1077. An Johanna Keßler

[74] 1077. An Johanna Keßler


Wiedensahl 30. Juli 1896.


Geliebte Tante!

Nach Ihrem letzten gar liebenswürdigen Briefe darf ich wohl annehmen, daß Sie letzther in Frankfurt geblieben, aber trotz dem englischen Besuch und den Freuden und Leiden einer silbernen Hochzeit doch viel auf der Ginheimer Höh gewesen sind, wo jetzund so viel Angenehmes und Nutzbares für die Augen und die Mäulercher heranreift.

Auch ich war immer daheim, grub, krautete, stocherte, handhabte die Gießkanne, besah alles, was wuchs, tagtäglich genau und bin daher mit jeder Rose, mit jedem Kohlkopf, mit jeder Gurke intim bekannt geworden. Eine etwas beschränkte Welt, so scheint's. Und doch, wenn man's recht erwägt, ist all das Zeugs, von dem jedes einzelne unendlich und unergründlich ist, nicht weniger bemerkenswerth, als Alpen und Meer, als Japan und China.

Vor einigen Wochen besuchte uns Neffe Hermann nebst Frau und den zwei lustigen kleinen Mädeln, wodurch Leben in die Hütte kam. Gleichzeitig kam der Neffe Otto auf ein paar Tage und ging dann nach Juist an die See. Jetzt, während der Schulferien ist Bruder Hermann hier; seine Familie erholt sich unterdeßen in Norderney. Neffe Adolf mit der Braut, die etwa 8 Tage bei uns weilten, wollen morgen nach Ostfriesland zurück.

Von Nanda erhielt ich Nachricht aus St. Moritz. Sie schrieb vergnügt, deutete aber bereits auf ihre Abreise hin, so daß ich's für gerathen hielt, ihr nicht nach dorthin zu antworten, sondern zu warten, bis ich sie wieder in Wiesenau 15 weiß.

Sie, liebe Tante, denk ich mir, reisen mit der Letty erst im Herbst mal hinaus an's große Waßer oder in's hohe Gebirge. Oder werden Sie sich auch dann auf eigenem Grund und Boden erfreun und lieber in eigenen Betten ruhn, vom selbstgezogenen Gemüse eßen und die eigenen saftigen Birnen lutschen? Na! Was es auch sei, wenn's nur dem Menschen bekömmlich ist. Jedenfalls, wenn nichts dazwischen kömmt, hoff ich und freue mich sehr darauf, Sie noch vor dem Schluße des Jahres mal wiederzusehn.

Bleiben Sie froh und gesund derweil mitsammt den Ihrigen und gedenken Sie mitunter auch ein wenig an

Ihren getreuen

Onkel Wilhelm[74]

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 74-75.
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