/ Johann Caspar Lavaters

Physiognomische Fragmente zur Beförderung

der Menschenkenntnis und Menschenliebe,

[116] mit Kupfern, gr. 4°. Bei Weidmanns Erben und Reich in Leipzig, und bei Steinern in Winterthur etc.


Das ist 'n Buch wie mir in meiner Praxis noch keins vorgekommen ist. Was da für Gesichter darin stehen! groß und klein! ehrenfest und ehrenlos! sauer und süß! schief und krumm usw.! und so viele Schnabels, und Nasen und Münde, die gar an kein Gesicht sitzen, sondern so in freier Luft schweben! Einige Gesichter sind rabenschwarz, das müssen wohl Afrikaner sein usw.

Soviel ich verstanden habe, sieht Herr Lavater den Kopf eines Menschen und sonderlich das Gesicht als eine Tafel an, darauf die Natur in ihrer Sprache geschrieben hat: »Allhier logieret in dubio ein hochtrabender Geselle! ein Pinsel! ein unruhiger Gast! ein Poet! 'n Wilddieb! 'n Rezensent! ein großer mutiger Mann! eine kleine freundliche Seele!« etc. etc.

Es wäre sehr naiv von der Natur, wenn sie so jedwedem Menschen seine Kundschaft an die Nase gehängt hätte, und wenn irgendeiner die Kundschaften lesen könnte, mit dem möchte der Henker in Gesellschaft gehen. Darum schämen sich auch einige Leute wohl so, schlagen die Augen nieder, und mögen einen nicht grade ansehen.

Da die Herren Kollegen verschiedentlich über dies Buch geperoriert haben; so werde ich wohl nicht schweigen, denn das müßte schlecht sein, wenn ich nicht noch weniger von der ganzen Sache verstünde als einer von ihnen: und dazu hab ich das Buch nur zweimal einen halben Tag bei einem vornehmen Gönner gelesen, und bin also absonderlich zu einem Judex competens qualifiziert, werde auch nicht ermangeln, die Sache zu ventilieren, pro und contra, vernünftig und unvernünftig, langsichtig und kurzsichtig,[116] nach Exempeln und nach dem Generalbaß usw. wie's das Metier mit sich bringt. Vorher will ich nur noch geschwind erzählen, wie's mir mit den Gesichtern in dem Buch gegangen ist. Bei 'n paar von den Gesichtern sah ich den guten frommen Engel, der hinter der Haut steht, klar und deutlich, und aus 'n paar andern kuckte mich der leibhaftig an. Bei den meisten war's aber so: wenn ich 'n Gesicht angesehen habe, ohne den Text zu lesen, so hab ich nicht gewußt, was darin wäre und was ich davon sagen sollte; sobald ich aber Lavaters schönen Text dazu gelesen hatte, hab ich's alles darin gefunden, und es hat mich oft recht gewundert, wie ich das alles so aus dem Gesicht sehen könnte. Doch zur Sache.

Die Physiognomie ist eine Wissenschaft von Gesichtern; Gesichter sind Concreta, denn sie hängen generaliter mit der würklichen Natur zusammen, und sitzen specialiter fest am Menschen; es wäre also die Frage: ob der berühmte Handgriff »Abstractio« und die »Methodus analytica« hier nicht zu applizieren wäre, daß man nämlich auf die Erfahrung achtgäbe: ob der Buchstabe i allemal, wenn er vorkommt, den Tüttel habe, und ob der Tüttel, wenn er vorkommt, niemals über einem andern Buchstaben stehe; denn so hätte man heraus, daß der Tüttel und der Buchstabe Zwillingbrüder wären, und, wo Castor sich betreten ließe, Pollux nicht weit sei. Zum Exempel, es sollen hundert Herren sein, die alle sehr schnell zu Fuß sind und davon Proben und Beweis gegeben haben; und diese hundert Herren hätten alle eine Warze vorne auf der Nase. Ich sage nicht, daß die Herren die eine Warze vorne auf der Nase haben Feigememmen sind; sie sollen's nur des Exempels wegen sein, und man soll nicht einen Renommisten mit einer Warze vorne auf der Nase gefunden haben, und ich wüßte das. Nun ponamus, mir käme ein Kerl ins Haus der mich einen hungrigen Poeten und Tellerlecker titulierte und mir s.v. ins Gesicht spuckte. Ich wollte mich nicht gerne schlagen, wüßte auch nicht, wie's ablaufen könnte, und stünde und dächte dem Dinge weiter nach; indem würde ich einer Warze auf seiner Nase gewahr! da würde ich mich denn nicht länger halten können, und herzhaft mit meinem point d'honneur auf ihn losgehen, und ich käme sicherlich ungeschlagen davon. Dieser Weg wäre sozusagen die Heerstraße in diesem Felde; es möchte wohl langsam Fortkommen darauf sein, aber so sicher als auf den andern Heerstraßen.

Doch die Menschen haben verschiedene Gaben, und daß ich aus[117] jedem Gesicht nicht sehen kann, beweist nichts weiter, als daß ich nichts daraus sehen kann, und darum kann's doch vielleicht ein anderer.

Ist denn aber überall etwas daraus zu sehen? Und schnürt diese Lehre nicht der Freiheit des Menschen den Hals zu? Denn wenn einer notwendig 'n Schurk ist der z.E. ein großes Maul hat; so muß er 'n Schurk leben und sterben, 's Maul wird sich nicht zusammenziehen.

Hierauf würde ich antworten: umgekehrt, so wird 'n Schuh daraus. Ein Mensch ist kein Schurke wenn er 'n großes Maul hat, sondern wenn er 'n Schurke ist, so hat er 'n großes Maul. Er wird freilich mit dem großen Maul auch wohl 'n Schurke bleiben, aber er kann's doch ebensogut auch nicht bleiben, als wenn er gar kein Maul, sondern statt dessen etwa einen Schnabel hätte oder gar rund zugewachsen wäre. Und wenn er sich bessert, warum sollte sich auch sein großes Maul nicht zusammenziehen können? Zieht sich doch eine dicke Stange Eisen, die Meister Schmidt geglüht hat, in der Kälte wieder zusammen, und so hart und dumm ist doch kein Maul als eine Stange Eisen. Aber 's mag meinetwegen groß bleiben, und die Physiognomen mögen den Eigentümer für einen Schurken halten. Wenn er ein ehrlicher Mann geworden ist, desto besser für ihn, denn es muß eine Lust sein, wenn man so die Herren Kunstverständige zum Narren haben kann. Und dazu würde ich mir die Physiognomie dienen lassen, und die Physiognomen, die in solchem Fall nicht von ganzem Herzen gerne Narren sein wollten, die hole der Kuckuck! Das sind Taschenspieler, und wage es keiner von ihnen mich scharf anzusehen, sonderlich wenn er eine Warze auf der Nase hat. Ein Physiognom, und so stelle ich mir auch den Raphael Lavater vor, ist 'n Mann, der in allen Menschengehäusen den unsterblichen Fremdling liebhat, der sich freut wenn er in irgendeinem Gehäuse, Strohdach oder Marmor, einen Gentleman antrifft mit dem er Brüderschaft machen kann, und gerne beitragen möchte die Leibeignen frei zu machen, wenn er nur ihre Umstände wüßte. Der unsterbliche Fremdling im Menschen ist aber inwendig im Hause, und man kann ihn nicht sehen. Das laurt nun der Physiognom am Fenster, ob er nicht am Widerschein, am Schatten oder sonst an gewissen Zeichen ausspionieren könne was da für ein Herr logiere, damit er und andre Menschen eine Freude oder Gelegenheit hätten, dem Herrn einen Liebesdienst zu tun. Mag er bei seiner Entreprise parteiisch sein, übertreiben, tausendmal[118] neben der Wahrheit hinfahren, und mehr Unkraut als Weizen sammlen; er bleibt auch mit Unkraut in der Hand ein edler Mann, und denn ist noch immer die Frage erst, ob alles würklich Unkraut ist, was du nach deinem Linneus Unkraut nennst.

Das a.b.c. und ab – ab der Natur ist mir übrigens nicht unwahrscheinlicher als das a.b.c. und ab – ab in meiner Fibel. Der Maulwurf wirft anders auf als der Erdkrebs; der König Salomo baut sich ein anderes Haus als Johann Hutmacher, und diese müssen es erst durch den dritten Mann tun lassen; so kann ja der innerliche Baumeister, denn dasein muß doch einer, aus seinem weichen Mörtel selbst wohl sein Haus und sonderlich sein Kabinett nach Stand und Würden bauen! und die härtesten Knochen sind weicher Mörtel gewesen.

Ich ließe mir noch mehr a.b.c.'es und ab – ab's gefallen als an der Nase des Menschen. Was der liebe Gott anfangs alles für Weltkräfte erschaffen und wie er sie gegeneinander geordnet hat, das ist alles vor unsern Augen verborgen, und ich wäre sehr geneigt, die ganze sichtbare Welt als eine Glocke anzusehen, die wir davon läuten hören, ohne recht zu wissen, in welchem Turm sie ist. Die Natur hat, wie in den Apotheken, ihre simplicia und composita in verschiedene Büchsen getan, und die äußere Form der Büchse ist das Schild was sie darüber ausgehängt hat. Der muß wohl sehr glücklich sein und ein seltener Heiliger, der sie alle versteht, aber der ein großer Hans ohne Sorgen und Veit auf allen Gassen, der sich um keins bekümmert.

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Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 116-119.
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