Das Gebet der Witwe

[212] Nach Martin Luther


Die Alte wacht und betet allein

In später Nacht bei der Lampe Schein:

»Laß unsern gnädigen Herrn, o Herr!

Recht lange leben, ich bitte dich sehr.

Die Not lehrt beten.«


Der gnädige Herr, der sie belauscht,

Vermeint nicht anders, sie sei berauscht;

Er tritt höchst selbst in das ärmliche Haus,

Und fragt gemütlich das Mütterchen aus:

»Wie lehrt Not beten?«


»Acht Kühe, Herr, die waren mein Gut,

Ihr Herr Großvater sog unser Blut,[212]

Der nahm die beste der Kühe für sich

Und kümmerte sich nicht weiter um mich.

Die Not lehrt beten.


Ich flucht ihm, Herr, so war ich betört,

Bis Gott, mich zu strafen, mich doch erhört,

Er starb, zum Regimente kam

Ihr Vater, der zwei der Kühe mir nahm.

Die Not lehrt beten.


Dem flucht ich arg auch ebenfalls,

Und wie mein Fluch war, brach er den Hals;

Da kamen höchst Sie selbst an das Reich

Und nahmen vier der Kühe mir gleich.

Die Not lehrt beten.


Kommt Dero Sohn noch erst dazu,

Nimmt der gewiß mir die letzte Kuh –

Laß unsern gnädigen Herrn, o Herr!

Recht lange leben, ich bitte dich sehr.

Die Not lehrt beten.«


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 212-213.
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