332. An Johanna Keßler

[161] 332. An Johanna Keßler


Wiedensahl 15. Jan. 76.


Liebe Tante!

Ihr guter Brief hat vierzehn Tage auf meinem Tisch gelegen und mich erwartet. – Die Sylvesterbowle trank ich bei Bruder Gustav in Wolfenbüttel; dann fuhr ich bei dem schönsten, sonnigsten Winterwetter nach Ebergötzen zu Freund Erich. Die alte wacklichte Mühle steckte ganz voll junger Mädchen, die mich natürlich nicht tiefer intereßiren konnten; da ich aber in ähnlichen Verhältnißen meine Jugend verlebt, so war mir alles, was paßirte, so klar und verständlich, daß ich in den kleinen, niedrigen Puppenstuben wirklich recht lustige Tage verlebte. Es kommt mir vor, als hätte ich mal wieder an den offenherzigen Quellen des Lebens geseßen, die sich ja sonst unter der Dreßur verstecken. – In der Dämmerung wandelten die beiden Freunde regelmäßig auf eine Stunde in's Wirthshaus. – Da saß vorigen Dienstag ein junges hübsches Frauenzimmer beim Ofen und hatte ein drei Monate altes Kindchen auf dem Schoß. Der rothe wollene Rock mit gestickter Kante, das dunkle Mieder, das umgeschlungene Kopftuch, der zurück geschlagene blumige Mantel standen ihr wirklich nett in dem Dampf und Lampenlicht. Ein dickes carrirtes Bündel lag neben ihr. Sie entblößte eine frische, stramme Brust, und das Wurm drückte ganz stillvergnügt[161] seine Stumpfnase hinein. Das Mädchen war nach Hannover gewesen, um dem dorthin in Arbeit gegangenen Geliebten mal die Reifen etwas anzutreiben. Er hatte denn auch versprochen, in 14 Tagen solle Hochzeit sein. Sie war zurück von Hannover bis Göttingen stehend vierter Klaße gefahren und nun über die beschneiten Berge her drei Stunden mit Kind und Bündel zu Fuß gegangen. Wie sie aufstand, das Kind in den Mantel hüllte und in Schlaf schaukelte, bemerkte ich zwei kleine gut gebaute Füße. Dann ging's wohlgemuth wieder hinaus in die bitterkalte Winternacht, noch anderthalb Stunden weit zum Heimathdorf. – Herr meines Lebens! An der Welt sitzt noch lange kein Ende!

Auch ich habe das vergangene Jahr befriedigt abgeschloßen. Die »Abenteuer eines Junggesellen« gehen noch beßer als die »Helene«. In diesen Tagen kommt bereits die vierte Auflage.

Vorgestern Abend bin ich hierher zurückgekehrt. Ihr Brief hat mich gar angenehm bewillkommt. – Ja, so sei und bleib es, liebste Tante!

Ihr W. Busch.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 161-162.
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