X. Die Lesekabinette

[47] Im Jahre 1789 hatte Paris nur ein einziges Lesekabinett; jetzt gibt es kaum eine Straße von Bedeutung, in der man nicht wenigstens eines fände. Gut, daß sie in den freien Tagen dafür gesorgt, der Volksbildung Brunnen genug zu graben; denn bei dem Belagerungszustande, worin sich diese jetzt befindet, wäre sie verloren, wenn es nur eine Quelle abzuleiten gäbe. Das Lesen überhaupt, besonders das Lesen der politischen Zeitungen, hat in der Volkssitte tiefe Wurzeln geschlagen und man müßte den französischen Boden vom Grunde aufwühlen, wollte man die allgemeine Teilnahme an bürgerlichen Angelegenheiten wieder ausrotten. Man maß es ihnen zum[47] Ruhme nachsagen, daß es nicht bloß eitle Neugierde ist, die sie zu den Zeitungen lockt; denn wenn es dieses wäre, könnten ihnen die Blätter, die öfterer Betrachtungen als Geschichten enthalten, wenig Befriedigung geben. Alles liest, jeder liest. Der Mietkutscher auf seinem Bocke zieht ein Buch aus der Tasche, sobald sein Herr ausgestiegen ist; die Obsthökerin läßt sich von ihrer Nachbarin den Constitutionnel vorlesen, und der Portier liest alle Blätter, die im Hotel für die Fremden abgegeben werden. Der Abonnent mag sich jeden Morgen die Arme müde klingeln, der Portier bringt ihm nicht eher sein Blatt, als bis er es selbst gelesen. Für einen Sittenmaler gibt es keinen reichern Anblick als der Garten des Palais Royal in den Vormittagstunden. Tausend Menschen halten Zeitungen in der Hand und zeigen sich in den mannigfaltigsten Stellungen und Bewegungen. Der eine sitzt, der andere steht, der dritte geht, bald langsamern, bald schnellern Schrittes. Jetzt zieht eine Nachricht seine Aufmerksamkeit stärker an, er vergißt den zweiten Fuß hinzustellen, und steht einige Sekunden lang wie ein Säulenheiliger auf einem Beine. Andere stehen an Bäume gelehnt, andere an den Geländern, welche die Blumenbeete einschließen, andere an den Pfeilern der Arkaden. Der Metzgerknecht wischt sich die blutigen Hände ab, die Zeitung nicht zu röten, und der ambulierende Pastetenbäcker läßt seine Kuchen kalt werden über dem Lesen. Wenn einst Paris auf gleiche Weise unterginge, wie Herkulanum und Pompeji untergegangen, und man deckte den Palais Royal und die Menschen darin auf, und fände sie in derselben Stellung, worin sie der Tod überrascht – die Papierblätter in den Händen wären zerstäubt – würden die Altertumsforscher sich die Köpfe zerbrechen, was alle diese Menschen eigentlich gemacht hatten, als die Lava über sie kam. Kein Markt, kein Theater war da, das zeigt die Örtlichkeit. Kein sonstiges[48] Schauspiel hatte die Aufmerksamkeit angezogen, denn die Köpfe sind nach verschiedenen Seiten gerichtet, und der Blick war zur Erde gesenkt. Was haben sie denn getan? wird man fragen, und keiner wird darauf antworten: sie haben Zeitungen gelesen.

In den Lesekabinetten abonniert man sich monatlich, oder man bezahlt für jeden Besuch oder auch für jede einzelne Zeitung. Man findet dort alle Pariser, und in den bessern auch alle ausländischen Blätter. In dem Kabinette, welches der Buchhändler Gagliani hält, das meistens von Engländern besucht wird, finden sich nicht bloß alle englischen, schottischen und irländischen Zeitungen, sondern auch die aus den ost- und westindischen Kolonien. Der lange Tisch, worauf die englischen Zeitungen liegen, gleicht mit seinen Riesenblättern einer aufgehobenen Speisetafel, die mit hingeworfenen Servietten in Unordnung bedeckt ist. An Größe übertreffen die englischen Zeitungen alle übrigen europäischen; nach ihnen kommen die spanischen, dann die französischen, auf diese folgen die deutschen, und die italienischen kommen zuletzt. Ich wollte schon den Satz aufstellen, daß man an dem Format der politischen Blätter den Umfang der bürgerlichen Freiheit jedes Landes abmessen könne, als mich die Frankfurter Oberpostamtszeitung, die in Folio erscheint, von dieser falschen Theorie noch zeitig abhielt. In mehrern Lesekabinetten fehlt es auch nicht an deutschen Blättern: man nimmt aber einiges daran wahr, was einen Deutschen nicht wenig schmerzt. Die Allgemeine Zeitung etwa ausgenommen, werden keine deutschen Blätter in den Lesekabinetten eigens gehalten, sondern sie werden von den Pariser Zeitungsredaktoren, nachdem sie ihren Gebrauch davon gemacht, den folgenden Tag dahin abgegeben. Alle andern ausländischen Zeitungen werden den französischen gleich geachtet, jeden Morgen gefalzt, angenäht und gehörig[49] aufgelegt. Die deutschen aber werden als verschmähte Aschenbrödels behandelt und in einen dunkeln Winkel oder packweise in eine Mappe gesteckt. Diese so gutmütigen, stillen und bescheidenen Zeitungen, die ihr letztes Stückchen Brot jedem hingeben, der es fordert und lieber verhungern, als versagen – wird der Himmel gewiß noch einst für ihre Demut belohnen! Zieht man nun das deutsche Zeitungspack aus der Mappe hervor, so finden sich die Blätter zerrissen, zerknittert, die Nummern liegen nicht in Ordnung, viele fehlen, und die Zeitungen der verschiedenen Staaten und Städte sind neben- und ineinander in der größten Verwirrung gelegt. In der Preußischen Staatszeitung findet man überrascht eine Beilage der Wiener Hofzeitung, in der Allgemeinen Zeitung steckt ein Kunstblatt, der Nürnberger Korrespondent schließt eine Bauernzeitung ein, der Österreichische Beobachter hält die Neckarzeitung liebend umschlungen, und will man ein verlornes Stück des Literarischen Wochenblattes lesen, muß man ein Morgenblatt herumdrehen, worin jenes, Kopf unten, steckt. Das Journal de Francfort ist in seiner wahren und natürlichen Gestalt selten zu sehen. Es ist gewöhnlich ausgezackt wie ein Frisierkamm, weil die Pariser Zeitungsredaktoren, aus deren Bureaus es kommt, die deutschen Nachrichten abgeschnitten in die Druckerei schicken und sich dadurch die Mühe des Übersetzens ersparen.

Es herrscht in diesen Lesekabinetten die feierlichste Stille. Nicht das leiseste Wörtchen vernimmt man, obzwar dort nicht, wie in musterhaften deutschen Lesegesellschaften, der Paragraph der Statuten, der das Sprechen verbietet, an die Wand genagelt ist, noch eine Schelle auf dem Tische steht, die Störenden zu mahnen. Wenn Franzosen schweigen, so ist dieses ein unwiderleglicher Beweis, daß ihre Aufmerksamkeit eifrig und ernst beschäftigt ist; denn bei den anderen Gelegenheiten, wie an Speisetischen,[50] machen vier Franzosen einen größern Lärm, als der ganze weiße Schwan in Frankfurt am Main während der zweiten Meßwoche mit allen seinen Gästen. Die Zeitungskabinette sind gewöhnlich mit Bibliotheken verbunden, die von den Besuchenden mit wahrhaft jugendlichem Schulfleiße benutzt werden. Es ist dieses für unbemittelte Studierende und Literaturfreunde oder für solche, denen es an Bequemlichkeit häuslicher Einrichtung fehlt, eine sehr wohltätige Anstalt. Man bezahlt monatlich sechs Franken, und für diese geringe Summe kann man den ganzen Tag in einem solchen Kabinett arbeiten, hat im Winter Feuerung und Licht unentgeltlich und alle nötigen Bücher bei der Hand. Viele sind dort einheimisch und verlassen das Kabinett bloß, wenn sie zu Bette gehen. Auch sieht man da manche ehrwürdige, narbenvolle Veteranen, die ernst, stolz und wehmütig auf die Erbärmlichkeit der Zeit herabsehen und, weil ihr Mund zu schmeicheln und ihr Arm zu drohen verschmäht, die Waffen mit den Wissenschaften vertauschen und, sei es um Brot oder um Beschäftigung zu finden, den ganzen Tag emsig lesen, Auszüge machen und schreiben.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 47-51.
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