[O Schlaf, du bist so süß, so süß!]

[17] O Schlaf, du bist so süß, so süß!

Geliebt von Pol zu Pol!

Maria! dir sei Preis und Dank,

Daß Schlaf auf meine Wimpern sank!

Du gabst ihn mir ja wohl!


Mir träumte: Alle Eimer rings37

Auf des Verdeckes Feld,

Sie wären kühlen Taues voll.

Wach werd' ich – Regen fällt!


Die Lippen naß, der Gaumen naß,

Die Kleider – wahr ist's doch!

Im Traume trank ich sicherlich,

Und trinke, trinke noch.


Ich geh' und fühl' die Glieder kaum!

Heb' mich so leicht empor!

Bin ich im Schlaf gestorben denn

Und in der Sel'gen Chor?


Und einen Wind drauf hört' ich wehn,38

Doch ferne blieb sein Brausen!

Die Raa'n und Taue regen sich,

Die dürren Segel sausen.


Lebendig wird die obre Luft,

Und Feuerflaggen zischen.

Sie zischen auf und ab, voll Graus,

Und aus und ein, und ein und aus;

Die Sterne glühn dazwischen.


Und näher drauf erbraust der Wind;

Wie Binsen seufzen welk

Die Segel; Regen strömt herab

Aus donnerndem Gewölk.


Geborsten klafft's mit weitem Spalt,

Des Mondes finstrer Sitz;

[18] Und wie ein Fluß in Tales Schoß

Vom Felsen stürzt, fällt zackenlos

Ein Glutstrom Blitz auf Blitz.


Nicht kommt der laute Wind ans Schiff!39

Doch vorwärts geht es immer;

Die toten Menschen stöhnen dumpf

Bei des Blitzes fahlem Schimmer.


Sie stöhnen, regen, heben sich,

Doch blicken, reden nicht!

Wie seltsam, Tote leben sehn,

Selbst wär's ein Traumgesicht!


Und weiter zieht das Schiff, bewegt

Von keines Windes Kraft;

Die Mannschaft klimmt im Takelwerk,

Treibt, was sie sonst geschafft.

Sie regen gleich Maschinen sich;

O, schrecklich, schauderhaft!


Der Leib von meines Bruders Sohn,

Knie an Knie, stand neben mir dort;

Wir zogen beid' an einem Seil,

Doch sagt' er mir kein Wort. –«


›Ich fürcht' dich, alter Schiffsgesell! –‹40

»Gast, ruhig immerdar! –

Denn nicht Verdammter Seele nahm

Den Körper wieder ein; nur kam

Beglückter Geister Schar!


Beim Morgengraun sinkt schlaff ihr Arm;

Den Mast umringen sie;

Und von der Toten Lippen süß

Tönt Himmelsmelodie.


Die Töne ziehn zur Sonn' empor,

Die licht im Osten flammt;

Dann kehren langsam sie zurück

Bald einzeln, bald gesamt.


[19] Bald war es mir, als zwitscherte

Die Lerche auf dem Meer;

Dann glaubt' ich, alle Vögelein,

Die es nur gibt, so groß wie klein,

Sie sängen rings umher.


Jetzt klingt es süß wie Flötenlaut,

Jetzt wie Orchesterrauschen;

Jetzt ist es eines Engels Lied,

Dem selbst die Himmel lauschen.


Es schweigt; doch tönt das Segelwerk

Bis Mittag säuselnd nach,

Wie in dem laub'gen Junimond

Ein grasversteckter Bach,

Der die ganze Nacht dem schlafenden Wald

Ein Lied singt, selbst noch wach.


Und ruhig segelte das Schiff –

Kein Lüftchen trieb's im Lauf –

Bis Mittag, denn getrieben ward's,

Bewegt von unten auf.


Neun Faden tief wohl unterm Kiel41

Vom Schnee- und Nebelland

Folgt uns der Geist und treibt das Schiff

Mit unsichtbarer Hand;

Das Schiff steht still; bis Mittag nur

Säuselt die Leinewand!


Die Sonne, lotrecht überm Mast,

Schaut meerwärts ohne Regung;

Doch plötzlich rührt und regt sie sich

Mit zitternder Bewegung;

Schießt vorwärts, rückwärts unruhvoll

Mit zitternder Bewegung.


Dann plötzlich, wie ein scheuend Roß,

Prallt sie zur Seite wieder!

Das Blut schoß mir ins Angesicht:

In Ohnmacht sank ich nieder.


[20] Ich weiß es nicht, wie lang ich dort

Gelegen ohne Leben;

Doch, als noch Dunkel mich umzog,

Da hört' ich in den Lüften hoch

Zwei Stimmen sich erheben.


Sagt eine: Sprich, bei Christi Blut,42

Ist dies der Schiffsgenoß?

Harmlosen Vogels Herzblut trank

Sein grausam Pfeilgeschoß.


Der Geist im Schnee- und Nebelland

War hold dem Albatros,

Und auch der Vogel liebte den,

Der grausam ihn erschoß.


Die andre Stimm' ist sanft und süß,

Wie Honigtau so süß;

Sie spricht: Der Mann tat Buße schon

Und büßt noch mehr gewiß!


Quelle:
Coleridge, S[amuel] T[aylor]: Der alte Matrose. München 1925, S. 17-21.
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