853. An Johanna Keßler

[345] 853. An Johanna Keßler


Wiedensahl 12. Jan. 92.


Ihre vierversige Karte, liebe Tante, hat mich freundlichst erwischt.

Was? Verse? – Vers', dacht ich, kräg mer nicht von dort. Der Onkel Harry und der Onkel Wilhelm (falls dieser grad da) dacht ich, wären die alleinigen Repräsentanten des Idealismus. Es kam annersch!


Dunnerschlag! Es giebt seit Göthen

Doch in Frankfort noch Poeten!


Und sofort hätt ich's erwidert, wär ich nicht grad im Herzogthum Braunschweig gewesen, wo ein realistischer Wind weht, der Einem immer die Finger erkältet, womit man die Feder hält. Sonst ging Alles gut daselbst. Man ließ mich weiter leben und hatte in folgedeßen einen recht friedlichen Logirbesuch. Um's Haus herum tobte beständiger Sturm, bald mit Regen, bald mit Schneegestöber und Blitz und Krach.[345]

Donnerstag sah mich die Heimath wieder. –

Aber wie geht's den[n] Ihnen beim prächtig-gemüthlichen Kachelofen, beim Schimmer der Lampe?

»Let-ty?! Hast Nichts zu thun?« so läßt sich die wohltönende Stimme der Mutter vernehmen. – Aha! Ein zu deckendes Defizit der Strümpfe von 91.

Oft, per Phantasie, komm ich geflogen und flack mich in Seßel und schau fein zu;


Ein Schlot, der ewig zieht und raucht

Und meterweis' schwedisches Holz verbraucht.


Sie lächeln dazu, verschmitzt und sicher, denn Tändstickers in Gedanken sind kostenfrei. Aber wenn's wirklich wird, das ist peinlich, das giebt so recht einen Stich in die sparsame Seele.

Adieu! liebe Tante! Und vergeßen 'S nit

Ihren guten Onkel

Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 345-346.
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