Vorrede zu der Übersetzung von Fénelons Werken religiosen Inhalts

[541] Der Mensch ist für eine freie Existenz gemacht, und sein innerstes Wesen sehnet sich nach dem Vollkommnen, Ewigen und Unendlichen, als seinem Ursprung und Ziel. Er ist hier aber an das Unvollkommne gebunden, an Zeit und Ort; und wird dadurch gehindert und gehalten, und von dem väterlichen Boden getrennt.

Und darum hat er hier keine Ruhe, wendet und mühet sich hin und her, sinnet und sorgt, und ist in beständiger Bewegung[541] zu suchen und zu haben, was ihm fehlt und ihm in dunkler Ahndung vorschwebt.

Da er sich aber nicht anders, als in und mit seinem Hindernis, bewegen kann; so ist sein Mühen umsonst und vergebens, was er auch tue und welchen Fleiß er auch anwende. Er kann, rundum in seinem Zirkel, Entdeckungen machen, viel und mancherlei finden, Schönes und Nützliches, Scharfsinniges und Tiefsinniges; aber zu dem Vollkommnen kann er, sich selbst gelassen, nicht kommen; denn er bringt, wie gesagt, gerade was ihm im Wege ist und hindert in alles mit, was er beginnet und tut, und kann nicht über sich selbst hinaus.

Soll er zu seinem Ziel kommen; so muß für ihn ein Weg einer andern Art sein, wo das Alte vergeht und alles neu wird, wo das Hindernis, das ihm im Wege ist und hindert und das er selbst nicht abtun kann, durch eine fremde Hand abgetan; und er, nicht sowohl belehrt, als verwandelt und über sich und diese Welt gehoben und so der vollkommnen Natur teilhaftig wird.

Und diesen Weg, der das Geheimnis des Christentums ist, lästern und verbessern die Menschen, und wollen lieber auf ihrem Bauch kriechen und Staub essen.

Es ist aber darum nicht weniger groß und heilig, und darum nicht weniger wert, daß wer sich des Odems in seiner Nasen bewußt ist alles für nichts achte und Vater und Mutter verlasse, um hineinzuschauen und sein teilhaftig zu werden.

Wenn nun gleich hier mit »Weisheit« und »Kunst« nichts ausgerichtet ist, und die Gabe Gottes nicht um Geld und um keine zeitliche Gesinnung verkauft wird, und der Mensch nichts nehmen kann, es werde ihm denn vom Himmel gegeben; so kann er sich doch, durch eine gewisse fortgesetzte Behandlung und Richtung Seiner-Selbst, empfänglicher machen, und der fremden Hand den Weg bereiten.

Von diesem Wegbereiten und Empfänglichmachen etc. handelt der Erzbischof Fénelon in den hier übersetzten Werken, und teilt darin, nicht als ein Klügling und Urteiler des Weges und als Menschen zu gefallen, sondern als einer, der die Sache versucht hat und dem an seiner und anderer Menschen Seligkeit gelegen ist, seine Erfahrungen und seinen Rat einfältig und unbefangen mit. Und es kann nicht fehlen, ob er wohl eigentlich für die Christen seiner Konfession geschrieben hat und die der andern, in einigen Punkten, verschiedener Meinung sind, daß nicht alle, denen ein Kampf verordnet ist, und die eine Hoffnung und[542] einen Jesum Christum haben, ihn gern und mit Nutzen lesen werden.

Und vielleicht werden selbst von den Nicht-Christen und Un-Christen, einige durch die Milde und den Ernst dieses liebenswürdigen Schriftstellers veranlaßt, ihren Weg noch einmal in Überlegung zu nehmen, sosehr sie auch glauben, desselben gewiß zu sein.

Die Geschichte des griechischen Jünglings ist bekannt: der kam, auch seines Weges und seines Glücks gewiß, das Haar nach dem Sinn der Zeit mit Rosen bekränzt in den Hörsaal eines Weisen, der von dem unsterblichen Geist, der im Menschen ist, und von seinem wahren Glück redete. Und als er ihm eine Zeitlang zugehöret hatte, riß er heimlich und verstohlen eine Rose nach der andern herunter, und warf sie an die Erde.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 541-543.
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