Der Prolog des Gechtsgelehrten.

[153] Vers 4421–4518.


Der Wirth ersah, daß ihren Tagesbogen

Die Sonne schon zum vierten Theil durchzogen,

Seit etwas mehr, als einer halben Stunde.

Nicht hochgelehrt, besaß er dennoch Kunde,

Daß es der achtundzwanzigste heut' sei,

Vom Mond April, dem Herolde vom Mai;

Und da er sah, daß aller Bäume Schatten

Dasselbe Maß in ihrer Länge hatten

Wie ihre Körper, die der Schatten Grund,

So ward durch diesen Umstand es ihm kund,

Daß Phöbus, leuchtend an dem Himmelspfade,

Erklommen hatte fünfundvierzig Grade;

Und daher, in Betracht von Zeit und Ort,

Sei es zehn Uhr, so schloß er weiter fort.


Den Gaul umwendend, hielt er plötzlich an

Und sprach: »Ihr Herr'n, ich warn' Euch, Mann für Mann,

Vergangen ist des Tages vierter Theil!

Bei Sanct Johann und Gottes Gnadenheil,

So viel Ihr könnt, nehmt wohl der Zeit in acht!

Sie wird, Ihr Herr'n, verschwendet Tag und Nacht;[154]

Wir lassen sie, ob wir im Schlafe liegen,

Ob sorglos wachen, ungenützt verfliegen,

Und, wie der Strom, der von den Bergen nieder

Zur Ebne läuft, so kehrt sie niemals wieder.

Denn Seneca und andre Weisen sagen,

Daß schwerer Zeit- als Geldverlust zu tragen;

Verloren Gut sei wieder zu erringen,

Die Zeit verlieren, müsse Schande bringen.

So spricht er. Nun, fürwahr, zurückgeschafft

Wird Zeit so wenig wie die Jungfernschaft,

War Lisbeth lüstern ihrer überdrüssig;

Und darum laßt uns faul nicht sein und müßig!


Herr Rechtsgelehrter, bei dem Heil der Seelen!

Ihr müßt,« – sprach er – »wie ausgemacht, erzählen.

Aus freien Stücken habt Ihr beigepflichtet,

Und so bin ich's, der in der Sache richtet.

Das Wort, das Ihr verpfändet, löset ein,

Wollt pflichtgetreu Ihr bis ans Ende sein!«


»De par dieu! jeo assente! mein Versprechen,

Herr Wirth,« – sprach er – »pfleg' ich nicht leicht zu brechen.

Versprechen gleichen Schulden, und bezahlen

Will ich die meinen, ohne viel zu prahlen.

Denn, wer den Andern will Gesetze geben,

Der muß zunächst auch selber danach leben.«

So steht's im Text. – Indessen sag' ich frei,

Im Augenblick fällt mir nichts Gutes bei.


Denn Chaucer hat – obwohl im Versebau

Und Reim oft liederlich und ungenau –

In solchem Englisch, wie er eben kann,

Erzählt schon Alles. Das weiß Jedermann.[155]

Und, lieber Freund, steht's nicht in einer Schrift,

In einer andern man es sicher trifft.


Denn über Liebe hat er mehr gedichtet,

Als selbst Ovid vor langer Zeit berichtet

In den Epistolis. – Soll ich mich quälen,

Was schon erzählt ist, nochmals zu erzählen?


»Halcyone und Ceix« schrieb zur Zeit

Der Jugend er, und später weit und breit

Von Liebe vieler edler Herr'n und Damen.

Schaut in sein dickes Buch hinein, mit Namen

»Die Heiligen-Legende von Cupido«.

»Thisbe von Babylon, das Schwert der Dido,

Die um Aeneas starb, Lucretias Wunden,

Der Baum der Phyllis, die den Tod gefunden,

Durch Dich, Demophoon, sind vorgetragen

Der Dejanira, der Hermione Klagen,

Der Ariadne, der Hypsipyle

Das wüste Eiland mitten in der See;

Leander, der für Hero starb im Meer;

Schön' Helena, betrübt und thränenschwer;

Der Briseis, der Laodomia Leid,

Der Königin Medea Grausamkeit

An ihren Kindern, welche sie erhenkt,

Weil, falscher Jason, Du sie schwer gekränkt;

Die Tugend der Penelope, Alceste

Und Hypermnestra preist er dort aufs beste.


Doch, sicherlich, mit keinem Wort beschrieben

Seht Ihr von ihm, was Canace getrieben,

Und wie gesündigt mit dem Bruder sie.


– Zu solchen Schandgeschichten sag' ich: Pfui! –[156]

Auch nicht von Tyrius Appolonius,

Noch wie das Scheusal, Fürst Antiochus,

Der eignen Tochter Schänder ist gewesen;

Denn nur mit Schaudern kann man davon lesen,

Wie er sie hingeschmissen auf das Pflaster.

Weßhalb mit Absicht den Entschluß gefaßt er,

Nie wolle von so gräulichen Geschichten

In seinen Schriften er ein Wort berichten.


Drum wiederholen möcht' ich solche nicht.


Jedoch, was trag' ich heute vor? – Verglicht

Ihr mich den Musen, die man Pieriden

Genannt hat, wär' ich kaum damit zufrieden.

Metamorphoseos wissen, wie's gemeint. –


Doch keinen Knochen scheert's mich, wenn es scheint,

Als trät' ich in die Spur von Chaucers Ferse.

Ich spreche Prosa, ihm laß ich die Verse.«


Und ernst begann mit freundlichem Gesichte

Er, wie Ihr hören werdet, die Geschichte.

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 2, S. 153-157.
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