Die Geheimnisse des Taschenbuches.

[76] Zur Zeit, da Hetzer der Rosa seine Denkschrift über die innern Verhältnisse des Theaters der Hauptstadt übergab, hatte ich noch nicht das Vergnügen, mit Rosa persönlich bekannt zu seyn. Daß eine solche Denkschrift unter Gutgesinnten im Umlaufe sey, und den Wunsch zu einer dringend nöthigen Reform immer allgemeiner mache, las ich in Journalen, und hörte ich von jedem Bühnenfreunde. Der Name Hetzer kam mir so bekannt vor, als hätte ich[76] ihn schon vor vielen, vielen Jahren häufig ausgesprochen, und nur im bunten Wechsel der Ereignisse des Lebens in den Hintergrund gestellt. Nun fand ich in meinem Tagebuche, daß wir Beide zur Zeit unserer Vorbereitungsstudien die spanische und englische Sprache miteinander erlernt hatten, erneuerte durch einen Brief unsere Jugendfreundschaft, und bat ihn um eine Abschrift jener Denkschrift unter Zusicherung der unbedingtesten Diskretion.

Acht Tage darauf erhielt ich durch die Post, was ich wünschte. Im Begleitungsbriefe drückte Hetzer seine herzliche Freude darüber aus, daß ich seiner mich noch erinnere, und erlaubte mir, im Falle ich nach meiner Aeußerung Mittheilungen aus Rosa's Memoiren schreiben sollte, von seiner Denkschrift nach Belieben Gebrauch zu machen.

Damals war Hetzer einer der ausgezeichnetsten Assistenten an dem allgemeinen Krankenhause der Hauptstadt, konnte jedoch durchaus nicht zum praktischen Arzte vorrücken, weil er sich durch offene Wahrheitsliebe in seinem literarischen Wirken, durch schneidende Rügen bestehender Mißbräuche, als Korrespondent der besten Zeitschriften des In- und Auslandes, mächtige Feinde zugezogen hatte.

Hetzer besaß noch einiges Privatvermögen, den Rest dessen, was er aus dem Studienleben gerettet hatte, und beschloß, damit eine Reise über Wien nach Italien, zur ferneren Ausbildung, zu machen. Er führte diesen Entschluß aus, als eben die öffentlichen Zeitungen den nachher[77] so berühmten Kongreß von Verona besprachen, und kam in der Nähe dieser Stadt an, als gerade die Landstraßen durch das Herbeiströmen von Neugierigen eine seltene Lebhaftigkeit gewannen.

Eines Mittags saß er eben bei einem frugalen Mahle in einer einsamen Bergschenke, einige Meilen von Verona, als ein prächtiger Reisewagen vor der Thüre hielt, aus welchem zwei Bediente eine ältliche, aber noch hübsche Dame hoben, und in die Schenke trugen. Weinend folgten zwei Kammerfrauen. Die Dame war erkrankt, und unfähig, weiter gebracht zu werden.

Mit den im Wagen vorräthigen, mit Eiderdunen gefüllten Kissen, wurde sogleich ein bequemes Lager für die Dame in der Schlafkammer der Wirthin bereitet; doch nun fehlte die Hauptsache: ärztliche Hülfe, und daß diese dringend sey, bezeugte die schmerzerpreßte Klage der Kranken, welche, wie ihre Umgebung, französisch sprach.

Hetzer gab sich als einen deutschen Arzt zu erkennen, und bot der Dame seine Hülfe an, die auch mit dem größten Danke angenommen wurde. Während er dem Bedienten auftrug, mit einem Recepte schnell in die Stadt zu sprengen, und die Arznei in einer Apotheke zu holen, ließ er der Dame tüchtig zur Ader, indem er gleich einsah, daß eine heftige Gedärmentzündung im Anzuge sey, und bereitete ihr aus seiner kleinen Reiseapotheke ein schmerzstillendes Mittel, worauf die Dame in einen tiefen Schlaf sank, aus[78] dem sie erst in den frühesten Stunden des nächsten Morgens, im frohen Vorgefühle naher Genesung, erwachte. In fünf Tagen war sie vollkommen hergestellt, und konnte ihre Reise nach Verona fortsetzen. Diese Dame war die Gemahlin des Obersthofmeisters Seiner Majestät des Kaisers Alexander.

Sie lud den Retter ihres Lebens ein, sie in ihrem Wagen nach Verona zu begleiten, und in ihrem Pallaste zu wohnen, so lange es ihm gefällig sey.

Hetzer nahm natürlich diesen Antrag an, als eine günstige Gelegenheit, den Grund zu seinem künftigen Glücke zu legen. Ein Geschenk von hundert Dukaten lehnte er jedoch standhaft ab, indem diese Krankheit, obgleich eine der gefährlichsten, die man kenne, dennoch durch die einfacheste Behandlung im glücklichen Falle so leicht zu haben sey, daß gewiß auch jeder andere Arzt sie gerettet haben würde.

Durch diese Bescheidenheit unterschied sich Hetzer sehr zu seinen Gunsten von jenen Aerzten, die einer Dame gegenüber ohne Zweifel von den Vortheilen der Charlatanerie den bestmöglichsten Gebrauch gemacht hätten; die hochherzige Dame wußte diesen edlen Zug seines Charakters zu schätzen, und zog von ihrer eigenen Hand einen kostbaren Brillantring, welchen Hetzer als ein Andenken der Dankbarkeit annehmen mußte.

Bald darauf kam der Kaiser Alexander in Verona an, und dort stellte der Obersthofmeister den Hetzer[79] Seiner Majestät vor. Der Kaiser empfing ihn sehr huldvoll, und ernannte ihn, da er sich bereit erklärte, in seine Dienste zu treten, zum Hofarzte.

Der jüngste Brief meines Freundes Hetzer, der in diesem Augenblicke vor mir aufgeschlagen liegt, meldet mir, daß ihn der Kaiser Nikolaus bei den vorgenommenen Beförderungen nach dem Falle von Varna, zum General-Lazareth-Inspektionsrathe am Bord des Linienschiffs Paris befördert habe.

Bevor ich zur Denkschrift Hetzers übergehe, aus welcher ich nur das Interessanteste mitzutheilen gedenke, um den Gang der Geschichte nicht allzulang zu unterbrechen, muß ich noch eines geschichtlich-merkwürdigen Umstandes Erwähnung thun.

Ganz Europa staunte über den unvermuthet schnellen Tod des Kaisers Alexander zu Taganrog, einer festen Stadt der russischen Statthalterschaft Jekaterinoslawl am asow'schen Meere, und besonders über die um so mehr unglaubliche Weigerung des Kaisers, Arznei zu nehmen, wovon die Genesung abhing, als er doch das Leben so sehr liebte, und die Pflicht der Selbsterhaltung zum Besten eines gewaltigen Reiches ihm den Gebrauch der rettenden Mittel dringend gebot.

Hetzer war damals dem Leibarzte des Kaisers, Sir James Wylie, Baronet und geheimer Rath, beigegeben, sohin Augenzeuge des ganzen Krankheitsverlaufes.[80] Meine Frage hiewegen beantwortete mir Hetzer einen Monat nach Alexanders Tode aus St. Petersburg: »der Kaiser habe an einer gänzlichen Verstimmung des Nervensystems gelitten, wodurch auf dieselbe Weise der Abscheu vor jener Arznei in ihm erregt worden sey, wie bei der Wasserscheue das Entsetzen schon vor dem Anblicke des Wassers.«

Quelle:
Friedrich Wilhelm Bruckbräu: Mittheilungen aus den geheimen Memoiren einer deutschen Sängerin. Zwei Theile, Band 1, Stuttgart 1829, S. 76-81.
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