207. An Johanna Keßler

[114] 207. An Johanna Keßler


Wiedensahl d. 9. Nov. 1873.


Liebe Tante!

Eine lange schweigende Zeit! – Es war gut von Ihnen, mich durch ein paar freundliche Worte daran zu erinnern, daß Photographien keine Phantasiegebilde, daß Wer dazu geseßen mit Fleisch und Blut und manchmal Wer mit hübschen blauen Augen und lockiger Stirn und wie die schönen Sachen sonst noch heißen. – Ob ich gekommen wäre, wenn? – Der Dämon weiß es!

Ich habe seither viel Merkwürdiges gesehen. Ich war mit Hermann in Holland; durch unendliche Haiden und Weiden fuhren wir nach Amsterdam. Eine wundersame Stadt. Lauter und lauter Kanäle mit Brücken darüber und Schiffen darin, worauf gekocht, gewaschen und getrocknet wird, daß die bunten Jacken nur so im Winde flattern. Daneben dicht entlang und Schulter an Schulter die schmalen, hohen, dunkelfarbigen Häuser mit Treppen und Steinplatten davor, die ewig gescheuert und gespült werden von gesunden, garstigen, Ernestine-artigen Mägden in weißen Hauben, geblümten Nachtjacken, spitzenbesetzten Unterröcken und dito Hemden, so daß sie, selbst gebückt, den Blick des spähenden Wandrers nicht zu fürchten brauchen. – Gleich den ersten Abend gingen wir in die Kalverstraat. – Alles von Asphalt mit weißem Sand bestreut; kein Wagengeraßel und Pferdegetrappel; aus den Läden der fast durchsichtigen Häuser eine Fülle von Licht; viele Menschen stumm und feierlich durch einander wallend, als wäre soeben der Christbaum angezündet – es schien uns fremd und schön.

Die Bildersammlungen sind einseitig, aber merkwürdig. Da hängt die berühmte Ronde de nuit von Rembrandt; gegenüber das unglaublich feine, lebenfrische, große Portraitstück von van d. Helst, vorstellend die westphälische Friedensfeier der Bürgerwehr von Amsterdam mit etwa 2 5 lebensgroßen Figuren; dann die lustigen Jan Steen's; die Frans Hals; die kleinen merkwürdigen Adriaan Brouwer's – was kann ich sie alle nennen?!

Die Privatsammlung des Sixt van Hilligem giebt viel zu denken; die Zimmer sind klein aber wöhnlich, alle voll der schönsten Bilder, und das ist das Eigne, daß man weiß, die Bilder hängen da durch Generationen hindurch in derselben Familie von den Vorfahren her, welche dereinst Zeitgenoßen und Freunde der Maler waren.[114]

Von Amsterdam ging's nach Haarlem. Das ist die Stadt des Frans Hals. Im Stadthause eine Maße Portraits von ihm; große Stücke mit 30-40 Figuren in Lebensgröße; kräftig, ungeniert und wahr. Das Herz steht Einem fast still, wenn man das Alles so ansieht. – Die Stadt ist klein und unglaublich sauber. Kaum hebt einmal ein Pferd den Schwanz ein bißel auf, so steht schon Einer da und hält die Schaufel unter.

Der Hag kam uns als Stadt gewöhnlich vor; aber im Museum hängen allein von Jan Steen sechs ausdrucksvolle Bilder.

In Scheveningen ließen wir uns das Meer entgegenbrausen. – Dann blieben wir noch einen Tag in Cöln und fuhren so zurück.

Nun frage ich: Wann werde ich denn wieder bei meiner lieben, guten Tante sein? – und da heißt es denn: Ja, lieber Alter, vor Weihnachten ist's Nichts damit. Aber dann!


Sonst aber bleibts dabei:

Die Eine und die Zwei,

Die will ich nie vergeßen,

Und laße sie indeßen

Viel tausend Male grüßen.


W.B.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 114-115.
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