Vom Vaterunser

[641] Die Reden Christi sind ein Born, der nicht verlöscht. Wie man aus ihm schöpft, füllt er sich wieder an; und der folgende Sinn ist immer noch größer und herrlicher, als der vorhergehende. So ist es mit allem was aus seinem Munde gegangen ist, mit seinen Sprüchen, mit seinen Gleichnissen; und so ist es auch mit dem Vaterunser. Je länger man es betet, je mehr sieht man ein, wie wenig man es versteht, und wie wert es ist, verstanden, und bedacht zu werden um unbekannten Schätzen auf die Spur zu kommen.


Vater Unser, der du bist im Himmel!

Was ist das? –


Luther antwortet sehr schon: »Er will uns damit locken, daß wir glauben sollen, er sei unser rechte Vater und wir seine rechte Kinder, auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater bitten.«

Dieses Gefühl, dieser Glaube an einen Vater im Himmel, zu dem wir beten dürfen – und dem die Haare auf unserm Haupte gezählet sind, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt, an dessen Wohlwollen uns alles gelegen ist, und den wir um nichts in der Welt beleidigen möchten –, dieser Glaube ist hier auf Erden des Menschen höchstes Gut, das einzige Gegengewicht, das seinen ungestümen unbändigen Begierden und Leidenschaften Einhalt tun, und einen Ring in die Nase legen kann; ist der einzige sichere Bürge für Wahrheit und Recht in der Welt, und das wahre Palladium des Menschen. Wer es ihm antastet und stört, der bringt ihn um sein Glück, was er ihm auch dagegen wieder gebe und bringe.

Und dieser Glaube bewährt und veredelt sich, je nachdem wir die Worte Christi festhalten, und ihrem Sinn nachgehen.

Hebe deine Augen auf zu den Sternen, und siehe: wie sie weit und breit funkeln, größer und kleiner, hinter- und nebeneinander; und wie sich dies herrliche Schauspiel in die Ferne verliert, und weiter und weiter in Unabsehlich fortgeht! – Aber es kann doch nicht ohne Ende so fortgehen; es muß doch Irgendwo eine Grenze sein, und etwas anders kommen. – Worin schwimmt das ungeheure Weltall; und welche Wellen bespülen seine unermeßlichen Gestade? – Was ist da, wo die Welt aufhört, und rundum die letzten Grenzsterne stehen? – Fängt da der Himmel, in dem[641] unser Vater ist, an? – Oder ist der Himmel in allem und durch alles? – Unser Vater, wie ist er in der Welt, wo die Haare auf unserm Haupte gezählet sind? – Wie ist er außer der Welt, durch die Unendlichkeit? – Und was ist in sich sein großes heiliges Wesen? – –

Frage so in dir – und du verstummst, und beugst die Kniee.

Und was würde es sein, wenn du mehr von dem hättest, was Christus bei dieser Einleitung zu seinem Gebet im Sinne hatte!


Geheiliget werde dein Name!

Wenn man schon zu Enos Zeit anfing zu predigen von Jehovas Namen235;

Wenn Abraham236 und Isaak237 von diesem Namen predigten;

Wenn Jehovas Name auf die Kinder Israel gelegt werden sollte, daß Jehova sie segne238;

Wenn schon das Zweite Gebot des Gesetzes von dem Mißbrauch dieses Namens239, und die erste Bitte des Vaterunser von seiner Heiligung handelt;

Wenn wir, 3. Mos. 24, 10 etc., lesen: »Es ging aber aus eines israelitischen Weibes Sohn, der eines ägyptischen Mannes Kind war, unter den Kindern Israel, und zankte sich im Lager mit einem israelitischen Manne, und lästerte den Namen und fluchte. Da brachten sie ihn zu Mose und legten ihn gefangen, bis ihnen klare Antwort würde durch den Mund Jehovas. Und Jehova redete mit Mose, und sprach: Führe den Flucher hinaus vor das Lager, und laß alle, die es gehört haben, ihre Hände auf sein Haupt legen, und laß ihn die ganze Gemeine steinigen. Und sage zu den Kindern Israel: Wer seinen Obern fluchet, der soll seine Sünde tragen. Welcher den Namen Jehova lästert, der soll des Todes sterben, die ganze Gemeine soll ihn steinigen. Wie der Fremdling, so soll auch der Einheimische sein. Wenn er den Namen lästert, so soll er sterben«;

Wenn, 2. Mos. 6, 2. 3, geschrieben steht: »Und Gott redete mit Mose, und sprach zu ihm: ›Jch bin Jehova. Und ich bin erschienen Abraham, Isaak und Jakob, daß ich ihr allmächtiger Gott[642] sein wollte; aber mein Name Jehova ist ihnen nicht geoffenbaret worden‹«;

Wenn endlich Christus, Joh. 17, 6, in seinem letzten Gebet zum Vater, spricht: »Ich habe deinen Namen geoffenbaret den Menschen, die du mir von der Welt gegeben hast«;

so muß man denken, daß in und auf diesem Namen, außer dem ersten offenen Sinn, noch etwas Geheimes und Verborgenes ruhe, und daß mit dessen Offenbarung ein Großes gegeben werde. Wir aber wissen davon nicht, und sehnen uns vergebens nach dem, was Christus bei diesem: geheiliget werde dein Name! im Sinne hatte.


Zu uns komme dein Reich!

Daß »die Säulen des Himmels feste stehen«; daß »die Bande, mit denen der Orion zusammengebunden ist, sich nicht lösen«; daß »die Sterne ihre Ordnung halten, und sich nicht müde wachen«; daß »die Sonne hervorgeht wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, und ihren Weg läuft wie ein Held«; daß »der Mond scheinet zu seiner Zeit, und die Erde und das Meer nicht wanken«; daß »die Wolken aufgehen vom Ende der Erden«; daß »es regnet auf das Land, und von Mittag Wetter kömmt und von Mitternacht Kälte« usw. – Das ist freilich Gottes Reich, und kommt ohne unser Gebet von ihm selbst. Doch in diesem Reich sind, sozusagen, Herr und Knecht einander fremd und geschieden; hier herrscht nur Macht, Zwang und Strenge, nur blinder, toter, bewußtloser Gehorsam; und das erfreuet und befriedigt sein Vaterherz nicht.

Aber es ist ein ander Reich Gottes in den Wesen seiner Natur; und in diesem Reich herrscht und regiert nur Liebe und Freude und Friede. Der Vater teilt hier sich selbst den Kindern mit, und sieht mit Huld und Wohlgefallen auf sie her; und die Kinder hangen an den Vater, und wissen ihres Glücks kein Ende.

Dies Reich Gottes kann auch zu den Menschen auf Erden kommen: »Gehe in deine Kammer und schleuß die Tür zu, und bete zu deinem Vater im Verborgenen, und dein Vater, der ins Verborgene siehet, wird dir vergelten öffentlich.« Aber dies Reich kommt nicht ohn unser Gebet, und darum heißt Christus uns beten: daß es zu uns komme.

Die nun, zu denen es kommt, die erfahren, wie Christus es in dieser Bitte mit uns meint, und kennen dies Reich. Aber,[643] bis es gekommen ist, kennen wir es nicht, und wissen nur halb was wir beten.


Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden!

Niemand ist gut, als der einige Gott! Und sein Wille will nur eins von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Dies eins wollte der Wille, wenn Gott je in heiliger Stille und Einsamkeit existierte und alles Wohlsein in ihm eingeschlossen war, in Gott. Und als Gott sich in freie Wesen ergoß, da wollte sein Wille dies eins in allen den einzelnen freien Willen wollen, damit so das Wohlsein Gottes durch alle Wesen fortgepflanzt werde, und überall und allenthalben Einklang und volle Genüge sei.

Wo also Mißklang und Not und Ungemach ist, wie hier bei uns auf Erden, da müssen einzelne Willen, die anders wollen, im Wege sein, und den einen Ton, der durch Himmel und Erde tönen sollte, stören. Und es kann des Mißklangs, der Not und des Ungemachs kein Ende werden, oder diese einzelne Willen müssen sich ändern, und wieder in den großen Willen eingehen.

Um also die dritte Bitte recht zu verstehen, müßten wir wissen, was der Wille ist; und davon wissen wir wenig, oder nichts. Wir Menschen lassen unsern Willen gewöhnlich, und fast immer, durch scheinliche und zum Teil sehr nichtswürdige Bewegursachen meistern und überwinden. Aber Beispiele alter und neuer Zeit lehren und beweisen die Unabhängigkeit und Unüberwindlichkeit des menschlichen Willens, und ein jeder fühlt es in seinen Innersten, daß sein Wille unabhängig und unüberwindlich sein kann. Aus dem nun, und aus der Ehrerbietigkeit und Achtung, welche andre Menschen und die Gesetze für Genehmigung und Einwilligung haben, urteilen wir mit Recht, daß der Wille hoher Natur sei. Aber dabei bleibt es auch mit unserm Wissen vom Willen.

Und ebenso ist's mit unserm Wissen von dem: wie im Himmel, also auch auf Erden.

Wir kennen den Himmel nicht, und unsre Träume davon treffen nur sehr von ferne zu.

Christus kannte die Seligkeit im Himmel, wo Gottes Wille geschieht. Ihm war die Not und das Ungemach der Erde, wo Gottes Wille gehindert wird, nicht unbekannt. Er hatte, seit der Welt Grund gelegt ward, bei sich beschlossen zu Hülfe zu kommen, und war itzt auf Erden, das allgemeine Hindernis zu gewaltigen,[644] und uns über die besondern Hindernisse, in jedwedem einzelnen, den Sieg möglich zu machen und einzuleiten. Die Willkür ist so zarter und edler Natur, daß sie keinen Zwang leidet, und sich selbst freiwillig opfern will und opfern muß, wenn sie genesen soll. Christus konnte denn mit aller seiner Liebe und Barmherzigkeit nicht mehr tun, als er getan hatte, und Ihm blieb nichts übrig, als uns noch selbst an den Vater zu weisen: Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden!

Wir sehen und verstehen also, warum wir die dritte Bitte beten sollen; aber wie Gottes Wille geschieht, wie Eigenwille den großen Willen hindert, und wieder in ihn eingeht; das wissen und verstehen wir nicht.

Und so geht es fort mit allen Bitten, von der vierten an, wo Buchstabe und Geist lehren, daß hier auch von dem Brot, Joh. 6, das für uns ein Geheimnis ist, die Rede sei; bis an die siebente, wo um Erlösung, nicht allein von zeitlichem Übel, sondern auch von dem Ur-Bösen, gebetet wird, damit, wenn wir physisch und geistig von ihm erlöset worden, und er, wie dort Judas, hinausgegangen ist, Joh. 13, 31, nun des Menschen Sohn verkläret werde. Welches alles für uns hohe und unbekannte Dinge sind.

Ob wir nun aber das Vaterunser nicht ganz verstehen; so kann doch das unser Vertrauen, und unsre Andacht und Zuversicht es zu beten, nicht stören. Wir verstehen genug um zu wissen, was uns an der Erhörung dieses Gebets gelegen ist, und daß wir es nicht oft und herzlich genug beten können. Und für das übrige verlassen wir uns auf den, der es uns zu beten befohlen hat.

Der muß so bei allem unserm Gebet das Beste tun.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 641-645.
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