Erstes Kapitel

[204] Wie der Wind in Trauerweiden

Tönt des frommen Sängers Lied,

Wenn er auf die Lasterfreuden

In den großen Städten sieht.


Ach, die sittenlose Presse!

Tut sie nicht in früher Stund

All die sündlichen Exzesse

Schon den Bürgersleuten kund?!


Offenbach ist im Thalia,

Hier sind Bälle, da Konzerts.

Annchen, Hannchen und Maria

Hüpft vor Freuden schon das Herz.


Kaum trank man die letzte Tasse,

Putzt man schon den ird'schen Leib.

Auf dem Walle, auf der Gasse

Wimmelt man zum Zeitvertreib.


Und der Jud mit krummer Ferse,

Krummer Nas' und krummer Hos'

Schlängelt sich zur hohen Börse

Tiefverderbt und seelenlos.


Wie sie schauen, wie sie grüßen!

Hier die zierlichen Mosjös,

Dort die Damen mit den süßen

Himmlisch hohen Prachtpopös.


Schweigen will ich von Lokalen,

Wo der Böse nächtlich praßt,

Wo im Kreis der Liberalen

Man den Heil'gen Vater haßt.


Schweigen will ich von Konzerten,

Wo der Kenner hoch entzückt

Mit dem seelenvoll-verklärten

Opernglase um sich blickt;
[204]

Wo mit weichem Wogebusen

Man schön warm beisammen sitzt,

Wo der hehre Chor der Musen,

Wo Apollo selber schwitzt.


Schweigen will ich vom Theater,

Wie von da, des Abends spät,

Schöne Mutter, alter Vater

Arm in Arm nach Hause geht.


Zwar man zeuget viele Kinder,

Doch man denket nichts dabei.

Und die Kinder werden Sünder,

Wenn's den Eltern einerlei.


»Komm Helenchen!« sprach der brave

Vormund – »Komm, mein liebes Kind!

Komm aufs Land, wo sanfte Schafe

Und die frommen Lämmer sind.


Da ist Onkel, da ist Tante,

Da ist Tugend und Verstand,

Da sind deine Anverwandte!«


Erstes Kapitel

So kam Lenchen auf das Land.
[205]

Quelle:
Wilhelm Busch: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I-IV, Band 2, Hamburg 1959, S. 204-206.
Lizenz:
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Die Fromme Helene
Die fromme Helene auf Lateinisch
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Max und Moritz. Die fromme Helene. Hans Huckebein (insel taschenbuch)
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