Eine Nacht

[33] Ich hab' einen schönen Traum geträumt

In einer langen Nacht;

Da warst du gut und freundlich mit mir,

Doch hat's mich traurig gemacht.


Du hieltest mich an die Brust gedrückt,

Unser Athem hat sich vereint;

Ich habe dir die Hände geküßt

Und leise dabei geweint.


Du legtest die Hände mir auf's Haupt

Und sahst mich forschend an;

Ich aber weinte immer fort,

Du hast mir Leides gethan.


»Und hab' ich dir auch Leides gethan,

Vergiß es nur geschwind

Und weine nicht« – so sprachest du –

»Mein armes verlorenes Kind!
[34]

Du sollst nicht mehr verlassen sein,

Ich will dich hegen und pflegen,

Und weil du bald stirbst, so will ich

Dich selbst zur Ruhe legen.« –


Ich aber weinte immer fort

In der langen bangen Nacht –

Und bin im Arm eines Andern

Am Morgen aufgewacht.

Quelle:
Ada Christen: Lieder einer Verlorenen, Hamburg 21869, S. 33-35.
Lizenz:
Kategorien: