1325. An Johanna Keßler

[183] 1325. An Johanna Keßler


Mechtshausen 23. Dec. 1901.


Liebste Tante!

Ich danke Ihnen für Ihren freundlichen Brief.

Hoffentlich erhalten Sie über Berty bald günstige Nachrichten. Seit man das Nervenfieber beßer zu behandeln versteht, ist es ja lange nicht mehr so gefährlich, wie in früheren Zeiten.

Der Christbaum, denk ich, wird nach altem Brauch bei Ihnen im Hause brennen, und Nelly, das nette Mädel, ist auch aus der Fremde herbei geeilt, um an der Festlichkeit theil zu nehmen.

Bei unsern Kindern hier herrscht schon seit Wochen eine erwartungsvolle Erregung. Martin und Ruth haben grad das richtige Alter dafür, während[183] Anneliese, die eben ein Jahr alt geworden ist, noch nicht phantasievoll in die Zukunft schweift, sondern sich mit den alltäglichen Genüßen des Augenblicks vollständig begnügt.

Wir haben jetzt ein für Weihnachten sehr paßendes Wetter; eine leichte Schneedecke breitet sich über Garten und Feld; der Nordwind hat sich gelegt; die Kälte ist mäßig; mitunter blickt gar die Sonne durch.

Den Fenstern gegenüber, an den Bäumen, sind Futternäpfchen angebracht, nämlich Blumenuntersätze, gefüllt mit einem delikaten Guß von Talg und Sämereien. Drei Mal des Tags, zu ihrer gewohnten Eßenszeit, kommen die flinken Meisen und picken daran.

Leben Sie wohl, liebste Tante! Mit den herzlichsten Grüßen an Sie und die Ihrigen wünscht Ihnen allen recht fröhliche Feiertage und viel Gutes im kommenden Jahr

Ihr alter getreuer

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 183-184.
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