Zweiter Brief

[677] Freilich gehört wohl das Wort Gewissen in die Klasse der Worte, von denen unser Freund »Pascal« sagt, daß ein jeder ihre Bedeutung von Natur wisse, und durch Erklärung auch nicht mehr davon erfahren könne. Indes kann doch eins und anders zur Erklärung versucht werden.

Alles Gewissen ist Bewußtsein; aber alles Bewußtsein ist noch nicht Gewissen. Es gibt kein Gewissen ohne den Baum des Erkenntnis Gutes und Böses. So kann man von einem Engel des Himmels nicht sagen, daß er Gewissen habe; denn er kennt nur ein Gesetz, das Gesetz des Guten. Selbst von Gott kann man es nicht sagen. Gott kennt zwar das Böse; aber es besteht nicht vor ihm, und er hat eine Wagenburg um sich her,[677] dadurch es in Schranken gehalten, und alle Gemeinschaft mit ihm abgeschnitten wird.

Nur der Mensch hat zwei Gesetze in sich, eins, wie Paulus sagt, »im Gemüt«, und eins »in den Gliedern«; das eine: der inwendige Mensch, oder das verständige Gesetz, das in sich unbeweglich ist, und »Lust hat an dem Unbeweglichen, dem Unsichtbaren, dem Unvergänglichen«; und das andre: das sinnliche Gesetz, das in sich beweglich ist, und dem Beweglichen, dem Sichtbaren, dem Vergänglichen anhangt, und »nichts vernimmt vom Geiste Gottes«.

Wie Feuer und Wasser, solange sie in ihrer Natur bleiben, unverträglich sind; so sind es diese zwei Gesetze im Menschen. Und darum ist der Mensch, vom Weibe geboren, innerlich im Streit, und ist kein Friede in seinen Gebeinen; denn er soll Herr sein des sinnlichen Gesetzes, und nicht Knecht; und er weiß, wie ihm zumute ist.

Das Bewußtsein dieser Knechtschaft ist böses Gewissen überhaupt. Gutes Gewissen ist Bewußtsein dieser Nicht-Knechtschaft, und liegt in der Mitte zwischen bösem Gewissen, und der Freiheit, oder der Herstellung des Menschen.

Doch dies alles sind nur Worte, und der Mensch fühlt am besten, was Gewissen ist. Wenn er es nicht fühlt, desto schlimmer für ihn. Zu seiner Zeit hat das Gewissen notwendig in ihm gestammelt, und war es in seiner Gewalt, ihm die Zunge zu lösen oder zu lähmen. Denn wenn ein Mensch auf die Bewegungen seiner bessern Natur nicht achtet, oder wenn er der geringern die volle Gewalt läßt; so spricht das Gewissen nach und nach leiser, und schweigt endlich gar. Doch schweigt es nur, und wacht einmal plötzlich und schrecklich wieder auf.

Im Herbst ist die Witterung unruhig, im Winter ist sie ruhiger, wann nämlich und weil nun die Kälte ein mal die Oberhand über die Wärme erhalten hat. Aber die Wärme ist keinesweges vernichtet; sie schläft nur, und stößt, wenn sie plötzlich von der Sonne geweckt wird, die Kälte desto gewaltsamer von sich. Der Bösewicht kann seinem Schicksal nicht entgehen. Das Gewissen hängt an seinem Wesen, und folgt ihm aus einer Welt in die andre. Und bis es erwacht, ahndet und nagt ihn immer was ihm bevorsteht.

Cromwell und seine Gefährten schäkerten über den Königsmord, und machten einander, beim Unterschreiben des Todesurteils, schwarze Bärte. Aber ihn ahndete doch in der Folge[678] nichts Gutes: er schlief zuletzt keine zwei Nächte hintereinander in demselben Bette und Zimmer; und wir sind nicht dabeigewesen, als ihm jenseits widerfuhr, was ihm diesseits ahndete.

Die Heilige Schrift lehrt und bestätigt auch das plötzliche und schreckliche Erwachen eines bösen Gewissens. Aber wie sie überhaupt unterrichtet, nicht sowohl durch Lehrsätze, als durch Geschichte und Fakta, die kräftiger wirken und mehr zu Herzen gehen; so auch hier. Nimm nur gleich, was sie vom Judas, dem Verräter, erzählt, als ihm über das, was er getan hatte, die Augen aufgingen. Er lief in der Angst seines Herzens umher, suchte Trost im Tempel, gestand und bekannte den Hohenpriestern und Ältesten, daß er unschuldig Blut verraten habe, brachte ihnen die Silberlinge wieder, und warf sie, als die Buben sie nicht annehmen wollten, von sich hin in den Tempel, um ihrer nur los zu sein, ob ihm das vielleicht Linderung schaffen könnte. Aber es schaffte ihm keine, und er verließ den Tempel ebenso trostlos wieder, und ging wieder hin wo er hergekommen war. – Und als er nirgends Trost fand, und sich nicht länger ertragen konnte; griff er zum Strick, und erhenkte sich.

Und er ist mitten entzweigeborsten, und alle seine Eingeweide ausgeschüttet; ob vielleicht die nun in ihm eingeschlossene Angst ihm den Leib gesprengt hat, oder eine andre und gewöhnliche Ursache. Denn die Evangelisten erzählen in ihrer Geschichte diesen Vorgang nicht, und Petrus führt ihn nur kurz und beiläufig an.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 677-679.
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