Nähere Untersuchung des neuen Systems

[431] Angenommen daß das neue System, oder ein Vernunftregiment, würklich in der Welt auch möglich wäre; so würde man es doch keine Regierung nennen können, sondern allenfalls eine Gesellschaft der praktischen Politik, eine Staatsbürgerakademie etc. In dem Wort: Regierung, liegt uns die Idee von einer Kraft, die von der Untersuchung des Rechts verschieden ist; die einen festen unerschütterlichen Gang hat, und unwiderstehlich zum Ziel schreitet. Diese Kraft geht durch alle Teile der Staatsverfassung. Sie ist, wie das Herz im menschlichen Körper; und muß ungehemmt und unangetastet bleiben, solange das Leben des Körpers dauern soll. Es ist hier nicht die Frage: ob nicht gegen ihren Gang in einzelnen Fällen regelmäßige Einwendungen und Vorstellungen gemacht werden dürfen. – In welchem Lande werden die nicht gemacht: und in welchem Lande wird nicht darauf gehört? – Nur sie darf nicht angerührt, nicht gehemmt werden, ohne Rücksicht auf Recht und Unrecht, oder alles ist zu Ende. Ich will dies mit einem Exempel erläutern. Den 22. Jul. 1789, ermordete, wie bekannt ist, das Volk zu Paris öffentlich und auf eine schreckliche Weise den Foulon. Der Marquis von la Fayette, dem, einstimmig und unter allgemeinem Jubel des Volks, das Generalkommando der Pariser Bürgermiliz war übertragen worden, und die Wahlherren von Paris, stellten gütlich dagegen vor; und taten überaus brav, um den Foulon zu retten. Aber umsonst; er ward ermordet. In der Sache mochte das Volk vielleicht nicht unrecht haben, und Foulon des Todes wert sein. Auch würde das von la Fayette vorgeschlagene Gericht ihn vielleicht zum Tode verurteilt haben. Das Volk handelte also nicht einmal gegen: es antizipierte nur. Aber das, was unverletzlich ist, war verletzt worden. Und was tat Fayette? – Er legte seinen Generalkommandostab nieder; weil, wie er sich sehr polis ausdrückte: »der Tag, an dem das Volk ihm das versprochene Zutrauen versagt hätte, auch der Tag sein müßte, an dem er seine Stelle aufgäbe, darin er nun weiter keinen Nutzen mehr stiften könnte«.

Es muß denn eine unwiderstehliche Kraft in einer Regierung sein, und ohne die kann kein Gehorsam und kein Staat gedacht[431] werden; wie ohne einen festen unbeweglichen Punkt, wohl eine in parabolischen und Schneckengängen wild durcheinanderlaufende Figur, aber kein regulärer Zirkel, gemacht werden kann.

Woher soll nun aber in einem Vernunftregiment diese unwiderstehliche Kraft und dieser feste unbewegliche Punkt kommen? – Die Vernunft, antwortet man, ist das eine; und soll das andre geben.

Die Vernunft wollte wohl eine Kraft und unwiderstehlich sein, und könnte es vielleicht auch; aber sie ist es nicht. Und wie sollte sie einen festen unbeweglichen Punkt geben können? Sie existiert ja in dem Regiment nicht außer in den Individuis, und von diesen hat ein jedes seine eigne Vernunft. Jedweder Mensch hat seine Art die Dinge anzusehen, und vernünftig zu sein; und es ist eher möglich, daß alle Pfeifen in allen Orgeln von Europa unisono stimmten, als daß es alle Glieder eines kleinen Staats täten, gesetzt auch daß sie Stimmung hielten.

Es waren immer und zu allen Zeiten viele und mancherlei Philosophien in der Welt. Ist je eine gewesen, die sich nicht in Parteien und Sekten geteilt hätte? Ist je ein philosophischer Spekulant gewesen, der nicht seine Widersacher und seine Oppositionspartei gehabt hätte? Und im philosophischen Felde haben noch alle Streiter ohngefähr einerlei Absichten; sie suchen alle die Wahrheit, und zwar möchten sie eine Wahrheit wie sie ist, und sie wollten sich alle wohl nach ihr richten. In einem Staat und im bürgerlichen Felde ist erstlich der Haufe viel größer; die Interessen sind verschieden, durcheinander, und oft gerade widereinander; die Neigungen und Leidenschaften sind mehr in Bewegung und Spiel; und jedweder sucht eine Wahrheit, nicht nach der er sich, sondern die sich nach ihm richte. Wenn zwei, z.E. einen Prozeß haben, so findet gewöhnlich die Vernunft jeder Partei: daß sie recht habe; weil jede recht haben will etc. – Und doch soll die Vernunft den festen unbeweglichen Punkt geben! – Wo nehmen wir Brot hier in der Wüsten? –

Wohl wahr, spricht man; aber, gebt den Menschen nur richtige Begriffe! Aufklärung! Aufklärung! Der Mensch muß aufgeklärt werden! – Nun ja, gegen die richtigen Begriffe hat niemand etwas; auch gibt es für jeden Menschen gewisse Dinge, worüber es recht nützlich und gut ist ihn aufzuklären, das heißt, ihm zu sagen: dies und das ist so, und nicht so; dies und das taugt, oder taugt nicht; dies und das muß geschehen, oder nicht geschehen etc. Nur, wer mit dem Medusenkopf der Aufklärung [432] die Neigungen und Leidenschaften zu versteinern denkt, der ist unrecht berichtet.

Es ist, zwischen den Begriffen und dem Wollen im Menschen, eine große Kluft befestigt. Das Rad des Wissens und das Rad des Willens, ob sie wohl nicht ohne Verbindung sind, fassen nicht ineinander. Sie werden von verschiedenen Elementen umgetrieben, und sind etwa wie eine Wind- und Wassermühle. Frage den falschen Messer, den falschen Wäger einmal, ob er nicht weiß, daß man rechtes Maß und Gewicht geben muß. Wer weiß nicht, daß man nicht töten soll? Wir wissen es nicht allein, sondern es widersteht auch ein natürlicher Widerwille gegen das Töten in uns, und in der Ferne geht der Scharfrichter mit dem Schwert – und tötet niemand? – Wer weiß nicht, daß man nicht stehlen soll? Und Galgen und Rad warnen noch überdas an allen Heerstraßen: – und stiehlt niemand? – So mit allen heiligen Zehn Geboten. Aber, was erwartest denn du mehr von deinen Geboten? Verstehst du es besser, als der liebe Gott? – Er konnte mit Geboten nicht zum Ziel kommen, und wählte deswegen einen andern Weg. – Und du denkst mit Geboten und Aufklärung auszureichen? – Mache doch einmal eine Probe; kläre einmal deinen Knecht oder sonst einen ersten besten auf: über den Ort wo die Schublade mit deinen Louisdor steht; kläre ihn auf, so viel du willst, über die Schändlichkeit der Untreue und über Pflicht und Recht; und gib acht: ob damit das heilige Grab sicher verwahrt sei, und ob nicht vielleicht dein Knecht unsichtbar und zu gleicher Zeit die Schublade leer werde. Siehe doch an: die tausend Verordnungen und mancherlei Vorstellungen, die um dich her in der Welt gegeben und gemacht werden; siehe doch an: was du selbst in deinem kleinen Zirkel verordnest und vorstellest. – Ist es damit ausgerichtet?

Ist dir das alles aber noch nicht klar, und zu weit weg; so will ich dir näher kommen. Gehe in dich, und frage dich selbst. Frage aufrichtig dein eigenes Herz: ob es nicht etwas anders ist, was dich zum Wollen bewegt, als das bloße Wissen? Ob die Räder des Wissens und des Willens in dir immer miteinander, und ob sie nicht oft gegeneinander gehen? Ob du nicht sogar bisweilen, wenn du das Rad des Besserwissens in der Ferne umgehen hörest, ob du denn nicht bisweilen mit Fleiß abwärts und aus dem Wege gehest, damit du seinen Laut nicht vernehmest? – Lieber, gestehe und leugne nicht. Du bist es nicht allein dem es also gehet; es geht andern Leuten auch so, und den meisten geht es noch[433] ärger. Gestehe denn aber auch, daß es eitel Traum und Täuschung sei, daß die Vernunft und Aufklärung den festen unbeweglichen Punkt geben und den Neigungen und Leidenschaften Gebiß anlegen könne! Und glaube nicht länger an eine Sache, die nicht wahr ist, und die nie hat wahr gemacht werden können, und die leider durch eine Erfahrung von 5793 Jahren widerlegt wird. Denn was anders war je die Absicht der bessern und weiseren Menschen aller Zeiten bei ihrem Tun und Treiben, als überall der Vernunft die Herrschaft über Sinne und Leidenschaften zu verschaffen? Und haben sie es tun und zustande bringen können? – Und wahrlich ihrer einige hatten das Ding beim rechten Ende angefangen.

Ein Staat nach dem neuen System oder ein Vernunftregiment ist denn unmöglich, weil man wohl klug aber nicht gut machen kann; weil die Menschen nicht wollen wie sie denken, sondern, vielmehr umgekehrt, denken wie sie wollen, und also durch Aufklärung noch kein Gehorsam geschafft wird.

Doch wir wollen die Sache noch von einer andern Seite angreifen. Wir wollen einen Staat, nach dem höchsten Ideal des neuen Systems in concreto annehmen; die Maschine einmal rund gehen lassen, und sehen was werden wird. Dieser Staat soll nur aus einer Million Menschen bestehen. Kein Staatsbürger in demselben soll etwas auf Glauben und Vertrauen annehmen noch sich irgend etwas begeben, sondern den vollen Genuß seiner Vernunft und seiner Menschenrechte haben; es soll darin bloß menschlich hergehen; alles soll durch die Gesellschaft selbst bestellt und bestimmet werden; und es soll, keine Einrichtung, kein Gesetz, gültig sein, als was durch die Vernunft eines jeden einzelnen dieser zehnmalhunderttausend Menschen, die, nach der Bevölkerung von Deutschland gerechnet, circa einen Raum von 500 Quadratmeilen einnehmen, eingesehen, gut gefunden und genehmiget worden ist.

So viel sieht sich gleich im voraus ab, daß es eine sehr langweilige Regierung geben muß; und man will verzweifeln: ob je ein Gesetz zustande kommen werde. Doch wollen wir eins in Vorschlag bringen. Und zwar soll zuerst das Münzwesen reguliert, und ein vorteilhafter Münzfuß festgesetzt werden. Alle Staatsbürger haben allerdings das Recht: in einer für den Staat so wichtigen Sache zu Rat gefragt zu werden und ihre Stimme zu geben; und sie sollen beides. Ich will nicht davon sagen, was für Zeit und Umstände dazu gehören würden, um nur bloß die[434] Sache zur allgemeinen Wissenschaft zu bringen. Diese Schwierigkeit soll schon überwunden, und der Vorschlag jedwedem einzelnen Staatsbürger insinuiert sein. Aber, nun weiß niemand von ihnen, wovon die Rede ist. Unter hunderttausend wissen etwa hundert: was ein Münzfuß; und einer: was ein vorteilhafter Münzfuß ist. Diese zehn also müssen entscheiden, wenn etwas Kluges werden soll. Und für die übrigen neunmalhundertundneunundneunzigtausendneun hundertundneunzig bleibt nichts übrig, als sich ihrer Rechte über den Münzfuß zu begeben und Glauben und Vertrauen zu den zehn Münzverständigen zu haben, welche die Rechte der Gesellschaft in Münzsachen vertreten, und eine Art von Münzkollegium im Lande wären.

Wo Münze ist, da wird es auch nicht an Streit und Händeln fehlen, und wir müssen denn auch eine Rechtspflege haben. Alle Staatsbürger haben freilich wieder das Recht: über eine für den Staat so wichtige Sache zu Rat gefragt zu werden und ihre Stimme zu geben; und sie sollen beides. Ich überlasse es jedwedem: ob, wenngleich ein jeder Mensch ein Gefühl von Recht und Unrecht hat, ob es je möglich sei, daß zehnmalhunderttausend Menschen sich über so viele Gesetze und Formalien, als eine Rechtspflege erfodert, einig werden sollten! Aber, als möglich angenommen was unmöglich ist; angenommen: daß alle zehnmalhunderttausend Staatsbürger über alle die Dinge zu einer Meinung und Stimme gekommen wären, daß sie alle würklich die Gesetze gemacht hätten; so können sie alle sie doch nicht exekutieren. Und, wie sie sich auch darüber einig werden, durch Wahl oder durchs Los, über wenige oder über mehrere; so müssen sie sich doch einig werden, und es muß zu einem Kollegio von einigen kommen, das die Rechte der Gesellschaft in Justizsachen vertritt. Und, für alle die andern Staatsbürger bleibt nichts übrig, als sich ihrer Rechte in Justizsachen zu begeben, und Glauben und Vertrauen zu dem Justizkollegio zu haben. Und die Ordnung, Ruhe und Glückseligkeit sowohl der ganzen Gesellschaft als der einzelnen Staatsbürger hängt davon ab: daß dies Kollegium in Justizsachen, wie das Münzkollegium in Münzsachen, bis weiter honoriert werde.

Und so weiter, und so weiter.

Also, ohne Rechte-Vertreten und In-Händen-Haben abseiten eines oder einiger, und ohne Rechte-Begeben und Glauben und Vertrauen abseiten des ohne allen Vergleich größern Teils der[435] Staatsbürger, ist eine bürgerliche Einrichtung platterdings unmöglich! – – – –

Aber, da wäre ja nebenher noch etwas anderes und etwas sehr Unerwartetes zum Vorschein gekommen? – Auf die Weise wäre ja das neue System älter als das alte! Auf die Weise scheint es ja: daß der Zustand des Selbstsehen und der Menschenrechte, den unsre Schriftsteller als eine neue Entdeckung, als die nach und nach gereifte Frucht der Zeiten, und als den uns und unserm erleuchteten und glücklichen Jahrhundert vorbehaltenen großen Fund ansehen; daß, sage ich, dieser Zustand der älteste und erste gewesen; und daß man, weil das Ding so nicht gehen wollte und so nicht gehen konnte, auf ein anderes denken und zu dem alten System greifen mußte! –

Freilich! Es scheint so. Der Strumpf kann allerdings wieder zum langen Faden gemacht werden; aber, der lange Faden war vor dem Strumpf.

Freilich; es scheint so, und es ist auch wohl so. Das neue System war zuerst, und von da ging man zum alten über.

Und dieser Übergang ist nicht leicht und nicht unbedeutend gewesen. Und es war kein kleines und geringes Werk: das Selbstdenken und Selbstwollen eines jeden einzelnen, dabei keine Ordnung und kein Glück bestehen kann, aus dem Sinn und in ein Gleis zu bringen; den Eigendünkel und natürlichen Trotz, die Halsstarrigkeit, und den Übermut etc. der menschlichen Natur zu bändigen; und, statt ihrer, Gehorsam, Ehrerbietigkeit, Zurückhaltung, Zuvorkommen, Diskretion, Delikatesse und die übrigen Grazien des gesellschaftlichen Lebens zu introduzieren.

Wenn man bedenkt: was es, nachdem diese Bändigungsfalten und -gleise einmal gelegt und die bürgerlichen Einrichtungen schon gemacht sind, und die Menschen in dem Respekt gegen die Obrigkeit geboren und erzogen werden; was es da noch kostet und immer gekostet hat, die natürliche Unbändigkeit und das natürliche Gefühl von Menschenrechten, das jeder Mensch dunkel in sich hat und das sich in jedem Bürger- und Bauerntumult rührt, in Ordnung und Zaum zu halten; so läßt sich einigermaßen absehen: was es gekostet habe, und was dazu gehört habe, wie viele Zeit und wie viele Weisheit, was für Liebe und Geduld, und wie viele harte Stöße der äußerlichen Gewalt, um diese Falten zuerst zu legen, und diese wohltätigen und für die bürgerliche Glückseligkeit aller und jedes einzelnen unentbehrlichen[436] Bande zuerst zu knüpfen. Ich sage: einigermaßen. Denn keine äußerliche Gewalt etc. allein hat dazu hinreichen können; und es hat noch etwas mehr dazu gehört, so viele verschiedene einzelne Willen zu einigen und zu lenken. Und das haben auch die alten Völker und Menschen immer geglaubt. Livius erzählt in seiner Nachricht von dem Ursprung des Römischen Reichs: Numa habe die Furcht der Götter als eine der ersten Notwendigkeiten in dem Herzen des Volkes angesehen; und Plutarch sagt gradezu: »daß es eher möglich sei eine Stadt in der Luft, als einen Staat ohne Religion zu gründen.«

Also die ersten Erfinder und Knüpfer der bürgerlichen Bande haben die Menschen nicht betrogen; sondern sie waren die Väter und Wohltäter ihres Geschlechts, und sie sind es noch bis auf diesen Tag. Und, wenn ihre Wohltat oft gemißbraucht worden ist; so ist das nicht gut und nicht der Wohltat Schuld, und sie hört darum nicht auf eine Wohltat zu sein. Die Menschen können dieser Wohltat nicht entraten, und können sie nicht genug erkennen, und nicht besorgt genug sein, sie zu erhalten und auf die Nachkommen fortzupflanzen.

Und nun. – Nun soll man freilich dem Menschen die Augen nicht zudrücken; nun mag man ihm freilich bescheidentlich sagen und kundtun: daß er nicht für die andern sondern um seinetwillen dasei etc. Aber, wer ohne Rückhalt und Einschränkung »Menschenfreiheit« verkündigt, und unbedingt »die Menschenrechte« predigt; der – seine Absicht sei welche sie wolle, wer will jemand die bestreiten – aber der rüttelt an jenen wohltätigen, so weislich und mühsam geknüpften und unentbehrlichen Banden; gräbt den Eigendünkel, und Selbstwillen etc. wieder aus dem Verborgenen hervor; der verstört überdas im Menschen die schönen Gefühle von Liebe, Glauben und Vertrauen; nimmt ihm das Herz aus dem Leibe, und macht ihn zu einer dürren selbstklugen Hirnschädel ohne Freude für sich und andre! – Und das Beste, was der Mensch auf Erden hat; der letzte Trost, der ihm, wenn er sich von seinem Regenten gedrückt glaubt oder gedrückt ist, übrigbleibt, und der »mit einem Regenten der nicht drücke und alles wiedergutmachen werde«, sein Herz beruhigt und tröstet – auch der soll ihm genommen werden! –

Heißt das die Menschen lieben? – Ich bitte. Ist das bieder und gut? – Und ist es nicht biederer und besser: unbedingt Gehorsam und Ordnung, und Liebe, und Glauben, und Vertrauen auf Gott und Menschen zu predigen? –[437] Aber soll denn Liebe, Glauben und Vertrauen ewig lieben glauben und vertrauen, damit sie ewig betrogen und gemißbraucht werden können? – Sollen denn viele sich ihrer Rechte begeben, damit einer oder einige ungestraft Gewalt und Unrecht üben können?

Das sei ferne! – Betrogene Liebe ist wie Menschenblut; sie schreiet aufwärts um Rache. Nein! Recht muß Recht sein und Recht bleiben. Ich streite nicht wider sondern für das Volk – und wo dem Kleinen Unrecht und Gewalt geschehen soll, da begehre ich nicht zu heißen der Sohn der Tochter Pharao, und will viel lieber Ungemach leiden mit meinen Brüdern.

Die Könige und Regenten sind den Menschen zum Guten gegeben und nicht zum Bösen. Sie sollen nicht Unrecht, sondern Recht und Gleich tun, und wissen daß sie auch einen Herrn im Himmel haben. Der hat sie über die andern gesetzt um der andern willen, und daß den andern durch ihre Hand Barmherzigkeit geschehe. Und wie die Millionen oder die Tausende, die von ihnen ihr Maß häuslicher Ruhe und zeitlichen Glücks erwarten, ihnen gehorsam sein und Glauben und Vertrauen haben müssen: so müssen sie den Tausenden das Maß mit beiden Händen voll drücken und rütteln und sie glücklich machen. Und das ist noch nicht alles.

Wenn ein König in seiner Herrlichkeit mitten unter seinem Volk auf seinem Thron sitzet; so sitzet er da: um, außer dem Glück der Erde, auch das Glück des Himmels zu spenden; so sitzt er da: um, als ein heiliger Künstler, durch lauter wohltätige, lauter milde und edle, lauter große und gute Handlungen GOTT zu konterfeien, und die Menschen nach IHM hungrig und durstig zu machen.

Das sollen die Könige und Regenten! Dazu sind sie berufen, und dazu sind den ersten Königen die Krone und der Szepter gegeben worden. – Und darum lieben auch wir Menschen von Natur dies Geräte, und erwarten von dem, der es an sich trägt, nichts als Gutes; und mögen von ihm nichts Böses hören. Wir Menschen sind Kinder, und so mußte der liebe Gott mit uns wie mit Kindern umgehen, und uns heimlich und hinter unsern eignen Rücken glücklich machen. Und dazu bedurfte es Einrichtungen, und wir fühlen wohl, daß diese Einrichtungen so rein sein müssen, wie der ist der sie gemacht hat.

Ihr Könige, und ihr Regenten! – Euer Stuhl steht in der Welt von Gottes wegen. Und wer darauf sitzt soll groß und unüberwindlich[438] sein, aber mit und durch Recht und Wahrheit! Die allein machen groß, und die allein sind unüberwindlich.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 431-439.
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