1259. An Grete Meyer

[159] 1259. An Grete Meyer


Mechtshausen 21. Febr. 1900.


Liebe Grete!

Dein Brief hat mich gefreut. Es ist allerlei "Sichtbares" drin. Auch gehts dir gut im Reich der Töne.

Über die Anfangsgründe der Mythologie müßen, scheints, doch noch ein paar anregende Worte gesagt werden.

Bis heut nimmt man in manchen Gegenden vor Sonne und Mond, wenn sie aufgehn, den Hut ab. Überall duckt man sich ehrerbietig bei Sturm und Gewitter. Ähnlich unbestimmt ist wohl die früheste Andacht gewesen.

Wie aber entstanden die ersten mythologischen Persönlichkeiten? Während der Mensch träumt, geht sein inneres Ich aus ihm heraus und treibt sich selbständig herum. Er hat einen Geist, eine Seele. Bei Andern, dachte er, wird das ebenso sein. Ein aparter Traum kehrt häufig wieder. Er träumt genau sein Bett, seine Kammer. Ein Ding, ein Thier, ein Menschenbild tritt ein und drückt ihn, daß er nicht schnaufen kann. Der Verdacht lag nahe, daß es fremde Seelen sind, die ihm nicht wohl wollen, denn da er fortwährend Mitgeschöpfe beschädigen muß, um selber zu leben, so ist er mißtrauisch und zwar mit Recht. Diese quälenden Besucher hat er Alp, Mahr, Druckerle u.s.w. genannt. Außerdem paßirte etwas Sonderbares: Die Leute starben. Wo blieben die Seelen? Die Phantasie wußte Bescheid. Einige blieben natürlich gern in der Nähe der altgewohnten Behausung, unter der Schwelle, in der Butze, im Fliederbusch, als Hausgeister, in Gestalt von Schlangen, Kröten und sonstigen Spukedingern, z.B. als Fylgjen (Folgerinnen), die, weiste wol, auf dunklen Korridoren immer dicht hinter der Tante sind. Andre, mehr wild und flüchtig, ziehen mit dem letzten Hauch in Luft und Wald und Berg hinaus, wo sie als Elfen und ähnliches Gelichter ihr neckisches Wesen treiben.

So ungefähr pflegt der neuere Mytholog sein Sach zu beginnen. – Ob aber die guten und bösen Träume aus gutem und bösem Magen kommen, das kümmert ihn nicht, das zu untersuchen, überläßt er den Physiologen. –

Was dir über Hekuba, die alte Frau Priamus, vorschwebt, findest du im Hamlet, in und nach der Schauspielerscene. –

Unser Besuch neulich in Verden ging vergnüglich von statten. Bis Hildesheim tüchtiges Schneegestöber. Weiter unten im Land lag gar kein Schnee. Die Verdener wohnen etwas klein, aber durchaus gemüthlich; am südlichen Rande der Stadt, in der Nähe der Schule, des Doms und der Promenade. Mit dem älteren Fräulein oben im Haus wird nett verkehrt. Gretel hat sich merklich heraus gemacht. Meta, das neue Dienstmädchen, findet noch mehr Beifall, als Rieka, das alte. Kurzum, nach all den anfänglichen Verdrüßen herrscht jetzt völliges Wohlgefallen. – Von Seesen kehrten wir per Schlitten heim. Leider fanden wir die Kinder recht krank. Nun sind sie wieder lustig, wie zuvor.

Unsere Welt im Schnee machte sich gut. Von der Stube aus sah ich gern in die Gegend. Abends, querdurch der schwarze Heber. Drüber der Abendstern. Unten das weiße Schäferfeld. Näher im Garten der alte Birnbaum. Und ganz nahe, hinter der Fensterscheibe, ein glühender Punkt, das Spiegelbild meiner brennenden Zigarette.

Jetzt haben wir Thauwind. Otto sein großer Schneemann, vor der Scheune, ist in sich zusammengesackt. Mutter Erde hat ihren Hermelinpelz abgelegt. Allerlei, was sich drunter gewärmt, wird sichtbar; Krokus, Schneeglöckchen. Die Spatzen schilken, die Spräen quinqueliren. Die Hühner wagen sich, wenn auch schüchtern, heraus. Otto sitzt sägend in den Bäumen. Im Hof wird fleißig Holz gespalten – von Einem, der halb lahm, und Einem, der halb blind ist. Der sehende Lahme baut natürlich die Dieme. Alles geht fix.

Leb wohl, liebe Grete! Tausend Grüße von uns Allen.

Stets dein getr. Onkel

Wilhelm.


Er hofft, daß es in Münster hübsch lustig war.[159]

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 159-160.
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