Unbeliebtes Wunder

[353] In Tours, zu Bischof Martins Zeit,

Gab's Krüppel viel und Bettelleut.

Darunter auch ein Ehepaar,

Was glücklich und zufrieden war.

Er, sonst gesund, war blind und stumm;

Sie sehend, aber lahm und krumm

An jedem Glied, bis auf die Zunge

Und eine unverletzte Lunge.


Das paßte schön. Sie reitet ihn

Und, selbstverständlich, leitet ihn

Als ein geduldig Satteltier,

Sie obenauf, er unter ihr,

Ganz einfach mit geringer Müh,

Bloß durch die Worte Hott und Hüh,

Bald so, bald so, vor allen Dingen

Dahin, wo grad die Leute gingen.


Fast jeder, der's noch nicht gesehn,

Bleibt unwillkürlich stille stehn,

Ruft: »Lieber Gott, was ist denn das?«

Greift in den Sack, gibt ihnen was

Und denkt noch lange gern und heiter

An dieses Roß und diesen Reiter.


So hätten denn gewiß die zwei

Durch fortgesetzte Bettelei,

Vereint in solcherlei Gestalt,

Auch ferner ihren Unterhalt,

Ja, ein Vermögen, sich erworben,

Wär' Bischof Martin nicht gestorben.


Als dieser nun gestorben war,

Legt man ihn auf die Totenbahr

Und tät' ihn unter Weheklagen

Fein langsam nach dem Dome tragen

Zu seiner wohlverdienten Ruh.

Und sieh, ein Wunder trug sich zu.[354]

Da, wo der Zug vorüber kam,

Wer irgend blind, wer irgend lahm,

Der fühlte sich sogleich genesen,

Als ob er niemals krank gewesen.


Oh, wie erschrak die lahme Frau!

Von weitem schon sah sie's genau,

Weil sie hoch oben, wie gewohnt,

Auf des Gemahles Rücken thront.

»Lauf«, rief sie, »laufe schnell von hinnen,

Damit wir noch beizeit entrinnen.«

Er läuft, er stößt an einen Stein,

Er fällt und bricht beinah ein Bein.


Die Prozession ist auch schon da.

Sie zieht vorbei. Der Blinde sah,

Die Lahme, ebenfalls kuriert,

Kann gehn, als wie mit Öl geschmiert,

Und beide sind wie neu geboren

Und kratzen sich verdutzt die Ohren.


Jetzt fragt es sich: Was aber nun?

Wer leben will, der muß was tun.

Denn wer kein Geld sein eigen nennt

Und hat zum Betteln kein Talent

Und hält zum Stehlen sich zu fein

Und mag auch nicht im Kloster sein,

Der ist fürwahr nicht zu beneiden.

Das überlegten sich die beiden.


Sie, sehr begabt, wird eine fesche,

Gesuchte Plätterin der Wäsche.

Er, mehr beschränkt, nahm eine Axt

Und spaltet Klötze, daß es knackst,

Von morgens früh bis in die Nacht.

Das hat Sankt Martin gut gemacht.

Quelle:
Wilhelm Busch: Sämtliche Werke, Herausgegeben v. Otto Nöldeke, Band 6, München 1943, S. 353-355.
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