1190. An Grete Meyer

[127] 1190. An Grete Meyer


Wiedensahl 2. Pfingsttag 1898.


Liebe Grete!

Am vorletzten Freitag, nachdem uns unsere "Turtje" bereits acht Tage verlaßen hatte, kam Annchen Sunder zu Hülfe, worüber wir sehr froh sind. Tante wollte eigentlich nach Norden, um ihre kleine Enkelin Margret kennen zu lernen, konnte aber, da Adolfs Frau krank wurde, nicht hin. Sie wird wohl dafür demnächst nach Hattorf reisen. – Daß deine Schwester Anna sich nicht gut befindet, erfuhren wir schon, ehe Du schriebst; wir wünschen von Herzen, daß sie sich zu Haus recht bald erholen möge.

Der Frühling, wenigstens ungefähr so, wie er sein soll, ist nun doch noch gekommen. Unsere Grünlinge, die immer Zrrrrih! oder M-rrr-ih! machen, haben sich meinem Fenster gegenüber im Zwetschenbaum ein propperes Nest gebaut. Die Alte sitzt. Sie ist so hellhörig, daß sie, wenn ich nur in die Stube trete, gleich den Kopf herum dreht und mir scharf in's Auge sieht, sobald ich sie beobachte. Ihre vornehmeren und mehr musikalischen Verwandten, die Grauartschen, das Männchen mit schön rother Brust, nisten in der kleinen Hängeakazie dicht an der Südseite des Hauses. Die schlauen Thierchen bauen früh am Morgen, ehe der menschliche Faulenzer sein Lotterbett verlaßen hat. Drum hatt ich, obgleich ich viel da herum kramte, nichts gemerkt, bis ich mal arglos geräuschvoll die Schaufel abschrappte grad unterhalb der brütenden Madam. Brrr! sauste sie heraus. – Die lustigen Staare haben letzther nur wenig flöten können, sintemalen sie alle Schnäbel voll zu thun hatten für ihre Freßsäcke von Kindern, die aber zu Pfingsten endlich ausgeflogen sind und jetzt ein großes Geschrichte machen in Hecken und Bäumen.

Von den Gartenvegetabilien ist nicht viel Rühmliches zu berichten. Bei der anhaltenden Kühligkeit kam alles zu langsam. Obendrein wurden die ersten Erbsen von Ratten in die Unterwelt gezogen. Einer dieser Wühler ging in die Falle. Seitdem paßirte nichts mehr. Vielleicht war's nur ein einzelner Hagestolz, der für junges Gemüse schwärmte.

Heut regnet's treubeständig. Das wird verhängnißvoll sein für manchen reizenden Frühlingshut mit theuerem Besatz.

Sei bedankt, liebe Grete, für deinen angenehmen Brief, den ich gestern erhielt. Un denn gratulir ich auch zu den Nummern und dem balsamischen Lob, womit man dein Verdienst geziemend bedacht hat.

Leb wohl! Viele herzliche Grüße von uns Dreien allhier, nämlich von Tante, von Annchen und von deinem

alten getreuen

Onkel Wilhelm.


Du fragst, was ich lese. Auf französisch z.B. las ich Paris v. Zola. Nicht Wohltätigkeit sondern Gerechtigkeit, lautet die Parole. Ja, wenn's man ginge.[127]

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 127-128.
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