Der drey und siebenzigste Psalm

[208] Gott wird Israel erfreuen,

Wenn es Ihn von Hertzen meint;

Und sein Volck noch benedeyen,

Ob es gleich in Aengsten weint.

Das ist sicher; Unterdessen

Hätt' ich es bey nah vergessen,

Und gezweiffelt: Ob Er sieht,

Was auf dieser Welt geschieht.


Denn ich konnt es nicht ergründen,

Daß wer dich, O Schöpffer, höhnt,

In dem höchsten Grad der Sünden

Wird mit lauter Glück bekrönt.

Daß er, wenn er mit Vergnügen

Seiner Jahre Zahl erstiegen,

Endlich bläset ohne Grauß

Den verfluchten Athem aus.


Er erhebt sich, gleich den Zinnen,

Die von Marmor aufgethürmt;

Und verzärtelt seine Sinnen,

Wenn sonst eitel Unglück stürmt.

Wenn sein Wanst von Hoffart schwillet;

Wird sein Wünschen gleich erfüllet;

Ja was er zuweilen träumt,

Wird ihm alles eingeräumt.


Er verlästert alle Sachen

Die nicht sein Gehirn gebiert,

Und darff selbst darüber lachen,

Wie dein Arm den Scepter führt.

Wer mag seine Thorheit schelten?

Was er schaffet, das muß gelten;

Und soll, bildt er sichs nur ein,

Uns gleich ein Orakel seyn.
[209]

Weil ihn nun kein Ziel beschrencket,

Wird der Pöbel irr gemacht,

Daß er bey sich selber dencket:

Gott giebt nicht auf Menschen acht,

Er schläfft in dem Himmel oben,

Und läßt den Tyrannen toben.

Was hilfft uns die Frömmigkeit?

Wir sind arm, und er gedeiht.


Herr, ich muß die Wahrheit sagen;

Mich verdroß der Lauff der Welt;

Darum hätt' ich diesen Klagen

Bald mein Ja-Wort zugesellt

Und geglaubt, daß, die dich preisen,

Sich mit leerer Hoffnung speisen.

Zwar, ich dachte fleißig nach,

Doch war die Vernunfft zu schwach.


Endlich ward in deinem Tempel

Mir eröffnet dieser Schluß:

Daß der Bösen ihr Exempel

Nicht zur Folge dienen muß.

Denn, o Gott! du läßst sie wallen,

Daß sie desto härter fallen;

Es ist eine Zeit bestimmt,

Da ihr Stoltz ein Ende nimmt.


Schrecklich werden sie verstieben,

Leichter, als ein Traum vergehn,

Und was etwan übrig blieben,

Wird in keinem Seegen stehn.

Du vertilgest ihren Saamen,

Und es wird auf ihren Namen,

Den man erst so hoch geschätzt,

Nun ein steter Fluch gesetzt.
[210]

War es möglich? kont' ich wancken?

War ich schlaffend oder blind?

Durch was thörichte Gedancken

War ich dümmer als ein Rind?

Daß ich, was du gut gefunden,

Zu beklügeln mich erwunden.

Dieses, was ich ausgeübt,

Macht mich schamroht und betrübt.


Künfftig werd ich nicht mehr gleiten,

Weil ich dich zur Seiten hab;

Herr, du selber wirst mich leiten,

Dein Raht ist mein Wander-Stab.

Endlich, nach viel Dornen-Hecken,

Wirst du mir den Ort entdecken,

Da ich, aller Ehren voll,

Deine Wolthat rühmen soll.


Könte dieses Rund der Erden,

Und sein helles Sternen-Dach,

Meinem Willen dienstbar werden,

Fragt ich warlich nichts darnach.

Mag mir doch der Cörper schwinden,

Und die Seele Schmertz empfinden;

Du bleibst doch, O Gott, mein Heil,

Meines Hertzens bester Theil.


Ich will mit der Bösen Hauffen

Nicht auf einen fremden Pfad,

Noch dem Fall entgegen lauffen,

Den ihr Thun verdienet hat.

Nur an dich will ich mich halten,

Dich laß ich in allem walten,

Und, so lang ich sprechen kan,

Zeig' ich deine Wunder an.


Quelle:
Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz, Kritische Ausgabe: Gedichte, Tübingen 1982, S. 208-211.
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