Das letzte Kapitel aus dem unvergesslichen und vergessenen Werk des Grosskanzlers Franz Baco v. Verulam: De Dignitate et Augmentis Scientiarum

[552] Nachdem denn mein Schifflein, so einmastig es auch ist, die alte und neue Welt der Wissenschaften umfahren hat; so kann ich nun zu Anker und an Land gehen. Doch ist noch die heilige und inspirierte Theologie übrig. Wenn wir aber auch die noch abhandeln wollten, so müßten wir das Schifflein der menschlichen Vernunft verlassen, und in das Schiff der Kirche treten, die allein die göttliche Nadel hat, die Fahrt zu richten. Denn die philosophischen Sterne, die uns bisher sonderlich geleuchtet haben,[552] reichen nicht mehr zu, und wir sollten also wohl lieber vor der Theologie stillschweigend vorübergehen. Wir lassen deswegen auch die eigentlichen Ein- und Abteilungen derselben weg; doch wollen wir auch auf ihren Altar nach unserer Wenigkeit einige Gaben hinlegen, als Gelübde und Wünsche. Und wir lassen es um so mehr dabei bewenden, da wir in dem Gebiet der Theologie durchaus keine Landschaft oder Gegend finden, die ganz wüste oder ungebaut wäre; so groß ist der Fleiß der Menschen gewesen, Weizen oder Unkraut zu säen.

Wir schlagen denn drei Anhänge zur Theologie vor, die nicht von dem, was durch die Theologie bestimmt und ins reine gebracht ist oder gebracht werden soll, sondern nur von der Art und Weise: ins reine zu bringen, handeln. Auch werden wir nicht bei jenen Traktaten (wie wir bei den übrigen pflegten) weder Exempel beifügen, noch Vorschriften geben. Das überlassen wir den Theologen. Denn, was wir darbringen, ist, wie wir gesagt haben, nur als Wünsche anzusehen.

1) Die Prärogative Gottes begreift den ganzen Menschen, und geht nicht weniger auf die menschliche Vernunft als auf den menschlichen Willen: daß nämlich der Mensch sich und alle dem Seinen absage, und sich Gott hingebe. Wie wir also dem göttlichen Gesetz gehorchen müssen, obgleich der Wille widerstrebt: so müssen wir dem Worte Gottes glauben, obgleich die Vernunft widerstrebt. Denn, wenn wir nur die Dinge glauben, die unsrer Vernunft gemäß sind, so vertrauen wir nicht dem Urheber, sondern nur den Sachen, was wir auch verdächtigen Zeugen nicht zu versagen pflegen. Aber jener Glaube, der dem Abraham zur Gerechtigkeit gerechnet ward, betraf etwas, das der Sarah lächerlich dünkte, die in diesem Stück auf gewisse Weise ein Bild der natürlichen Vernunft war. Je ungereimter und unglaublicher also irgendein göttliches Geheimnis ist, desto mehr Ehre geschieht Gott durch die Annahme desselben, und der Sieg des Glaubens wird desto edler. Ebenso bei Sündern; je mehr ihr Gewissen ihnen Vorwürfe macht und sie anklagt, eine desto größere Ehre tun sie Gott, wenn sie darum doch und nichtsdestoweniger Vertrauen und Hoffnung ihrer Seligkeit in seine Barmherzigkeit setzen. Alles Verzweifeln aber ist Gott eine Schmach. Ja, glauben ist an sich, die Sache genau angesehen, etwas Würdigers als wissen. Denn im Wissen leidet der menschliche Verstand von dem sinnlichen Eindruck, der von den körperlichen Dingen herrührt; im Glauben aber leidet die Seele von der Seele, die ein[553] würdiger Agens ist. Anders verhält die Sache sich in dem Stande der Herrlichkeit: dann wird der Glaube aufhören, und wir werden erkennen, wie wir erkannt sind.

Wir setzen also zum Grunde: daß die heilige Theologie nicht aus der Vernunft, sondern aus dem Wort und den Aussprüchen Gottes geschöpft werden müßte. Denn es stehet wohl geschrieben: die Himmel verkündigen die Ehre Gottes: aber man findet nirgends geschrieben: die Himmel verkündigen den Willen Gottes. Von diesem heißt es: nach dem Gesetz und den Zeugnissen; wenn sie nicht tun nach jenem Wort etc. Und dies, was von dem Ursprung der Theologie gesagt worden, gilt nicht allein bei jenen großen Geheimnissen von der Gottheit, der Schöpfung, der Erlösung; sondern es bezieht sich auch auf die vollkommnere Auslegung des moralischen Gesetzes: Liebet eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen etc. damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel, der da regnen läßt über Gerechte und Ungerechte: von welchen Worten mit Recht gesagt werden kann: die Stimme war keines Menschen Stimme. Denn sie sind eine Stimme, die über das Licht der Natur ist. Wir sehen, daß die heidnischen Poeten sogar, sonderlich im hohen Flug, nicht selten auf die Gesetze und moralische Lehren (die doch viel nachsehender und freier als die göttlichen Gesetze sind) Ausfälle tun, als ob diese der natürlichen Freiheit auf gewisse Weise hämisch und schadenfroh entgegen wären.


– Et quod natura remittit,

Invida iura negant. –


So sagte der Indier Dendanus zu den Boten des Alexanders: er habe zwar etwas von dem Namen des Pythagoras und anderer Weisen aus Griechenland gehört, glaube auch, daß sie große Leute gewesen wären; sie hätten aber doch auch ihre Fehler gehabt, unter andern eine zu große Anhänglichkeit und Achtung für ein gewisses phantastisches Ding, das sie Gesetz und Sitte genannt hätten. Es ist denn außer allem Zweifel, daß ein großer Teil des moralischen Gesetzes höher ist, als das Licht der Natur reichen kann. Wenn indes gesagt wird, daß die Menschen auch aus dem Licht und Gesetz der Natur, einige Begriffe von Tugend, Laster, Gerechtigkeit, Unrecht, Gut, Böse etc. hätten; so ist das allerdings wahr. Doch muß man merken, daß Licht der Natur in einer zwiefachen Bedeutung genommen werde. Erstlich, insoweit es aus den Sinnen, der Induktion, aus Vernunft und Schlüssen entsteht,[554] nach den Gesetzen des Himmels und der Erde. Zweitens, inwieweit es dem menschlichen Gemüt durch eine innerliche Ahndung leuchtet, nach dem Gesetz des Gewissens, das noch ein Funke und gleichsam ein Überbleibsel der alten und ursprünglichen Reinigkeit ist. In dieser letzten Bedeutung hauptsächlich ist die Seele einiges Lichts teilhaftig, die Vollkommenheit des moralischen Gesetzes einzusehen und zu schätzen; indes ist dies Licht nicht völlig klar, sondern von der Art, daß es mehr Laster und Vergehungen zeihet, als über die Pflichten vollständig unterrichtet. Die Religion hängt also sowohl in Hinsicht der Moral als der Geheimnisse, von der göttlichen Offenbarung ab.

Bei dem allen aber findet doch der Gebrauch der menschlichen Vernunft in geistlichen Dingen auf mehr als eine Art statt und hat ein weites Feld. Denn es ist nicht ohne Ursache, daß die Apostel die Religion einen vernünftigen Gottesdienst nennen. Man denke nur an die Zeremonien und Bilder des Alten Testaments. Die waren vernünftig und bedeutend, und sehr verschieden von den Zeremonien der Abgötter und Zauberer, die gleichsam taub und stumm waren, meistenteils nichts lehrten, nicht einmal auf etwas hindeuteten. Sonderlich aber ragt der christliche Glaube, wie in allem, so auch eben darin hervor, daß er, im Gebrauch der Vernunft und des Disputierens (das eine Tochter der Vernunft ist) zwischen den Gesetzen der Heiden und des Mahomeds, die zu beiden Seiten fehlen und abweichen, die goldene Mittelstraße hält. Die Religion der Heiden hat nämlich gar nichts Festes in Glauben und Bekenntnis; in der Religion des Mahomeds ist hingegen alles Disputieren verboten, so daß die eine wie ein vager buntscheckigter Irrtum, und die andere wie ein arglistiger und schlauer Betrug aussieht, da indes der heilige christliche Glaube den Gebrauch der Vernunft und die Disputation (aber nach gehörigen Schranken) sowohl erlaubt als verwirft.

Der Gebrauch der menschlichen Vernunft in Sachen, die Religion betreffend, ist gedoppelt; einer, in Erklärung des Geheimnisses, und der andre, in den Folgerungen, die daraus hergeleitet werden. Was die Erklärung der Geheimnisse anlangt, so sehen wir, daß Gott so gnädig ist, sich zu der Schwachheit unsrer Fassungskraft herabzulassen; indem er nämlich seine Geheimnisse so auslegt, daß sie füglich von uns gefaßt werden können, indem er seine Offenbarungen gleichsam in die Konzepte und Begriffe unsrer Vernunft einimpfet, und seine Inspirations so zur Eröffnung[555] unsres Verstandes einrichtet, wie die Figur des Schlüssels nach der Figur des Schlosses eingerichtet wird. Nur müssen wir es in diesem Stück an uns selbst nicht fehlen lassen. Denn da Gott sich selbst des Dienstes unsrer Vernunft in seinen Erleuchtungen bedient; so müssen wir sie auch, auf alle Weise und nach allen Seiten hin, um sich sehen und sich umtun lassen, damit wir dadurch den Geheimnissen desto bessere Aufnahme und Eingang bereiten. Nur muß dabei das Gemüt so viel möglich nach der Größe der Geheimnisse erweitert, und das Geheimnis nicht nach der Kleinheit des Gemüts eingeengt werden.

Was die Folgerungen anlangt; so müssen wir wissen, daß uns (in Hinsicht der Geheimnisse) kein erster und absoluter, sondern nur ein untergeordneter und relativer Gebrauch der Vernunft und des Schließens zustehe. Denn, wenn die Artikel und Grundlehren der Religion ihres Orts gesetzt worden, so daß sie von aller Untersuchung der Vernunft ganz und gar ausgenommen sind, alsdann ist es uns allererst erlaubt, aus ihnen, nach ihrer Analogie, Folgerungen zu ziehen und herzuleiten. In natürlichen Dingen ist dies nicht so. Denn da werden auch die Prinzipien selbst der Untersuchung unterworfen; durch Induktion nämlich, obwohl auf keine Weise durch Schlüsse. Und ebendiese Prinzipien enthalten nichts, das der Vernunft nicht gemäß wäre, so daß hier sowohl die ersten als die mittlern Sätze aus einer und derselben Quelle hergeleitet werden. In der Religion aber sind einmal die ersten Sätze selbständig und für sich bestehend, und denn werden sie auch nicht von jener Vernunft regiert, welche die Folgesätze herleitet. Indes ist dies nicht allein der Fall in der Religion, sondern auch in andern Wissenschaften, sowohl wichtigern als geringern, wo nämlich die ersten Sätze willkürlich angenommene, nicht selbststehende sind: und auch bei diesen kann der Gebrauch der Vernunft nicht absolut sein. Wir sehen bei Spielen, z.E. beim Schachspiel oder dergleichen, daß die ersten Vorschriften und Gesetze des Spiels bloß positiv und willkürlich gemacht sind; die müssen angenommen werden und wird auf keine Weise darüber gestritten; daß man aber gewinne und geschickt spiele, das ist künstlich und vernünftig; auf ebendie Weise hat es sich auch bei den menschlichen Gesetzen: hier sind auch nicht wenige sogenannte Maximen, das ist, angenommene Rechtsgrundsätze, die mehr auf Autorität als Vernunft gegründet, und über die nicht gestritten wird: was aber nun gerecht und das Gerechteste sei, nicht absolut, sondern relativ (das ist[556] nach der Analogie jener Maximen) das ist allererst vernünftig, und eröffnet ein weites Feld zum Zanken und Streiten. Der Art also ist die Vernunft zweiter Ordnung, die in der heiligen Theologie, die nämlich auf die Aussprache Gottes gegründet ist, stattfindet.

Wie aber der Gebrauch der menschlichen Vernunft in göttlichen Dingen gedoppelt ist, so ist auch bei diesem Gebrauch selbst ein gedoppelter Abweg, einer: wenn in die Art und Weise des Geheimnisses über die Gebühr eingegangen und fürwitzig geforscht; der andre: wenn den Folgerungen ein ebenso großes Ansehen als den Prinzipien selbst beigelegt wird. Denn das wäre ein guter Schüler des Nikodemus, der immer fortfragen wollte, wie ein Mensch könne geboren werden, wenn er alt ist? Und der kein guter Schüler Pauli, der nicht von Zeit zu Zeit in seinen Brief mit einfließen ließe: Ich, nicht der Herr; oder: nach meiner Meinung; denn so gebührt's sich, bei den meisten Folgerungen zu sprechen. Es scheint uns also eine heilsame und gar sehr nützliche Sache, wenn ein nüchterner und fleißiger Traktat abgefaßt würde, der, gleichsam als eine göttliche Dialektik, über den Gebrauch der menschlichen Vernunft in theologischen Dingen nützliche Vorschriften gäbe. Dieser Traktat sollte nämlich in Zukunft als eine Opiatmedizin dienen, die nicht allein die eitlen Spekulations der Schule einschläfre, sondern auch die Wut der Streitigkeiten, die etwa die Kirche beunruhigen möchten, in etwas mildere. Einen solchen Traktat setzen wir unter die fehlenden Dinge und nennen ihn Sophron, oder: von dem rechtmäßigen Gebrauch der menschlichen Vernunft in göttlichen Dingen.

2) Es ist für die Ruhe der Kirche sehr wichtig, daß der Bund der Christen, der in zwei Sätzen, die ein weniges voneinander verschieden zu sein scheinen: wer nicht mit uns ist, der ist wider uns; und: wer nicht wider uns ist, der ist mit uns; von dem Heiland vorgeschrieben ist, eigentlich und klar erklärt werde. Es erhellet aus diesen Sätzen offenbar, daß einige Artikel sind, die von jedem angenommen werden müssen, der nicht als außer dem Bunde angesehen werden will; andre aber, darin man anderer Meinung sein und doch zum Bund gehören kann. Die angenommenen Wahrzeichen der christlichen Gemeinschaft sind: Ein Glaube, Eine Taufe etc. Nicht: Eine Zeremonie, Eine Meinung. Wir sehen auch, daß der Rock des Heilands ungenähet gewesen ist; das Kleid der Kirche aber buntscheckigt. An der Ähre muß die Spreu von dem Weizen gesondert, aber das Unkraut auf dem[557] Acker nicht allerdings ausgeraufet werden. Als Moses einen Ägypter fand, der mit einem Israeliten zankte, sagte er nicht: »Warum zanket ihr?« sondern er zog das Schwert und tötete den Ägypter; als er aber zwei Israeliter fand, die miteinander zankten, und alle beide wohl schwerlich gleich viel Recht hatten, redete er sie gleichwohl so an: »Ihr seid Brüder, was zanket ihr?« Dies erwogen scheint es von großer Wichtigkeit und von großem Nutzen zu sein, daß bestimmt werde, was das für Punkte sind, welche die Menschen vom Körper der Kirche durchaus abscheiden und aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausstoßen, und inwieweit sie es tun. Sollte etwa einer und der andre meinen, daß dies schon längst geschehen sei, der wolle doch die Augen auftun und sehen, mit welcher Aufrichtigkeit und Mäßigung. Indes ist es sehr wahrscheinlich, daß wer von Friede spricht, jene Antwort des Jehu auf die Botschaft (Ist's Friede, Jehu?) davontragen werde: »Was gehet dich der Friede an? wende dich hinter mich«; denn den meisten liegt nicht der Friede, sondern die Parteisucht am Herzen. Bei dem allen hat es uns gut gedünkt, einen Traktat von den Graden der Einheit in der Stadt Gottes, als ein heilsam und nützliches Werk in die Rubrik der fehlenden Dinge zu setzen.

3) Da die Heilige Schrift für die Theologie von so großem Einfluß und Gewicht ist, so muß über die Auslegung und Erklärung derselben vor allen Dingen gehandelt werden. Und wir reden nun nicht von der Autorität sie auszulegen, die in Einstimmigkeit der Kirche steht, sondern von der Art und Weise sie auszulegen. Diese ist zwiefach; methodisch und frei. Denn jene göttlichen Wasser, die dem Brunnen Jakobs unendlich vorgehen, werden fast auf ähnliche Art und Weise geschöpft und mitgeteilt, wie die natürlichen Wasser aus den Brunnen geschöpft und mitgeteilt zu werden pflegen. Diese nämlich werden entweder aus dem Brunnen zuerst in Zisternen gesammlet, von wo sie durch mehrere Röhren zum Gebrauch füglich abgeleitet werden können, oder sie werden gleich in Gefäße geschüttet und so nach Bedürfnis gebraucht! Jene erste methodische Art hat uns endlich die Scholastische Theologie erzeugt, durch welches Lehrgebäude die Theologie in eine Kunst, gleichsam in eine Zisterne gesammlet ist; und sind daraus Axiomata und Sätze wie Bächlein nach allen Seiten abgeleitet worden. Aber bei der freien Art der Auslegung fallen zwei Abwege vor. Der eine von ihnen setzt in der Schrift eine solche Vollkommenheit voraus, daß auch alle[558] Philosophie aus ihrer Quelle hergeholt werden müsse, und eine jede andre Philosophie ein profanes und heidnisches Ding sei. Diese Ausgelassenheit hat vornehmlich in des Paracelsi Schule, wie auch bei einigen andern, festen Fuß gefaßt, ursprünglich aber schreibt sie sich von den Rabbinen und Kabbalisten her. Solche Leute erreichen aber nicht, was sie wollen; denn sie bringen, wie sie denken, der Schrift keine Ehre, sondern setzen sie herab und beflecken sie. Wer in dem Wort Gottes (von dem gesagt wird: Himmel und Erde werden vergehen, mein Wort aber wird nicht vergehen) den materiellen Himmel und die Erde sucht, der jagt vergänglichen Dingen unter ewigen vergeblich nach. Denn wie: die Theologie in der Philosophie suchen, ebensoviel ist, als wenn man die Lebendigen unter den Toten suchen wollte; so ist im Gegenteil: die Philosophie in der Theologie suchen, nichts anders als die Toten unter den Lebendigen suchen. Die andre Art der Auslegung (die wir für einen Abweg erklären) scheint beim ersten Anblick nüchtern und züchtig; aber sie entehrt doch die Schrift an sich selbst, und bringt der Kirche vielfältigen Nachteil. Sie besteht kurz und gut darin, wenn die Schriften, die göttlich inspiriert sind, auf ebendie Art, wie menschliche Schriften, erklärt werden. Man sollte aber bedenken, daß zwei Stücke, davon der Mensch als Mensch nichts weiß, vor Gott, dem Urheber der Schrift, bekannt und offenbar sind, nämlich die verborgenen Heimlichkeiten des Herzens und die Zeitfolgen. Weil nun die Aussprüche der Schrift der Art sind, daß sie dem Herzen geschrieben werden, und die Abwechselungen aller Jahrhunderte umfassen, mit einer ewigen und gewissen Vorwissenheit aller Ketzereien, Widersprüche und des ungleichen und veränderlichen Zustandes der Kirche, sowohl im allgemeinen als bei einzelnen Auserwählten; so müssen sie nicht bloß nach dem Umfang und dem entgegenkommenden Sinn des Orts, oder allein nach der Gelegenheit bei der die und jene Worte gesagt worden, oder ängstlich nach dem Zusammenhang der vorhergehenden und folgenden Worte, oder nach dem Hauptzweck des Spruchs; sondern sie müssen so ausgelegt werden, daß es einleuchte, daß sie nicht allein im Ganzen und zusammengefaßt, sondern zerteilt, auch in einzelnen Klauseln und Worten, unzählige Bächlein und Adern der Lehre, die einzelnen Teile der Kirche und Seelen der Gläubigen zu wässern, enthalten. Denn es ist sehr richtig und schön angemerkt worden, daß die Antworten unsers Heilandes auf nicht wenige von den Fragen, die ihm[559] vorgelegt wurden, nicht zu passen, sondern ganz ungereimt zur Sache scheinen. Und dies hat eine gedoppelte Ursache, die eine: daß er, da er die Gedanken derjenigen, die fragten, nicht aus den Worten, wie bei uns Menschen der Fall ist, sondern unmittelbar und aus sich selbst erkannte, auf ihre Gedanken und nicht auf die Worte geantwortet hat; die andere: daß er nicht bloß zu denen, die damals zugegen waren, geredet hat, sondern auch zu uns, die wir leben, und zu den Menschen aller Zeiten und Orten, denen das Evangelium noch würde geprediget werden. Und ebendies gilt auch bei andern Stellen der Schrift.

Dies also vorausgesetzt, kommen wir nun zu dem Traktat, der, wie wir dafürhalten, noch fehlet. Es sind freilich unter den theologischen Schriften Streitschriften genug und mehr als genug; die Hülle und Fülle von Theologie, die wir die positive genannt haben; loci communes; Spezialabhandlungen, Gewissensfälle, Predigten und dergleichen; endlich auch viele weitläuftige Kommentarien über die Bücher der Heiligen Schrift. Was wir aber desiderieren, ist das: eine kurze, gesunde und mit Urteil gemachte Sammlung von Anmerkungen und Beobachtungen über einzelne Texte der Heiligen Schrift, die nicht auf locos communes hinauslaufen, oder sich auf Streitigkeiten einlassen, oder in Kunstform zusammengefaßt werden, sondern die zerstreut, jede für sich, und natürlich sind. In bessern Predigten, die sich gewöhnlich vergreifen, findet sich bisweilen etwas dieser Art, aber es ist noch nicht in Bücher, die auf die Nachkommen fortgehen, zusammengesammlet worden. So wie der Wein, der beim ersten Treten von selbst abfließt, milder und lieblicher ist, als der durch die Kelter ausgepreßt wird, weil dieser schon etwas nach dem Kern und der Haut der Beeren schmeckt; ebenso sind die Lehren wohltätig und milde, die bei einem geringen Druck aus der Heiligen Schrift abfließen, und die Streitigkeiten und locos communes an ihren Ort gestellt sein lassen. Einen solchen Traktat nun nennen wir: Emanationen der Heiligen Schrift.

Und so glaube ich denn, so treu als ich nur gekonnt, die kleine Kugel der intellektuellen Welt dar gestellet zu haben, zugleich mit Bezeichnung und Beschreibung derer Teile, die ich durch den Fleiß und die Arbeiten der Menschen entweder nicht immer eingenommen oder nicht genug angebaut finde. Wenn ich nun hierin irgendwo von der Meinung der Alten abgegangen bin; so soll man wissen, daß es geschehen ist in der Absicht, etwas Besseres, und nicht etwas Neues und anderes zu geben. Denn[560] ich hätte weder mir selbst, noch der Sache, die ich unter Händen habe, Gerechtigkeit widerfahren lassen können, wenn es nicht mein ernster Wille gewesen wäre, zu den Erfindungen der andern hinzuzutun, soviel in meinen Kräften war; aber zugleich ebensosehr mein ernster Wunsch, daß meine Erfindungen von andern in Zukunft übertroffen werden möchten. Wie billig ich aber in dieser Sache zu Werk gegangen bin, erhellet allein daraus, daß ich meine Meinungen bloß und wehrlos hingestellt, und nicht gesucht habe, durch streitbare Widerlegungen fremder Freiheit in den Weg zu treten. Denn ich habe die Hoffnung, daß bei dem, was ich recht gesetzt habe, wenn auch beim ersten Lesen ein Skrupel oder Einwurf gemacht werden sollte, doch beim wiederholten Lesen die Antwort sich von selbst ergeben werde; bei dem aber, wo ich etwa geirrt hätte, bin ich mir bewußt, daß ich der Wahrheit keine Gewalt getan habe durch zänkische Argumente, die eigentlich nur dazu dienen, den Irrtümern Ansehen zu verschaffen und dem Rechterfundenen Abbruch zu tun; denn zweifeln bringt dem Irrtum Ehre, und der Wahrheit Nackenschläge. Indes fällt mir jene Antwort desThemistokles ein; als ein gewisser Gesandte aus einer kleinen Stadt viele und große Worte machte. Freund, sagte Themistokles, deine Worte verlangen (desiderant) eine große Republik. Ich glaube allerdings, daß mir mit Recht vorgeworfen werden könne, daß meine Worte ein Jahrhundert verlangen, vielleicht ein ganzes Jahrhundert zum Beweisen, viele Jahrhunderte aber zum Vollenden. Weil es aber doch bei allen großen und den größten Dingen auf ihre Anfänge ankommt; so muß ich mich damit begnügen, den Nachkommen und dem unsterblichen Gott gesäet zu haben, und ich flehe ihn durch den, der sein Sohn und unser Heiland ist, demütig an, daß er diese und ähnliche Opfer des menschlichen Verstandes, die mit Religion, wie mit Salz, besprengt und seiner Ehre gewidmet sind, nach seiner Barmherzigkeit annehmen wolle.[561]

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 552-562.
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