Die Sterbende

[317] Geläute schallt vom Turm herab,

Es ruft der Tod, es gähnt ein Grab.

Ihr sünd'gen Menschen, zum Gebet!

Ein gleiches Los bevor euch steht.


Im Sterben liegt ein schönes Weib,

Sie weint um ihren jungen Leib,

Sie weint um ihre sünd'ge Lust,

Sie ringt die Hände, sie schlägt ihre Brust.


Es harrt des Ausgangs ihr Gemahl,

Blickt starr und kalt auf ihre Qual;

Sie windet sich in dieser Stund

Zu seinen Füßen, sie öffnet den Mund:


»Vergib mir, Gott, in deiner Huld,

Vergib, Gemahl, mir meine Schuld;

Ich klag es an in bittrer Reu,

Weh mir! ich brach geschworne Treu.« –


»Vertrauen ist Vertrauen wert,

Und machst du mir kund, wie du mich entehrt,

So mach ich dir kund in deiner Not,

Du stirbst am Gift, das ich dir bot.«[317]

Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 317-318.
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