demnach öffnen diejenigen, welche das Nützliche von dem Ergetzlichen sondern, zu dem schändlichsten Mißbrauche der Künste Thür und Thor, und machen solche zu Werckzeugen der garstigsten Lüste. Wenn ich dann sage, daß das Ergetzen der Hauptzweck der Poesie sey, so verstehet sich da nicht ein schädliches Ergetzen, welches seinen Ursprung von dem Laster nimmt, und den schlimmen Lüsten schmeichelt, sondern das ist ein Ergetzen, welches der Vernunft und der Würdigkeit der menschlichen Natur gemäß, und auf das Wahre und Gute gegründet ist, oder wenigst ein unschuldiges Ergetzen, das der Ehrbarkeit und Tugend nicht nachtheilig ist. Ein Poet ist zugleich ein Mensch, ein Bürger und Christ. Auf diesen Titeln beruhet seine Vortrefflichkeit und Wurde, und die Hoffnung einer zeitlichen und ewigen Glückseligkeit. Nun verdienet aber dasjenige den Nahmen eines wahren Ergetzens nicht, dessen Genuß den Menschen seiner Würde entsetzet, und ihn von der wahren Glückseligkeit entfernet; folglich muß das Ergetzen, welches die poetische Kunst gewähren kan, den Menschen zur Beobachtung der natürlichen, bürgerlichen und christlichen Pflichten aufmuntern, und also seine Glückseligkeit zu befördern dienen. Der Poet ist derowegen alleine darinne von dem Weltweisen, dem Sitten- und dem Staats-Lehrer unterschieden, daß er diejenigen moralischen und politischen Wahrheiten, die das Gemüthe zum guten lencken können,[117] auf eine angenehm-ergezende, allgemeine und sinnliche Weise vorstellet. Also ist auch kein Zweifel, daß nicht die Dicht-Kunst um so viel höher zu schätzen, und vor vollkommener zu achten sey, jemehr sie zu der Glückseligkeit der Menschen beyträgt. Wenn nun dieselbe nicht alleine durch das Ergetzen einer geschickten Nachahmung belustigt, sondern auch das Gemüthe durch das Nützliche verbessert, so hat sie ihre grösseste Vollkommenheit erreicht:


Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci.


Folglich muß ein Poet, der das höchste Lob erlangen will, sich einig darauf befleissen, daß er zwar hauptsächlich ergetze, aber zugleich auch dadurch Nutzen schaffe. Die Poesie ist zu allen Zeiten von vernünftigen Kennern vor eine Lehrerin der Weißheit und Tugend und vor eine Fördererin der menschlichen Glückseligkeit angesehen worden, sie dienete gleich in ihrem ersten Gebrauche nach Aristoteles Bericht in dem vierten Cap. seiner poetischen Kunst theils zur Verherrlichung der Götter, theils zur Beschämung der Lasterhaften; und die Fabel, die ein wesentliches Theil von der Dicht-Kunst ausmachet, hat jederzeit der Sitten- und der Staats-Lehre nützliche Dienste gethan, indem sie die Unterrichte dieser Wissenschaften mittelst ihrer Kunst auf eine angenehme Weise in die Gemüther der Menschen eingespielet hat. Die Geschichte des Menenius Agrippa kan uns ohne mehrers davon überzeugen. Dieser kluge Römer hat durch die geschickte Fabel von der Empörung der Glieder wider den Magen die Aufruhr der Bürgerschaft von Rom gestillet. Also war die Poesie in ihrem Ursprung und rechten Gebrauche zur Verehrung Gottes, zur Besserung des Nebenmenschen, und zu einer unschuldigen Aufmunterung und Belustigung des Gemüthes gewiedmet: Aber so bald diese edle Gabe des Himmels durch den schädlichen[118] Mißbrauch entweyhet worden, ward sie nach und nach zu einem schändlichen Werckzeuge der drey vornehmsten lasterhaften Neigungen, der Wollust, der Ehrsucht, und des Geitzes gemachet, und mußte diesen Tyrannen als eine gefangene Sclavin dienen. Wenn man inzwischen die besondern Arten Gedichte, ihre verschiedene Gestalt und ihren Zweck einsiehet, so zeiget sich noch klärer, daß das Ergetzen der Poesie sich noch ferner die Erbauung zu seiner lezten Absicht setzen, und dieselbe durch verschiedene Wege müsse befördern helffen. Was zwar die kleinern Gattungen der Lyrischen Gedichte betrifft, als die Oden, Cantaten, Madrigale, Elegien, Sonnete u.a., so kan man nicht immer fordern, daß sie allemahl grossen Nutzen schaffen, allermassen sie zu einer unschuldigen Kurtzweil dienen, und daher genug ist, wenn sie nur den vornehmsten und Haupt-Zweck der Poesie, nehmlich das Ergetzen, gewähren. Alleine die grössern Hauptstücke der Poesie, als die Epopee, das Trauerspiel, die Comödie, die Satyre, anbelangend, ist unstreitig, daß diese Gattungen Gedichte nicht das blosse Ergetzen, sondern die Besserung des Willens zum Zwecke haben. Das epische oder heroische Gedichte ist eine Schule für den Leser, wo er zu hohen, tugendhaften und großmüthigen Unternehmungen aufgewecket und vorbereitet wird; und die Epische Fabel hat allezeit eine nützliche Hauptlehre in sich; in der Tragödie kan man die Abwechselungen des menschlichen Schicksals erlernen, mittelst des Schreckens und des Mitleidens die Affecten der Leute reinigen, und die Mächtigen durch das Beyspiel anderer, die sich selbst durch ihre Tyrannie in das gröste Elend gestürtzet haben, von Grausamkeit und Gewaltthätigkeit abhalten; die Comödie stellet uns die Mängel gemeiner Personen vor Augen, und ist ein Spiegel des bürgerlichen Lebens, damit die Haus-Väter unter dem Volck lernen, ihren Haushaltungen vorstehen, ihre eigenen Fehler verbessern, und sich an ihrem Stand begnügen.[119] Derowegen muß ich die Poesie nicht nur als eine Kunst betrachten, die in der Nachahmung bestehet, sondern als ein Geschencke des Himmels, und ein köstliches Werckzeug, dadurch Wahrheit und Tugend eingeführet und das Laster verjaget wird. Und diesemnach muß ein Poet in der Wahl seiner Materie nicht alleine auf das Wahre und Neue sehen, und es ist nicht genug, daß seine Vorstellungen natürlich und wunderbar seyn, sondern sie müssen auch ehrbar und nützlich seyn; hiemit müssen sie die Erleuchtung des Verstandes und die Besserung des Willens zum Zwecke haben; an welchen beyden Stücken die Glückseligkeit des menschlichen Lebens einig hängt, und ohne welche kein wahrhaftes und eigentliches, vernünftigen Geschöpfen anständiges Ergetzen statt haben kan.

Quelle:
Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst, in: Johann Jakob Bodmer; Johann Jakob Breitinger: Schriften zur Literatur. Stuttgart 1980, (S. 83–204), S. 100-120.
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