Über den allgemeinen Eifer der Menschen für Religion und religiose Handlungen

[536] Alle Völker, wie wir in Asien gesehen haben und in allen Weltteilen sehen können, haben, und hatten je und je, eine große Vorliebe, Anhänglichkeit, Achtung, Andacht, Ehrfurcht[536] etc. für die Religion, ein jedes für die seine. Diese Ehrfurcht ist gewöhnlich blind, doch gehört das nicht notwendig zu ihrer Natur; das aber gehört dazu, daß sie ihren Gegenstand als etwas Höheres, außer ihrem Bereich und Begriffen Liegendes, ansiehet. – Was sollte es mit dieser allgemeinen Ehrfurcht wohl eigentlich für eine Bewandtnis haben? Woher ist sie, und wie ist sie in die Menschen und Völker gekommen?

Abwärts, oder: wie diese Ehrfurcht, wenn sie einmal unter den Menschen gang und gäbe geworden und eingeführt war, auf die folgenden Geschlechter fortgehe? ist die Antwort so schwer nicht. Der Vater und der Herr hatten und bezeigten diese Ehrfurcht, so wird sie der Sohn und der Knecht auch wohl haben und bezeigen. Bergab läuft das Wasser leicht, und findet von selbst seinen Weg; aber bergauf kommt man endlich an einen Punkt, welcher der höchste ist, und da kann das Wasser nicht gelaufen kommen, sondern muß entspringen. Ebenso kommt man aufwärts bei unsrer Frage auch endlich an einen Mann, der die religiöse Ehrfurcht hatte, ohne das Beispiel eines Vaters oder eines Herrn vor sich zu haben; – und wie kam sie dem?

»Wie alle Ehrfurcht kam«, wird die Philosophie antworten. »Die Menschen haben immer nützlichen Erfindungen Aufmerksamkeit und Achtung bewiesen, wie hätten sie denn bei der nützlichsten von allen eine Ausnahme machen sollen?«

Mag wohl sein; aber so und damit läßt sich unsre Frage noch nicht abspeisen. Die Achtung für eine nützliche Erfindung, und die Anhänglichkeit und Ehrfurcht für die Religion sind etwas verschiedener Art und Natur, und die Fälle sind selten, wo sich ein ganzes Geschlecht oder ein ganzes Volk für einen Sextanten oder Dollondschen Tubus hätte sengen und brennen oder gar ausrotten lassen. Auch müßte der Nutze der Erfindung sehr nach Sinn, und sehr in die Augen fallend sein, wenn die Achtung nur einigermaßen allgemein werden sollte.

»Ja, die Menschen sind von Natur abergläubisch, und nichts blendet und rührt sie so leicht und so tief, als Religion und religiose Handlungen, Opfern und dergleichen.«

Freilich müssen die Menschen wohl eine Disposition haben von Religion und religiosen Handlungen gerührt zu werden, denn die Tiere werden nicht davon gerührt; sie mögen wohl gar in sich, ohne daß sie es selbst recht verstehen oder wissen, die Notwendigkeit und Möglichkeit von beiden fühlen. Aber von[537] Aberglauben dürfen wir hier noch nicht reden. – Denn liefe das Wasser ja schon; und wir fragen: wie es zum Laufen gekommen sei.

Es ist eine tiefere Frage, als mancher wohl denkt, wie der erste Opferer zu der Idee des Opferns gekommen; und es möchte sich bei einer nähern Untersuchung und Beherzigung vielleicht ergeben, daß es überhaupt keine menschliche Erfindung sei. Aber wir wollen es der Philosophie einmal zugeben, um desto handgreiflicher zu sehen, ob ein durch die ganze Welt eingeführter und sechstausend Jahre bestehender Gebrauch, und ob die allgemeine Ehrfurcht, die wir noch nach sechstausend Jahren bei allen Völkern dafür antreffen, sich aus einem solchen menschlichen Einfalle, Erfindung und Grille herleiten und erklären lasse.

Es soll also ein Mensch, bloß aus sich selbst, auf die Idee des Opferns verfallen, und zwar wollen wir ihn auf eine ganz billige und honette Art darauf verfallen lassen. Wir nehmen an, daß ein Mann mit einem warmen und dankbaren Herzen zwischen den Rippen, der nie eine Wohltat annehmen und genießen konnte und nicht annahm und genoß, ohne vorher den Wohltäter aufgesucht und ihm die Hand gedrückt zu haben – daß der, unter dem Sternhimmel oder in sei nem Blumengarten, neben seiner Wiege oder zwischen seinen Saaten, kurz bei dem Anblick der unzähligen Wohltaten Himmels und der Erden, sich nach dem Wohltäter umgesehen, und als er keinen finden konnte und die Wohltaten immer neu zuströmten, einmal übergeflossen sei und mit seinem Herzen nicht zu bleiben gewußt habe; wir nehmen an, daß er, um sich in dieser Verlegenheit zu helfen und seines Dankes loszuwerden, einen sonderlichen Einfall gehabt, dem unbekannten Wohltäter, der doch am Ende irgendwo sein mußte, einen Altar gebaut, und ihm, sehe er's oder sehe er's nicht, sein bestes Lamm daraufgelegt oder darauf verbrannt habe. Was wird nun daraus werden? – Nicht viel.

Sein Sohn, und einige empfindsame Nachbarn würden etwa dies Opfern recht artig gefunden, und es alle, gleich und die ersten Wochen, nachgemacht haben, wie die Leute zu einer gewissen Zeit die empfindsamen Reisen artig fanden und sich alle eine Yoricksche Dose anschafften; aber es würde nicht lange gewährt haben, so wäre dies Opfern alt geworden, und, wie die Dose, bei ihnen wieder aus der Mode gekommen. Die andern undankbaren oder unempfindsamen Zeitgenossen aber hätten den Mann gar nicht verstanden, und über ihn und seinen Altar gelacht; und,[538] zehn gegen eins, er selbst wäre des Dinges müde geworden, oder er hätte anders müssen gebaut sein als andre Menschen. Man gratuliert wohl seinem Wohltäter auf frischer Tat zum Geburtstag, Namenstag und zu Neujahr etc.; aber nach und nach kommen die Briefe sparsamer, und allendlich bleiben sie gar aus.

Und von mitteilen, einprägen und in Gang bringen religioser Andacht und Ehrfurcht bei den Zeitgenossen, ist hier keine Ahndung, und gar die Rede nicht. Für wen hätten sie diese Ehrfurcht auch haben sollen? Für den, der opferte? – Der war ja ihresgleichen, der seine Empfindung auf seine Art ausdrückte, und er tat nichts, als was sie alle nachtun konnten, so viel sie Lust hatten. Für den, dem geopfert ward? – Aber, wenn sie von dem auch einen Begriff hatten; so wußten sie ja nicht, und konnten auf keine Weise wissen, aus keinem Umstand schließen, daß der bei diesem Altar und Opfer mehr gegenwärtig sei, als an einem jeden andern Ort. Und der Opferer selbst wußte es ebensowenig, und konnte es ebensowenig wissen.

Was nun bei diesem Opfer gilt, das gilt bei allen menschlichen Erfindungen, die nur ein Ausdruck der Empfindung und Gesinnung sind; und gilt in dem Maße mehr, als die ausgedrückte Gesinnung edler, d.i. gegen den Strom und wider und zur Bändigung der sinnlichen Triebe und Leidenschaften der Menschen gemeint ist. Denn die Menschen, die mit diesen Trieben und Leidenschaften behaftet sind, werden, wenn sie sonst keine andern Ursachen und Veranlassung haben, sich auf dergleichen wohl nicht einlassen, und noch viel weniger mit Eifer und Ehrfurcht dafür erfüllt werden.

Auf die Weise bringen wir den Altar in der Welt nicht zum Stehen, und auf die Weise können wir von der allgemeinen Ehrfurcht keine Rede und Antwort geben. Wenn also diese Ehrfurcht allgemein in der Welt ist – und das ist sie ja – und wenn der Altar in der Welt fest steht – und das tut er ja –; so muß es mit dem Ursprung der einen und des andern eine andre Bewandtnis haben. Und es bleibt wohl nichts übrig, als daß bei dem Gottesdienst, der diese Andacht und Ehrfurcht mitteilte und einprägte, etwas Außerordentliches und über das Wissen und Können derer, denen er sie mitteilte und einprägte, Erhabenes, stattgefunden habe. Sie mußten etwas gewahr werden, das sie nicht begreifen, und nur ehrerbietig fürchten und anbeten konnten, und ihren Kindern und Nachkommen als unbegreiflich und anbetungswürdig erzählten und überlieferten.[539]

»Aber«, erwidert die Philosophie, »wenn man das auch zugeben wollte, nun so war dieses Unbegreifliche Betrug, und der Opferer ein Betrüger, der den Zuschauern Ehrfurcht einjagen wollte, um sie zu seinen Absichten zu mißbrauchen.«

Allerdings konnte das sein. Das ist, überhaupt und an sich, nicht allein möglich, sondern es ist auch leider mehr als zu oft würklich gewesen. Dieser Betrüger konnte auch noch dazu der erste Betrüger sein; aber der erste Opferer konnte er nicht sein, auch wußte er ja auch schon von einem Gottesdienst und von einer Ehrfurcht, die dadurch eingeprägt werden konnte. Der Mißbrauch, sollte man denken, setzt den rechten Gebrauch voraus, der Aberglauben den Glauben, die Abweichung von der Regel die Regel etc.

Das Wahre und Gute ist notwendig das erste, und das Böse und die Lüge kann nur das zweite sein. Der erste Opferer mußte schon geopfert und nicht betrogen haben, und denn konnte der Betrüger erst kommen und betrügen wollen.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 536-540.
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