Der neue Diogenes

[356] Was pressen sich die dichten Massen

Des Volkes in den engen Raum?

Es fassen, Amiens, deine Straßen

Das wogende Gedränge kaum. –

Der Kaiser naht, der Herr der Welt;

Hebt Siegeslieder an zu singen!

Er hat der Feinde Macht zerschellt,

Er naht, den Seinen Heil zu bringen! –


Der Freudenrausch, der sich ergossen,

Er läßt den Einen unberührt:

Ein Steinmetz ist's, der unverdrossen

Den Meißel und den Hammer führt;

Der läßt den Zug vorübergehn

Und nicht im Tagewerk sich stören,[356]

Als hab er Augen nicht, zu sehn,

Als hab er Ohren nicht, zu hören.


Vom Roß herab bemerkt von ferne

Der Kaiser dort den rüst'gen Mann;

Es reizt ihn, daß er kennen lerne,

Wer so von ihm sich sondern kann.

Er hat sich ihm genaht, er fragt:

»Was schaffst du da?« – »Den Stein behauen!«

Entgegnet der, und wie er's sagt,

Er kann ihm scharf ins Antlitz schauen.


»Ich sah dich bei den Pyramiden,

Du schlugst dich gut, du warst Sergeant;

Wie kam's, daß du den Dienst gemieden,

Vergessen hier und unbekannt?«

»Ich habe meine Schuldigkeit

Getan, o Herr, zu allen Stunden,

Und ward nach ausgedienter Zeit

Von Eid und Kriegespflicht entbunden!« –


»Es tut mir leid, im Heer zu missen,

Wer brav sich hielt im Kriegeslauf;

Laß deinen kühnsten Wunsch mich wissen,

Des Kaisers Gnade sucht dich auf!« –

»Ich brauche nichts, die Hände mein

Genügen noch, mich zu ernähren;

Laß mich behauen meinen Stein,

Und deiner Gnade nicht begehren.«


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 356-357.
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