4.

[282] An der Maximiliansbrücke angekommen, schwankte Drillinger, ob er ins Lehel hinunter gehen und den Doktor Trostberg so spät am Abend aufsuchen solle, oder ob es nicht mannhafter wäre, dem Fabian Pemsl direkt auf den Leib zu rücken. Jetzt oder nie müsse etwas Entscheidendes geschehen ... Aber das Entscheidende in diesem Falle, welche Gestalt würde es annehmen? Wie will man sich mit diesem Viehvolk ritterlich auseinandersetzen? Durch eine richterliche Klage, durch den Spruch eines, Ehrenrates, durch ein konventionelles Duell – was ist mit alledem gewonnen? Der Skandal wird nur um so ärger und es läßt sich gar nicht absehen, wie weit die Bosheit und Rachsucht der Menschen die einmal öffentlich in Fluß geratene Geschichte treiben wird ... Ja, lebte man in einem wirklich freien Lande, wo der Einzelne sich selbst die Unverletzlichkeit seiner[283] Person und seines Privatlebens sichert und mit den Frechlingen summarische Abrechnung hält, so würde er diesen schmutzigen Ehrabschneider auf offener Straße niederschießen wie einen tollen Hund! Aber so – in einem sogenannten geordneten Staatswesen mit seiner verzwickten Maschinerie, seinem büreaukratischen Apparat, seinen Sackgassen von Traditionen, seinen Bergen von Vorurteilen, wie will man sich da für alle die gekränkten feineren Empfindungen einer stolzen Individualität Recht verschaffen? Und das Recht allein, wenn man's nach den haarsträubendsten Prozeduren endlich zuerkannt erhalten hat, wie kahl und zugestutzt und armselig nimmt sich's aus im Vergleich zu der vollen, satten Rache, die sich der Mann ohne Umweg und ohne aktenschmierende Mittelsperson selbst an seinem hundsföttischen Beleidiger nimmt, indem er ihn mit dem Fuß zertritt wie ein ekelhaftes, giftiges Insekt!

Drillinger konnte nicht weiter denken, so sehr hatte ihn aufs neue die Wut übermannt. Das Rauschen der Isar weckte ein tosendes Echo in seinem Gehirn; es war als schäumte sein Blut in Sturzbächen durch seinen Kopf und vor seinen Augen hüpften die Gaslichter auf der[284] Brücke und verbanden sich zu feurigen Schlangen, die sich in die eigenen Schwänze, bissen, dann zischten und züngelten sie wieder nach allen Seiten auseinander, verschlungen von der schwarzen Nacht.

Alles schwankte. Er mußte sich, nachdem er links an der noch geschlossenen Sodawasserbude vorbei war, an die steinerne Brüstung lehnen. Der Wind war umgesprungen und trug ihm kräftigen Geruch von der Essigfabrik herüber. Allmählich sänftigten sich seine Gefühle wieder. Er betrachtete sich die Lebensbilder, die im Halbdunkel der Gasbeleuchtung vor ihm über die Brücke gaukelten – Lebensbilder, die ihm nicht wesenhafter dünkten als ein Schattentanz, womit man die Phantasie der Kinder äfft. Da ein Fähnlein bierseliger Philister mit schweren Hängebäuchen, dort ein Häuflein schwatzender Bummler, dann wieder Einzelwesen im Gänsemarsch hintereinander, keines sich um das andere kümmernd, jedes sein unsichtbares Kreuz auf dem wundgedrückten Rücken schleppend, dann wieder der schäkernde Leichtsinn, das rollende Laster, die tugendhafte Gedanken- und Trieblosigkeit, dazwischen auf den Schienen der Pferdebahn ein Glaskasten wie ein vorüberfliegendes[285] Wachsfigurenkabinet. Und unten rauscht der Fluß, unablässig, wahnsinnig, eine Welle jagt die andere, und darüber hängt der schwarze Himmel mit seinem flimmernden Sternenschmuck ... Brigitta wird daheim am Fenster sitzen ... Und Frau Raßler ... Dort ist ihr Erkerfenster, unbeleuchtet ... Nein, es darf kein Zurück geben. Abgethan ist abgethan. Hui, die Toten reiten schnell ... Die Toteninsel – mitten in dieser Frühlingslandschaft – hatte sie's damals bei der ersten Begegnung nicht selbst gesagt in ahnungsvollem Vorgefühl?

Vom Erkerfenster schwebt's herab, hinüber, wallende schwarze Schleier vom Haupt bis zu den Füßen, von der Luft gebläht, sich windend, flatternd, zerfließend – vorgestreckte, weiße, schlanke Hände, so bleich, so bleich, ein Urne umklammernd, darin liegt ein Herz, sein Herz! Still setzt sie's bei auf der Toteninsel, es klagen die Wipfel, es wimmern die Wellen ...

Unsinn! Das ist das Leben: ein Soldat geht mit seinem Schatz vorüber, beide sind benebelt; sie hat seinen Pallasch über die weiße Schürze geschnallt, er trägt ihren Korb – ein Gendarm hält sie fragend an und zieht sein ledernes Notizbuch. Ein Musikant – das Weib[286] humpelt mit der Baßgeige hintendrein – ein frommer Spießer lüftet seine Schwiegermutter aus, eine alte Jungfer ihren stinkigen Mops ... »Leben! Ordnung! Ideale!« kreischt ein Studentlein; »ich pfeife auf den Krämpel, so lange man mir den in der Natur verkörperten Nihilismus nicht widerlegt ...« »Sittliche Weltordnung, Nihilismus, lauter Redensarten: das Leben ist das Leben und die Natur ist die Natur – einerlei, was Ihr für Kommentare dazu schwatzt: Ihr ändert nichts, Notwendigkeit ist! alles, wie's werden muß, so wird es, Amen. Aber meinen Alten soll der Teufel holen, er hat mich mit dein Wechsel nun wieder schön aufsitzen lassen ...« »Die Kathi, ein famoser Besen ...« »Der Dingsda, patenter Kerl ...« »Schweinehund ...« »Leibfuchs! ...« Eine salbungsvolle Stimme: »Geistige Gesundheit ist ein Ergebnis der Erziehung ...« »Die Zahl solcher Geisteskranker, welche auf Kosten der Armenpflege unterhalten werden, müssen, ist fortwährend im Zunehmen begriffen ...« Grell schmetternd: »Die Welt war immer ein Narrenhaus; sobald die Narren die Mehrheit haben, geben sie den Ton an und wir werden als verrückt eingesperrt ...« »Ganz in Ordnung, die[287] Majorität hat überall Recht ...« »Erbliche Neurose ...« »Größenwahnsinn bei Künstlern, Herrschern ...« »Bei ganzen Völkern sogar« ... »Kriegslust zum Beispiel, ist sie nicht auch Wahnsinn?«

Eine andere Gruppe in diesem nächtlichen Gestaltenzug, der sich wie ein lebendiger Fries vor dem nervös spähenden Auge Drillingers entrollte: »Diskontogesellschaft? ... Ich gebe kein Pfund Lumpen dafür ... Der Weiler? Unkraut verdirbt nicht ... Schlamassel ... In der Isarthalbahn – Unternehmung kommt er gegen den Schmerold doch nicht auf ... Der Halsabschneider am Dracheneck? ...« »O Jemine!«

»Ja, mit dem bindet nur an ...«

Drillinger fühlte sich der Wirklichkeit wieder näher, als er diesen Namen hörte, und empfand eine gewisse Schadenfreude, als einer kläglich von der üblen Behandlung wisperte, die er von dem geriebenen Bankier erfahren. O, auch er wird ihm künftig ganz anders auf die Finger sehen; ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Mit großer, fast erschreckender Klarheit wollten in Drillingers Kopf die Erinnerungen an die Morgenstunde in Weilers Winkelbude hervorschießen. Zuletzt sind Finanzfragen für eine[288] neue Lebensordnung viel entscheidender, als aller Liebes- und Familientrara, als alle Empfindelei für den Ehrschnickschnack und das, »was die Leute sagen« ... Wer Geld hat, hat alles. Nur mit Geld und mit dem, was Geld bringt, kann man diesem Viehvolk noch imponieren, mit nichts anderem. Der Geldsack weiht und heiligt alles. Sei ein Hundsfott und habe Geld, sehr viel Geld, rasend viel Geld – und sie vergöttern dich. Brauchte, er sich das noch zu wiederholen? Was er sich zu wiederholen brauchte nach diesen nichtsnutzig aufregenden Tagen war dies, daß man felsenfestes Vertrauen auf sein Glück haben müsse. Ja, das Glück, es mußte auch ihm noch sein lächelndes Antlitz zeigen ... Wenn er an seinem vierzigsten Geburtstage ein Gelübde hätte ablegen müssen, es hätte kein anderes sein dürfen, als nie und nimmer am Glück verzweifeln zu wollen – allen Schikanen zum Trotz. Auch Brigitta soll noch mit ihm zufrieden sein ...

Zwei junge Dämchen schlenderten an ihm vorüber und drehten ihm die wiegenden Köpfe mit den auffallend hohen Federhüten zu. Er glaubte sie zu erkennen. »Ach die! Die Töchter des verrückten Barons – wie die Gläubigen[289] wissen, Jugendsünden des Kommerzienrats Raßler – wie die Wissenden glauben. Wo ist in solchen Dingen überhaupt Gewißheit? Leopoldine wehrte sich immer gegen diese Schleierlüftung; die Jugend ihres Herrn Gemahls interessierte sie nicht ... Natürlich! Sie wollte über ihre eigene Jugend niemals interpelliert sein und so oft ich daran rührte, hätte sie in alle Lüfte fahren mögen ... Die Weiber, die Weiber! O du alter, weiser König Salomo, der du an neunhundertneunundneunzig noch nicht genug hattest und noch die tausendste nehmen mußtest, was für ein grandioses Hornvieh bist du gewesen!«

Nun wollte er sich doch zu seinem Schmerzenreich Dr. Edgar Trostberg auf den Weg machen; jetzt fühlte er sich wieder in der Stimmung, diesen Nachtbesuch bei dem lebensfeindlichen Dichterdenker und neuesten Königsgünstling – der Komödiant war nach kurzer Herrlichkeit im Sonnenschein der Gnade auch wieder kaltgestellt, ja, ja, dem ewig strebernden Geiling war der Purzelbaum zu gönnen! – mit Ehren zu bestehen.

Die Dämchen sahen sich um; sie glaubten offenbar, die Nachfolge Drillingers gelte ihnen.[290] Als sie in die Mühlstraße einbogen, schlug Drillinger den nämlichen Weg ein. Er kreuzte sich mit dem Doktor Wendelin Wamperl, der die Straße heraufpustete wie eine marode Lokomotive. Wamperl blieb stehen und blickte den Frauenzimmern und dem ihnen folgenden Herrn teilnahmsvoll nach.

Auf der Maximiliansstraße begegnete er dem Oberst Wotan von den »Ungespundeten«.

»Ich glaube, Oberst, soeben Deinem ungespundeten Drillinger auf der Schürzenjagd begegnet zu sein.«

»Das sieht Dir gleich, Remplem.«

»Mir? Ihn, bitte!«

»Da dreh' ich die Hand nicht 'rum. Du willst, wenn Du kannst, er kann, wenn er will: das ist der ganze Unterschied. Ich gönn' Euch das Vergnügen. Gut' Nacht, heiliger Wendelin, wünsche angenehme Matratze!«

»Grobian,« murmelte Wamperl. Fünfzig Schritte weiter stieß er auf den Professor Hirneis. »Lieber Hirneis, mit dein Sittenverfall, geht's mit Eilzuggeschwindigkeit. Begegne ich soeben dem Baron Drillinger, wie er zwei anrüchigen Frauenzimmern in einer verdächtigen Gasse nachsteigt – und hinter ihm drein der[291] Oberst Wotan. Das sind die Ungespundeten! Der Drillinger könnte weiß Gott mit seiner skandalösen Liaison mit der – na, Du weißt ja, es genug sein lassen.«

»Mir scheint, das thut er auch. Ich war sozusagen Augenzeuge, wie die stolze Frau Kommerzienrat, es ist kaum eine Stunde her, in der Auenstraße ihm aus die Bude nachgerückt ist. Die Seele dreht sich einem im Leib herum.«

»Bist Du sicher? Vor einer Stunde? Gut, so besorgt er sich jetzt einen Nachtisch. Unerhörte Zustände. Sodom und Gomorrah war ein Musterstaat, verglichen mit den heutigen Halbweltsitten. Dazu die Schlechtigkeit der Presse, die Laxheit der Gesetze ... es ist rein zum Verzweifeln.«

»Entschuldige –«

»Wo gehst Du hin?«

»Auf einen Sprung ins Café Roth, die neuesten Pariser Blätter durchzusehen. Im ›Figaro‹ soll ein sensationeller Artikel über den König und die Kabinetskassa-Affaire stehen.«

»Erlaube, daß ich mich anschließe. Ich kann mich bei der Gelegenheit über die Obszönitäten des ›Journal amüsant‹ ärgern, dessen Bilder ich in dieser Woche noch nicht gesehen habe.«[292]

Drillinger war hinter den wartenden Dämchen ins Haus getreten, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er ging über den Hof, durch den Garten, und klingelte an Trostbergs Thür.

»Kennst ihn, Nanni?«

»Da hätten wir uns den Weg sparen können. Ich hab' ihn für einen andern gehalten. Daß Du's nicht früher gemerkt hast!«

»Bleiben wir oder gehen wir wieder?«

»Heute ist schon ein ganz lumpiger Tag. An: liebsten legt' ich mich ins Bett.«

»Ich auch. Aber dann macht der Alte wieder Spektakel.«

»Also vorwärts. So schlecht ist das Geschäft schon lang nicht mehr gegangen.«

»Meinetwegen. Der Alte soll sehen, wie er diesmal den Hauszins zusammenbringt. Ausziehen müssen wir doch. Uns kann's eigentlich Wurst sein.«

»Ich hab' die Sauwirtschaft schon lange dick. Wenn's nicht wegen dem Kind wär', ich ging auf und davon. Das ist wirklich kein Leben.«

»Wenn man bedenkt, wie gut es die Wappenhur' im ersten Stock hat ...«

»Ja, die hat's getroffen. Glück muß man haben.«[293]

»Und wir haben halt kein Glück ... Da kommt er wieder ...«

Drillinger schritt hinaus, wie er gekommen, ohne die Dämchen zu beachten. Gabriel hatte ihm gemeldet, daß der Herr Doktor verreist sei, nach Hohenschwangau oder Neuschwanstein, er wisse es nicht so genau, wo sich der König gerade aufhalte – und vor morgen Abend werde er nicht zurückkehren. Der schieläugige Klown that sehr weinerlich und weltschmerzlich und hatte den Kopf eingebunden.

»Wir haben den Herrn Baron schon so lange vergeblich erwartet – und jetzt sind Sie endlich da und er ist nicht da. Sollt' man nicht gleich Händ' und Füße über den Kopf zusammenschlagen? O mein Kopf! Kommen Sie übermorgen wieder ...« Der Klown verzerrte sein Gesicht, daß die Haut wie mit kleinen Löchern besät war und aussah wie eine Streusandbüchse.

Drillinger war herzlich froh, wie er wieder auf der Straße war. Nun wollte er ohne weiteren Aufenthalt heimgehen. Er hatte jedoch noch keine zwanzig Schritte gemacht, als er seitwärts an einem Bachübergang einige Studenten mit einem rabiaten Menschen in eifriger Verhandlung[294] gewahrte, der in einemfort beteuerte: »So wahr ich Hans Rindler heiße.« Was wollen die hier, in dem stillen Lehel? Unwillkürlich blieb er stehen und horchte.

»Nicht so laut!« ermahnte der studentische Wortführer. »Also Sie kennen ihn?«

»So wahr ich Hans Rindler heiße und heute so nüchtern bin wie jener Laternenpfahl.«

»Und Sie wollen uns die Geschichte prompt besorgen?«

»So wahr ich Hans Rindler heiße. Mit was für Marterwerkzeugen soll ich ihn traktieren? Soll ich ihm die Gedärme aus dem Leibe haspeln und zu Baßgeigensaiten verspinnen?«

»Sind Sie Darmsaitenfabrikant gewesen?« fragte ein aufgeschossener Jüngling spottend, der nämliche, der auf der Brücke in der Natur den verkörperten Nihilismus entdeckt hatte; Drillinger erkannte ihn an Gestalt und Stimme.

»Jawohl, so wahr ich ... Ein musikalisches Geschäft ... Oder soll ich ihm das Herz ausreißen und ums Maul schlagen? Oder ihm die Zunge durch den Nabel ziehen? Oder Riemen aus seinem Bauch schneiden und seine Banditenlarve damit zerpeitschen? Das alles hat er verdient.«[295]

»Patente Phantasie, Rindler, an Ihnen ist ein Dichter verloren gegangen.«

»Meine Herren, verkennen Sie mich nicht. Dieser Preßbandit ist der Schrecken vom ganzen Lehel. Wenn ich einmal mit diesem Helden anbinde, muß es glorios gehen. Soll ich das Schwein kitzeln, daß es ein Rad schlägt wie ein besoffener Pfau? Oder soll ich mit seinem Schädel Läuse aus dem Asphalt der Maximilianstraße stampfen?«

»Hören Sie auf, entsetzlicher Mensch. Etwas viel weniger Poetisches: Sie sollen ihn in eine Mistpfütze tunken, bis ihm der Dampf ausgeht. So ist's beschlossen. Wollen Sie das machen unter den vorgeschlagenen Bedingungen?«

»So wahr ich ... Herrgott, wenn uns nur Niemand hört.«

»Seien Sie nicht feig, Hans!«

»Ich mein' nur wegen der Konkurrenz. Daß mir kein anderer die schöne Arbeit vor der Nase wegschnappt. Wissen Sie, die Gripso-Grapsologie ...« Dabei zog er schnell die Finger mehrmals krallenartig ein und machte eine kreisende Armbewegung dazu.

»Eine dämonische Komödie, Schurken über Schurken! Mir kann's recht sein, hundertmal[296] recht; sie besorgen meine eigene Rache ...« dachte Drillinger und suchte unbemerkt davon zuschleichen. Es gelang ihm, sich durch ein enges, stinkiges Gäßchen zu drücken und unbehelligt in die Sternstraße zu kommen. Ganz in Gedanken über das soeben Erlebte kam er noch einmal an dem Hause vorüber, das er vor wenigen Minuten verlassen. Gabriel stand unter dem Thor bei den Dämchen. Als er den Baron im Eilschritt des Weges kommen sah, rief er ihn an: »Noch in unserer Gegend, Herr Baron?« Die Mädchen kicherten verlockend und wichen seitwärts, als wollten sie dem Baron den Platz freimachen, hereinzukommen.

»Ich habe Sie vorhin zu fragen vergessen: Warum haben Sie denn eigentlich den Kopf eingebunden, Gabriel?« warf Drillinger stehenbleibend hin, nur um etwas zu sagen.

»Ach, Herr Baron, ein kleiner Schlaganfall, heute früh ...«

»Ein Schlaganfall?«

Nun machte die Brünette einen Vorstoß, sich in scherzhaft insinnierender Weise am Gespräche zu beteiligen und das Interesse des Barons auf ihre sich lüstern darbietende Gestalt zu ziehen.[297]

»Wär' ich dabei gewesen, es wäre ihm nichts passiert.«

»Sie sind wohl seine kleine Schutzheilige?« fragte der Baron und maß die Sprecherin mit kritischem Blick

»Heilige weniger,« antwortete sie mit schamlos aufdringlicher Schlagfertigkeit, »aber bei mir wäre er sicher gewesen.« Drillinger trat einen Schritt näher. Sie deutete das als Entgegenkommen und fuhr schmeichelnd fort: »Da drin habe ich ein trauliches Zimmer – o, das sollten Sie ansehen, da ist man aufgehoben wie im Himmelreich.« Gabriel hüstelte und räusperte sich und schielte zum Thorweg hinaus wie eine Schildwache. Als der Baron sie schweigend fixierte, nahm sie wieder das Wort und flötete innig: »Wollen Sie sich nicht bei uns ausruhen? Ich erzähle Ihnen die Geschichte von dem Preßbanditen und was dem heute geschehen ist.«

»Preßbanditen? Nein, da danke ich ... Ich bin heute gar nicht mehr neugierig.«

Er drehte sich auf dem Absatze herum, gab dem Klown einen Schlag auf die Schulter und mit einen raschen: »Gut' Nacht, Gabriel!« war er verschwunden. Er eilte, als fürchtete er eine Verfolgung, er wußte nicht deutlich warum ...[298] Es war ihm bei dem starr begehrlichen Blick der glutäugigen Brünette plötzlich alles so unheimlich, schemenhaft und totentanzähnlich erschienen ... Er jagte die Isar entlang in die Nacht hinein wie in einen schauerlich schwarzen Abgrund, höhnende Stimmen und Blicke ringsum, Kreischen und Geschrei aus den tosenden Wassern, den rauschenden Wipfeln, dem Flüstern der Luft, dem Pochen des eigenen Herzens ... Mit zerschlagenen Gliedern, in Schweiß gebadet, kam er vor seinem Hause an, verwundert wie ein Irrender, der plötzlich am Ziele steht ...

Als er am Morgen nach einem langen, wirren, wenig erquickenden Schlaf vor Brigitta erschien, empfing ihn die Alte mit kurzem Wunsch und Gruß. Sie sah noch hinfälliger aus, als gestern. Er betrachtete sie forschend von der Seite ... Merkwürdig, die Alte kam ihm so fremd vor ...

»Sie haben mir gestern viel Zeit zum Alleinsein und Nachdenken gegönnt.«

»Soll das ein Vorwurf sein, Brigitta?«

»Ich habe ein wenig gelesen und viel gehört.«

»Du machst wieder Vorreden. Ich ehre Deine Gewohnheit. Du änderst Dich doch nicht[299] mehr. Was hast Du gelesen?« Er setzte sich an den Tisch, den Kopf in beide Hände gestützt mit den kleinen Fingern an der Stirn trommelnd.

»Ja, das Ändern! Da müßte Gott ein Wunder thun – auch bei andern Menschen. Ich habe ein trauriges Kapitel gelesen. Sie, die Heldin der Geschichte, eine reife, leidenschaftliche Frau, war in Liebe zu einem jungen Manne entbrannt, und in der Thorheit ihres Herzens glaubte sie, sich zu entsühnen, wenn sie den Geliebten, in andern Dingen auf bessere Wege brächte, wenn sie ihn erziehen könnte. Er war ein sehr verwickelter Charakter, alles gemischt, aber seine Energie war geschwächt. Zuletzt zog seine Schwäche ihre Stärke herab und sie sank tiefer und tiefer, jemehr ihre Liebe durch sein sinnliches Wesen in sündige Lust ausartete ... Ach, es ist eine zu traurige Geschichte. Das Weib, das seine Führerin und Meisterin werden wollte, wurde sein Werkzeug, seine Sklavin, bis sie am Ende beide im Laster verdarben. Ich kann das nicht so wiedergeben, mein alter Kopf ist zu schwach ...«

Er sah auf. »Ja so geht's in der Welt. Eine sehr lehrreiche Geschichte, Brigitta ...[300] Also das war die Vorrede, eine Dichtung. Und nun laß uns zur Wirklichkeit kommen, obwohl ich heute weder Dichtung noch Wahrheit hören möchte ... Nur Stille, Stille ... Alles Wirkliche ist so schauderhaft laut, so grell ... Ich bin nervös, Brigitta.«

»Ja, zur Wirklichkeit, die noch schlimmer ist, als die schlimmste Dichtung,« sprach sie für sich weiter, ohne seine Abwehr zu beachten.

Er schnellte empor und unterbrach sie hastig, aufgeregt: »Weißt Du, Alte, ich gebe keine saure Gurke für die ganze Wirklichkeit; die ist jeden Tag anders, verschiebt sich fortwährend, dehnt sich, schrumpft zusammen, kräuselt sich, ist jung, lebendig, greisenhaft, maustot, ein Scheusal, ein Unsinn, ein Nichts. Was habe ich nur gestern wieder für skandalöse Wirklichkeits-Erfahrungen gemacht ... Aber im Grunde sind das alles nur dumme Träume ... Siehst Du, ich bin eine künstlerische Natur, das ist so im Blut, die Unruhe, die Phantasterei. Da hält man das Geträumte für wirklich und das Wirklichste zerfließt wie Träume und Schäume. Wo ist eine feste Grenze? Nirgends. Man könnte ja sein bischen Verstand darüber verlieren, wenn man nachdenkt. Ich mag nicht mehr. Mir ist alles[301] zuwider. Ich muß aufs Land, ins Gebirg, in die Einsamkeit, drei, vier Wochen, ich weiß nicht wohin, wie lange, es wird mir aber wohl thun ... Nicht wahr, Du findest auch, daß es mir wohlthun wird? Dir wird es auch wohl thun, wenn Du den unausstehlichen Teufel eine zeitlang los hast, gelt? Ach, die Menschensippe! Ich könnte mir die Lippen blutig beißen, die Fäuste auf dem eigenen Schädel in Splitter schlagen, aber es hilft nichts. Und dann die kleinen, nichtigen Sachen des materiellen Lebens, diese Widerborstigkeit, wenn man ihrer habhaft werden will, und die man doch erringen, die man meistern muß, wenn man der Knechtung entgehen will, all' dieser Quark, dieser Dreck, der doch wieder die Hauptsache, ein teuflisches Machtmittel ist, und dieses dämonische Unvermögen, sich von all' dem Verachteten und Gewünschten, von all dein Gehaßten und Ersehnten als anständiger Mensch loszumachen! Als anständiger Mensch, hörst Du? Denn daß wir anständig sind, oder dafür gelten, das ist für uns auch eine Art Rache an diesem hundsföttischen Philistertum. Ich muß aufs Land, aufs Land, aufs Land! Halte mich nicht zurück, Brigitta,[302] ich beschwöre Dich, hier werde ich verrückt ... Die Erbärmlichkeiten der Stadtmenschen ...«

»Gehen Sie nur, in Gottes Namen, aber vorher eine Abrechnung ...«

»Natürlich, freilich, versteht sich – mit dem Weiler meinst Du doch?« fuhr er der Alten erregt in die müde Rede. »Ja, das wird besorgt, soweit sich's nicht in wenigen Wochen von selbst erledigt; da kannst Du ganz ruhig sein. Du bekommst Deine Abrechnung.«

»Ich meinte anders ...«

Er atmete aus. Also wenigstens keine gemeinen Geldfragen, kein widerlicher Finanzkrieg in Sicht ...

»Eine moralische Abrechnung ...«

»Mit jener Frau? Donnerwetter, laß mich in Ruhe, ist längst erledigt.«

»Ich begreife Ihre schreckliche Hitze und Aufregung nicht. Kann ich ruhiger reden, als ich's heute thue? Ich sage kein Wort von jener Frau, keine Silbe mehr. An Ludwig hab' ich gedacht, an Ihren unglücklichen Bruder, an den drangsalierten Menschen in Amerika.«

»An den hab' ich schon mehr gewendet, als Du weißt. Ich hab' jetzt kein Geld für ihn, in diesem Augenblick wenigstens nicht. Nach[303] der andern Abrechnung! Er soll sich einstweilen von seinen Sozialisten und Anarchisten und ähnlichen Menschenfreunden helfen lassen ...« Seine Stimme war düster wie sein Blick.

»Ach, es ist ja alles anders. Seit gestern hab' ich neue Botschaft. Er ist in Texas, auf einer Farm, Mac Girk bei Hamilton, fern von allen sozialistischen Verbrüderungen. Es war einer hier, der bei ihm gewesen; Sie waren ja nicht zu Hause den ganzen Tag und die halbe Nacht. Da ist der Brief ...«

Sie zog mit zitternder Hand mehrere unregelmäßig gefaltete, zerknitterte Briefblätter aus der Tasche – das Schreiben, das ihr Ludwigs Leidensgefährte überbracht.

»Nein, ich mag nichts lesen, ich kann seine Handschrift nicht sehen ... Buchstaben wie züngelnde, tanzende Schlangen, unheimlich ... Du kannst mir's ja sagen.« Er warf sich aufs Sopha und starrte die Wand an.

Brigitta schüttelte den Kopf Was hatte er nur? Das war keine gewöhnliche »Krisis« – so nannte sie diese unerklärlichen Gemütszustände, welche oft in längeren Zwischenräumen bei ihm eintraten und sein Wesen verstörten.[304]

»Aus Chikago hat er uns das letztemal geschrieben, dann ist er nach Saint Paul, dann nach Hamilton. In Saint Paul war er bei einer deutschen Schauspielergesellschaft, in Hamilton ließ er sich anwerben, gegen kriegerische Indianerstämme zu ziehen; da wurde er verwundet und traf den Landsmann, der jetzt wieder glücklich heimgekommen ist, er aber ist auf einer Farm bei Mac Girk zurückgeblieben. Dort diente er als Knecht bei einer Kolonistenfamilie aus Franken, die erst kurz zuvor dahin gekommen war und den Pacht übernommen hatte. Die Hitze ist dort fürchterlich, der Boden braun und trocken, oft Monate lang kein Tropfen Regen; Nachts arbeitet er nackt in den Baumwollenfeldern ... Er lebt von dem Wild, das er schießt oder totschlägt, Brot giebt es selten, den Trunk Wasser muß er oft meilenweit holen. Die fränkische Familie hat den Pacht wieder aufgegeben und ist fortgezogen, weil sie zu verhungern und zu verdursten fürchtete ... Er will die Farm allein halten, bis neue Pächter kommen. Aber es traut sich gewiß kein Mensch in die schreckliche Gegend, und die feindlichen Indianer stehen auch wieder an der Grenze. Das wird sein Letztes sein. Und wenn wir ihm da[305] nicht bald heraushelfen ... Wir haben ihn auf dem Gewissen ... Die Abrechnung vor dem ewigen Richter ...«

Sie konnte nicht weiter sprechen. Ihre Stimme erstickte im trockenen Schluchzen ... Drillinger drehte sich um mit einem so teilnahmsleeren Gesicht, als hätte ihm ein Unbekannter eine Geschichte von einem Mondbewohner erzählt. »Ja und dann? Lieber von Indianern aufgefressen, als von Europäern subtil gemordet!« sagte er und spielte mit seinem Schnurrbart.

»Ach, Sie konnten sonst so liebreich sein – und nun sind Sie hart wie Fels. Nehmen Sie von meinem Geld. Ich will mein Testament umstürzen. Meine Verwandten kommen auch ohne mein Weniges zurecht ... Magdalena, ich weiß gar nicht wo sie ist, seit sie aus dem Irrenhaus entlaufen, Sie haben es ja nicht für gut gehalten, die Nachforschungen fortzusetzen, und Afra ist verschollen und von ihren Kindern hört man nichts ... Nehmen Sie von meinem Geld und schicken Sie es dem Ludwig ... Ich will ihn zu meinem Erben einsetzen ... Dann kann ich ruhiger sterben, auf Ihre Umkehr zu eigener Häuslichkeit wag' ich doch nicht mehr[306] zu bauen ... Auch darauf nicht, daß Sie ihm die Rückkehr nach Deutschland erwirken ...«

»Wie oft muß ich Dir noch wiederholen: die Rückkehr nützt ihm nichts, wenn wir ihn nicht vor dem Gefängnis vorbeidrücken können. Und diesen Gnadenakt erreiche ich jetzt weniger als je. Und eine Wiederaufnahme des Prozesses und ein Herumziehen in allen Blättern und dann ein Drillinger, mein leiblicher Bruder, drunten in der Frohnfeste ... Das mutest Du mir zu?«

Beide schwiegen. Brigitta betrachtete mit kummervoller Miene die Briefblätter. Es war schlechtes, graues Papier, mit blasser Tinte, an der Sonne von Texas getrocknet, zum Teil nur mit Bleistift beschrieben. Jetzt faltete sie die Blätter zusammen, es waren dicke Thränentropfen darauf gerollt, und steckte sie mit bebender Hand wieder in die Tasche.

»O, ich hatte mir eine andere Lebenswende von Ihrem vierzigsten Geburtstag erwartet,« sagte sie leise und sah ihn mit einem vorwurfsvollen Blicke an. »Meine bitterste Leidenszeit beginnt ... Gott steh' mir bei.«

Drillinger hatte sich erhoben. Er ging auf Brigitta zu. Sein Gesicht nahm wieder einen[307] wärmeren Ausdruck an. »Hier meine Hand, Brigitta, gönne mir die Erholungsfrist, dann will ich, wenn ich's nicht aus Eigenem vermag, Dein großmütiges Gebot annehmen und dem Ludwig eine gewisse Summe schicken; bis dahin wird er weder verhungern noch verdursten auf seiner Farm. Du nimmst die Sache zu tragisch. Schließlich: das Leben ist der Güter höchstes nicht.«

»Wenn es keinen Inhalt mehr hat, freilich.«

Drillinger war betroffen. War das Wort auf sein Leben gemünzt? Sollte er zu guterletzt auch noch Brigitta beargwöhnen, daß sie schlimme Gedanken über ihn denke, obwohl sie seine Bemühungen kannte, seine zahlreichen Anläufe, um seinem Leben Inhalt zu geben? Wie leicht wäre es ihm gewesen, sich vor ihr einen Heiligenschein anzuschwindeln, seiner Leistungsfähigkeit ein höheres Gewicht anzufälschen – kurz, vor ihr die ganze angenehme Komödie aufzuführen, die heutzutage überall in der Gesellschaft, in Gemeinde und Staat mit so viel List und Würde gespielt wird, daß das liebe Publikum schon anfängt, die wirklich Ehrlichen und Ungeschminkten als dumme Teufel und einfältige Spielverderber auszuzischen und ihnen den[308] Rücken zu kehren. Niemals mehr als heute wollte die Welt betrogen sein und das Mitwissen um den Betrug und zugleich die Heuchelei des Nichtwissens als süße Zukost genießen ... War er nicht allzeit ehrlich und aufrichtig wie ein Kind gegen die alte Wirtschafterin gewesen? Mit welchem Rechte konnte auch sie Hintergedanken gegen ihn hegen? Hat er nicht das ganze Spiel seines Lebens mit offenen Karten vor ihrem wachsamen Auge gespielt? Das Spiel –? Herrgott, nein, hier war eine Karte, die er mit scheuem Verbrecherblick vor ihr verborgen gehalten. Unmöglich, sie aufzudecken! Wenn Brigitta den letzten Teil seiner letzten Unterredung mit dem Bankier Weiler hätte belauschen können, wie müßte er jetzt vor ihr erscheinen! Nein, nein, nein – auch das geht vorüber, und wenn wieder Ordnung geschaffen, wird er ihr auch in diesem Punkte ein volles Geständnis ablegen. Die gute, gute Alte!

Er legte seinen Arm schmeichelnd um ihren Hals, drückte ihren Kopf gegen seine Brust und hauchte ihr die Worte ins Ohr: »Ich verspreche Dir, gegen den armen Ludwig ein anderer zu werden, ihm zu helfen, ihm Geld zu schicken, ihm einen Fürbitter bei dem König zu bestellen[309] – alles, alles, was in meinen Kräften steht, damit er den Weg in die Heimat und zu einem ehrlichen, glücklichen Leben wieder finde!«

Weinend vor seliger Befriedigung lag die alte Frau an seiner Brust. Er geleitete sie sanft an den Armstuhl und setzte sie hinein. Sie bedeckte seine Hände mit Küssen.

»Das ist meine glücklichste Stunde ...« Und sie erhob das thränende Auge voll unendlicher Dankbarkeit gen Himmel.

»Aber erst nach meiner Erholungsfahrt! Diese Pause ist notwendig.«

»Nur das Geld ...«

»Das sei Dir gewährt. Ich werde es durch den Bankier Weiler anweisen lassen.«

Drillinger saß neben ihr und schloß die Augen. Es war ihm so wirbelig im Kopf. Er wußte nicht, was Wirklichkeit, was Gedanke war – alles schwamm ineinander. Allmählich nahm sein Denken so körperliche Kraft, so herausspringendes Relief und brennende Farbe an, – daß er das Gedachte wie ein längst vollzogenes Wirkliches empfand, dem er jetzt nur wie in träumerischer Erinnerung nachhänge ...

Es war Mittag geworden. Resl meldete,[310] daß das Essen bereit sei und legte die angekommene Post auf den Tisch.

Ein guter Freund – wozu hat man gute Freunde? – hatte sich beeilt, die letzte Nummer der »Kloake« zu senden und eine Stelle mit Blaustift anzustreichen. Drillinger hätte sie ja übersehen können! Ein hundsgemeiner Blödsinn: »Wie Frau Raßler Englisch lernte.« Nur fünf Zeilen. Drillinger zerriß das Schmierblatt und warf es unter den Tisch. Übrigens sehr vernünftig von Leopoldine, wenn sich's wirklich so verhielte; der junge Engländer wird ihr mit den Feinheiten seiner Muttersprache manche Stunde angenehm verkürzen. Himmel, wenn er seiner einstigen Eifersuchtsanwandlungen gedachte – wie dumm er sich ausgenommen haben muß! Ja, es war endgiltig vorbei: er konnte sich Leopoldine im Arme des Engländers vorstellen, ohne einen Schatten von Erregung zu verspüren. Wirklich? Harry Wood ist schlechter Geschmack. Unreifes Obst. Und das sein Nachfolger! ...

»Die Kartoffelsuppe ist ausgezeichnet, Brigitta, nur noch einen Tropfen Essig. Schade, daß mein Appetit so gering.«

»Was ist das für ein dicker Brief?«

»Gleich, gleich, Brigitta, eins nach dem andern.[311] Es ist ein unvernünftiges Zusammentreffen, Mittagstisch und Mittagspost. Eine einzige Zeile ist oft imstande, einem die schönste Mahlzeit zu verderben. Ich habe mir schon oft vorgenommen, während des Essens keine Zuschrift mehr anzusehen, aber immer siegte wieder die Neugierde. Eine einzige Post im Tage genügte; früh nüchtern oder abends abgestumpft wäre sie am ungefährlichsten. Viermal im Tage, welch' ein Wahnsinn! Viermal Empfangsstunde täglich für Krethi und Plethi! Siehst Du, das nennen die Affen die Triumphe des Fortschrittes.«

»Es sind viele Sachen heute, wohl auch noch Gratulationskarten.«

»Hier: von der ›Hölle‹ – Unsinn; hier: von Bankier Weiler, Einladung ihn zu besuchen. Ich bin nämlich gestern erst in Geschäftsangelegenheiten bei ihm gewesen. Er kann mir gewogen bleiben. Die Sache wegen Ludwig mache ich schriftlich ab. Du glaubst nicht, wie ekelhaft so ein Geldkrämer sein kann. Hier: eine Anfrage von einem gewissen Pfaffenzeller, einem Verwandten von unserem Architekten Zwerger, wann er mich besuchen dürfe in einer sehr persönlichen Angelegenheit. Ich habe ihm zu einer Stellung[312] verholfen, nun soll er mich gefälligst ungeschoren lassen. Das ist auch so ein moderner Nimmersatt auf allen Suppen. Hier: ein Pumpgesuch von Peter Schlemming. Lächerlich. Weißt Du, der vor zehn Jahren beim Künstlerfrühlingsfest in Höllriegelskreut den wilden Mann vorstellte, splitternackt, nur mit einem Blätterschurz und über und über mit Isarschlamm beschmiert? In Großhesselohe hat er in einem Jahr drei Kellnerinnen unglücklich gemacht. Kurz, ein Wildschwein. Und ewig mit der Polizei in Fehde. Mich anpumpen! Seit Jahren grüße ich ihn nicht mehr. Du hast doch von seinen Skandalen gehört?«

»Gehört und wieder vergessen. Solche Menschen sind nicht wert, daß man ein Gedächtnis für sie hat. Der Braten wird kalt, bitte.«

»Und nun zum Nachtisch den dicken Brief.«

»Da bin ich neugierig,« sagte Brigitta und rückte Schüsseln und Teller zusammen.

»Von Zwerger, von Joseph Zwerger!«

Brigitta hielt den Atem an. Also hatte sie doch richtig geahnt.

»Ein ganzes Buch! Das sieht dem Sonderling ähnlich,« lachte Drillinger, das Siegel lösend.[313]

»Lesen Sie nur den Anfang und das Ende und eine Stichprobe aus der Mitte und sagen Sie mir, ob es Gutes ist,« bat Brigitta.

»Der Anfang ist ganz Zwergersche Art: eine Gewitterschilderung, der Schluß – warte nur! – Bewunderung der heldenhaften Brigitta, die das Unerträglichste erträgt, mich! – dann noch eine lange Nachschrift. Aus Neapel datiert. Und eine Stichprobe aus der Mitte ...«

Drillingers Augen fielen zufällig auf die Stelle: »Und wenn Du nach einer seligen Stunde am Busen des süß verbuhlten Weibes.« Er schlug hastig das Blatt um, dann las er: »Flora Kuglmeier scheint mich mit ihrer Besuchszusage ...«, noch ein Blatt überschlagend.: »Nun glaubst Du aber selbst, daß die geheimnisvolle Flora Kuglmeier ...« das letzte Blatt mit der Nachschrift hervorziehend: »Flora hat nicht aufgeschrieen, ist nicht in Ohnmacht gefallen ...«

Mit humoristischem Lächeln zu Brigitta, indem er die Blätter zusammenschob: »Liebe Alte, ich glaube, das ist nichts für Dich. Dein Platoniker ist in der heißen Sonne Süditaliens vom Pfade der Enthaltsamkeit gewichen. Der dicke Brief ist ein erotischer Roman, nach den Stichproben zu schließen ... Aber mit dem Lobe,[314] das er Dir zollt, kannst Du wahrhaftig zufrieden sein. Du hast's ihm angethan.«

»Ach, Sie scherzen. Ich bin sehr glücklich, daß er wieder geschrieben und so viel. Gewiß stehen schöne und erhebende Gedanken darin. Wenn Sie den ganzen Brief gelesen haben, teilen Sie mir mit, was Ihnen passend dünkt,« schloß sie lächelnd. Und im Aufstehen: »Ich will Gott danken für den schönen Tag, den er mir in seiner Gnade beschieden hat.«

Am Abend setzte sich Drillinger hin, eine Antwort an Zwerger zu schreiben. Der Brief hatte ihn seltsam gepackt. »Ja, ich muß mich aufraffen, aufraffen!« rief er ein ums andere mal, voll Unruhe das Zimmer durchmessend. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und ordnete mühsam seine fliegenden Gedanken mit der Feder in der Hand. »Lieber Zwerger, wenn wir uns mit dem Blick ansehen könnten, mit dem andere uns ansehen, es wäre nicht auszuhalten. Jeder liefe vor sich selbst davon. Aber ich glaube, jeder Verkehr, auch der freundschaftlichste, beruht auf einer Illusion. Jedes Urteil eines Menschen über einen anderen, und wenn es noch so ehrlich, hat ein Mißverständnis zur Grundlage. Wir ergründen und verstehen uns[315] selbst nicht – und dennoch bilden wir uns ein, andere zu ergründen und zu verstehen! Dein Brief hat mich an einem Scheideweg getroffen. Ich bin entschlossen und hoffe zuversichtlich, richtig gewählt zu haben. Auch Du scheinst mir an einem Wendepunkt in Deinem Leben angelangt zu sein. Nimm Dich in Acht und traue Dir nicht zu viel zu! Wenn Du so viel Widersinn über Dich zusammenträgst und in die Wagschale wirfst wie Du über mich zusammgehorcht und ausspintisiert hast, dann –«

Er legte ermüdet die Feder weg.

»Ich will erst morgen den Achthuber aufsuchen und ihn über die Flora Kuglmeier ausholen, bevor ich weiter schreibe. Ich will erst einmal darüber schlafen. Es eilt übrigens gar nicht. Der Zwerger könnte Wunder glauben, welches Ereignis von größter Tragweite sein konfuser Brief in meinem Leben bedeute ... Und diese architektonischen Schnurren! Macht denn die Isar plötzlich alle Menschen verrückt?«

Am nächsten Tage war ein harter Witterungsumschlag eingetreten; der Frühling war wie ausgelöscht. Ein niedriger, grauer Wolkenhimmel mit kalten Regenschauern umfing die[316] Isarlandschaft und nahm ihr allen Glanz, allen Duft und alle Wärme. Eisige Windstöße fegten über die bayerische Hochebene, pfiffen in den Münchener Straßen um alle Ecken, peitschten die Isarwasser gegen ihre Strömung und ließen die Gesichter der Menschen, die sich schon auf laue Sonnentage eingerichtet hatten, blau und rot anlaufen. Erstarrt hing das junge Grün an den Allee- und Uferbäumen, und die ersten Knospen und Blüten waren von den Eisesschauern des Todes bis ins Herz getroffen.

Brigitta ließ das Zimmer heizen und jammerte: »Das wird ein böses Jahr. Ein Unstern waltet über diesem Frühling. Erst die heiße Luft zur Unzeit und jetzt sibirische Kälte. Meine Ahnungen trügen nicht; sie prophezeien Schlimmes.«

Richtig verschlechterte sich das Wetter von Tag zu Tag. Drillinger fühlte sich sehr elend. Er fröstelte in seinem Winterpelz. Zwergers Brief ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Die Beantwortung war stecken geblieben. So oft er die Feder ansetzte, bemächtigte sich seiner Stimmung eine unerklärliche Zagheit. Er war entrüstet über Zwergers »Anmaßung« – wie er's nannte – sich in die intimsten Herzens- und[317] Gemütsangelegenheiten anderer einzumischen. Das verdiente eigentlich keine Antwort, aber wenn eine, dann die schneidendste und abweisendste gegen dieses aufdringliche Genieprotzen- und moralisierende Zuchtmeistertum ...

Brigitta sah mit wahrem Schmerz diesem inneren Kampfspiele zu, das sich immer deutlicher in Drillingers Gesprächen, Monologen und wechselnden Launen abspiegelte. Jetzt riet sie selbst zur Abreise. Die Antwort auf Zwergers Brief dränge auch nicht, ja; sei ganz überflüssig, da der Architekt in einigen Monaten selbst komme. Mündlich verständige man sich viel leichter. Zwerger sei doch ein ganzer Mann, wenn auch etwas derb und hochfahrend; sie verspreche sich sehr viel Gutes von seiner Rückkehr, auch für Drillingers Lebensführung. Sie erinnere sich noch, wie er ihr einmal den Plan eines Familienhauses entwickelt habe, das er mitten im Buchenwald auf dem höchsten Punkt der Isarufer, weithin die Landschaft, Alpen und Ebene beherrschend, erbauen und dem er den Namen »Lugtrutz« geben wollte. Ja, etwas Trutziges hat er ...

»Ach, alle Welt ist wider mich!« rief Drillinger aus. »Es giebt keine uneigennützige[318] Freundschaft mehr, nur lauernde Feindschaft in der Maske des Wohlwollens, um uns in einer schwachen Stunde um so sicherer zu verderben. Traust Du dem Zwerger, Brigitta? – Sei still, ich traue ihm nicht. Er ist ein Spekulant, wie der Weiler, der Schmerold, der Raßler ...«

Der Name war heraus. Er biß sich auf die Zunge. Schnell fuhr er fort in klagendem Tone: »Lauter Industrieritter, jeder in seiner Art, Künstler und Unkünstler, Christ und Jude, Millionäre und andere Schelme ...«

Brigitta suchte zu seiner Sänftigung einigermaßen auf seine Anschauungen einzugehen: »Was mir an Zwerger auch nicht so ganz gefällt ist, daß er aus der Ferne auf München schimpft. Das ist unschön und unklug, nützt auch gar nichts. Er soll herkommen und sich seinen Platz erobern und dann zeigen, daß er das Bessere leisten kann. ›Ich bin eine Kraft‹, das ist leicht gesagt. Eine Kraft muß sich in der That und Wahrheit bewähren. Und das mit der gewissen Flora Kuglmeier, die wir freilich gar nicht kennen, scheint mir auch ein frivoles Abenteuer. Aber das wird sich alles mit der Zeit aufklären ... Wollen Sie nicht zum Bildhauer[319] Achthuber gehen? Der Besuch wird Sie zerstreuen. Gehen Sie hin.«

»Den ersten besseren Tag. Meinetwegen. Obwohl mir vor neuen Bekanntschaften bangt« ... Und der Tag kam. Die Frühsonne durchbrach mit majestätischer Strahlengewalt das bleischwere Gewölkdach, das über die durchweichte, triefende Erde gespannt war, zerteilte die Rauchschwaden, die sich aus den Fabrik- und Bräuereischlöten über dem Isarthale zusammengeballt hatten, daß die Frauentürme und der Petersturm mit ihren Spitzen wie in einem dicken, schwarzen, stinkigen Nebel staken; die Kette der Alpen hellte sich auf und erschimmerte in tiefem Blau mit den weißleuchtenden Schneefalten, und im kräftigsten Grün jagten die Isarwellen durch die wie erlöst aufatmende Frühlingswelt. In wenigen Stunden hatte die Sonne alle Nässe aufgesogen und alles prangte wieder in warmer leuchtender Farbe.

In gehobener Stimmung machte sich Max v. Drillinger auf den Weg, den Bildhauer Achthuber zu besuchen. Recht sonderbar: er hatte schon allerhand von diesem Künstler gehört, der zur äußersten Linken von der Partei der »Unabhängigen« gehörte, auch manches seiner Porträtwerke[320] hatte er schon im Kunstverein gesehen und bewundert, manche lobende und noch öfter manche niederträchtig herunterreißende Kritik über ihn gelesen, allein es war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen, sich um die persönliche Bekanntschaft dieses Mannes zu bemühen. Jetzt schreibt ihm dieser unangenehme, weil in alles dreinschwatzende Zwerger aus Neapel: Flora Kuglmeier wünscht, Du möchtest die Bekanntschaft des Bildhauers Achthuber machen – und flugs zieht er aus, dem Wunsche zu willfahren. Was geht ihn eigentlich Achthuber und die ihm gänzlich unbekannte Jungfrau Kuglmeier an? Kuglmeier! Es ist zum totschießen: eine ixbeliebige Kuglmeier die neueste Flamme dieses Platonikers Zwerger, des nämlichen Zwerger, der seit seiner Leutnantszeit die unerhörte Marotte kultivierte, sich in den weiberfeindlichen Schopenhauer zu verlieben, um in der Philosophie dieses Pessimisten ein Gegengift gegen weibliche Verführung und ein Schonungsmittel seiner moralischen und physischen Kraft zu finden, Pessimist zu werden, um Optimist bleiben zu können! Als wenn sich einer im Falschschreiben üben wollte, um im Rechtschreiben sattelfest zu bleiben![321]

Drillinger brach diesen Gedankengang ab, als er beim Garten des Floßwirts in der Mühlgasse, beim Eingang ins Lehel, einem ihm ehemals befreundeten Polizeirat begegnete. Der Anblick dieses mehr geheimen als öffentlichen Organs der staatlichen Ordnung jagte ihm eine neue Idee durch den Kopf.

»Aus ein Wort, Herr Polizeirat!«

»Ach, Sie, Herr Baron, eine Ewigkeit ...« antwortete der geschmeidige Beamte in Cylinder, Überrock und Glacéhandschuhen.

»Nein, ich will Sie nicht belästigen, nur eine Frage ...«

»Bitte, ich begleite Sie gerne ein paar Schritte.«

»Die Sache ist die: ich wünsche Ihren Rat. Ich habe neulich im Café Paul zufällig eins unserer Kutscherblätter, die ›Freie Volkszeitung‹ angesehen und im sogenannten humoristischen Teil, wo die bestellten Ehrabschneidereien und Skandalgeschichten florieren, eine lansbübische Schnaderhüpfelei gefunden, in welche mein Name verwebt war. Gleichzeitig erfuhr ich von einem Bekannten, daß mir die Ehre zugedacht sei, in der ›Kloake‹ in der bekannten Weise verherrlicht zu werden. Was hat ein ruhiger Staatsbürger[322] unserer Haupt- und Kunststadt zu thun, um sich dieser journalistischen Wegelagerer in anständiger Weise zu erwehren?«

»Entweder sie zu ignorieren oder sie beim Gericht zu belangen.«

»Das Ignorieren geht in gewissen Fällen schwer, Herr Polizeirat, zum Kadi zu laufen und allen Chikanen unserer Prozeßordnung in Beleidigungsklagen sich auszusetzen, noch schwerer. Und was erreicht man? Im besten Falle eine Verurteilung des Hallunken zu einer kleinen Geld- oder Freiheitsstrafe. Die Ehre wird ja in unserer neuen deutschen Gesetzgebung so billig taxiert, billiger, als ein gestohlenes Paar Stiefel! Und dann? Der Preßbandit rächt sich für seine Verurteilung durch neue Angriffe, nur daß er sie jetzt so stilisiert, daß ihm auch das Gericht mit der schwerfälligen Paragraphenmaschinerie nicht mehr beikommen kann. Nein, das ist nichts. Wissen Sie mir keinen andern Weg?«

Der geschmeidige Polizeirat zuckte die Achseln und blickte seitwärts.

»Vor die Mündung einer Pistole fordern kann und darf man diese Schufte auch nicht. Gewöhnlich sind sie ja durch ihren Überfluß an[323] Bildungsmangel und getrübter Vergangenheit überhaupt nicht satisfaktionsfähig; der Kloakenchef ist zudem noch ein Krüppel und bezieht ein Almosen aus dem Reichsinvalidenfond. Wie soll sich ein Offizier zu diesen Bettelsuppen-Kreaturen stellen! Ganz unter uns, Herr Polizeirat, was würden Sie in meinem Falle thun?«

Der Polizeirat blickte sich erst vorsichtig um, dann machte er mit lächelnder Miene mit der Rechten die pantomimische Bewegung des Durchprügelns: »Aber sich nicht erwischen lassen!« lüftete grüßend den Cylinder und empfahl sich.

»Gut,« dachte Drillinger, »als erste Abschlagszahlung werden das ja die Herren Studenten durch ihren Hans Rindler besorgen lassen.« Und er setzte seinen Weg nach dem »Gries« fort, nicht ganz unzufrieden mit dem Ergebnis seiner Unterredung.

Der gewürfelte Polizeirat aber resümierte in Gedanken Begegnung und Gespräch so: »Dem Drillinger brennt seine Situation auf die Nägel und nun möchte er sich als unschuldiges Opferlamm hinstellen. Für so herzhaft hätte ich ihn aber wirklich nicht gehalten, seinem schlechten Gewissen auf diese Weise Luft zu machen. Ohne[324] Zweifel hat er Wind davon, daß wir durch eine wertvolle Denunziation seiner verräterischen Verbindung mit dem Agenten der französischen Spionage, dem Kognak – Musterreiter Paillard, auf der Spur sind. Nun spielt er bei der ersten persönlichen Begegnung mit einem Polizeiorgan den Naiven! Der wird Augen machen, wenn wir einmal das Material soweit beisammen haben, daß wir ihn mitsamt seinem Bankier Weiler aufheben und einspunden können ... Und dann zu guterletzt, als den Dritten im Bunde, den Preßbanditen selbst!«

Das Atelier des Bildhauers Achthuber lag an dem Knie, welches die Wäscherinstraße »Gries« mit dem Gäßchen »Zum Rosenbusch« bildete, ganz am nördlichen Ende des Lehel-Stadtviertels. Es war ein hoher, neuer Bau, der, von außen erkennbar, außer der Werkstatt nur noch wenige Räume zum Wohnen enthielt. Die weißgetünchte Wand gegen die Straßenseite zeigte neben der Eingangsthür ein sehr großes Atelierfenster und daneben einige kleinere schmale Fenster. Jenseits der chaussierten Straße, die vom Englischen Garten hinaufführte, dehnten sich hinter einem niedrigen Plankenzaun Rasenplätze, die der Bebauung harrten, und Wiesen,[325] mit alten Pappeln beseht und von Bächen durchzogen, die in die nahe Isar mündeten, nachdem sie ihrer Dienstbarkeit als treibende Kraft in den städtischen Mühlen und Fabriken entronnen waren.

»Ich störe bei der Arbeit? Verzeihung, Herr Achthuber!« sagte Drillinger, die Thür in der Hand behaltend, unentschieden, ob er eintreten oder sich wieder zurückziehen solle. »Mein Name ist Max v. Drillinger. Ich kann wohl später vorsprechen ...«

Am Modelliertische mitten im Atelier stand ein mittelgroßer Mann von echt germanischem Typus in nachlässig stolzer Haltung, den hellen, durchdringenden Blick fest auf den Eintretenden gerichtet, in der einen Hand einen nassen Thonbatzen, in der andern das Modellierholz, die Ärmel aufgestülpt, den Kopf mit einer Richard Wagner-Mütze bedeckt, die der Künstler jetzt mit dem Handgelenk in den Nacken streifte.

»Nein, bitte, eintreten! Man stört mich immer, aber das schadet, nichts. Ich arbeite ruhig weiter. Kommen Sie nur herein, Herr Baron. Willkommen!«

Das klang so fest, ruhig und herzlich zugleich, daß Drillinger entschlossen die Thür hinter[326] sich in die Klinke drückte und mit ausgestreckter Hand aus den Bildhauer zutrat.

»Ja,« lachte dieser, »die Hand kann ich Ihnen noch nicht geben, die ist ganz voll Schöpfungsdreck, Erdenkloß, wie's in der Bibel heißt. Das können wir dann nachholen. Bitte, suchen Sie sich einen Platz, dort am Vorhang, da ist noch ein leidlicher Stuhl. Nicht wahr, es sieht schrecklich unsauber bei mir aus? Entschuldigen Sie, mein Modell wird unruhig. Nur noch ein Viertelstündchen, dann sind wir mit dem Hiob für heute fertig.«

Das Modell, ein alter Herr mit verwildertem Kopf und entblößtem Oberleib, hockte auf einem Tritt in der Ecke.

»So, jetzt wieder stillehalten, Mister John, reden dürfen Sie jetzt auch wieder, dieser Herr hier verrät nichts, das ist ein Kunstfreund und Menschenfreund zugleich.« Und gegen Drillinger gewendet: »Mister John ist nämlich kein Professionsmodell, Herr Baron, sondern ein guter alter Freund von mir aus meiner amerikanischen Zeit. Er leistet mir einen großen Dienst, indem er mir sitzt.«

Der alte Herr seufzte. Seine Stellung war so, daß er den Baron nicht sehen konnte.[327]

Während Drillinger dem Künstler in rücksichtsvoller Entfernung über die Schulter blickte, flüsterte ihm dieser zu: »Sie haben es gut getroffen, Herr Baron. Der alte Herr ist nämlich nicht ganz ...« Achthuber deutete mit dem Modellierholz nach seiner Stirn. »Sie werden es gleich hören. Ein toller Weltpilger.«

»Fahren Sie nur in Ihrer Erzählung fort, Mister John, ich arbeite ganz gut dabei, Sie wissen ja, wie mich jedes Wort interessiert.« Und sich wieder flüsternd gegen Drillinger neigend: »Es beruhigt ihn nämlich, wenn er vor mir seine Wahnideen auskramen kann. Ich kenne die närrische Geschichte längst auswendig. Hören Sie nur, es ist psychologisch nicht ohne Reiz, oder wenn Sie lieber wollen, sehen Sie einstweilen meine Sachen an.«

Drillinger stäubte den Stuhl mit seinem Taschentuch ab und setzte sich nieder. Achthuber schaffte emsig weiter und nahm vorerst keine Notiz mehr von ihm. »In was für eine Gesellschaft bin ich da geraten?« fragte sich Drillinger kopfschüttelnd und betrachtete sich die merkwürdige Umgebung. Von den Wänden grinsten allerlei Karikaturen in Köpfen, Reliefs und Medaillons auf ihn herab ...[328]

»Nun, Mister John, wo sind wir stehen geblieben?« ermunterte der Bildhauer sein noch immer in Schweigen verharrendes, nur unruhig mit dem Kopfe wackelndes Modell. »In Amerika, nicht wahr?«

Jetzt ertönte eine leise, hohle Stimme wie aus dem Grabe, ohne Betonung über die Sätze hingleitend: »Mittlerweile war meine Familie aus Amerika zurück. Nur Afra war drüben geblieben. Schreitet man unentwegt über tausend Steine zum Ziele menschlicher Harmonie, so erscheint man dünkelhaft oder verrückt. Tadelt man begegnendes Unrecht in jeder Gestalt, so schreien die Gestörten und die Feigen: Bösewicht! 1862 hat ein Herr hier auf der Maximiliansbrücke im Vorbeihuschen mir – warum? – zugeraunt: Kommen Sie nur einmal wieder nach Newyork, dann sollen Sie etwas erleben, und der nämliche 1870 auf dem Broadway meiner Afra: You only come to Munich again you shall see!«

»Ziehen Sie die linke Schulter ein wenig hinauf, mein lieber John!« mahnte Achthuber.

Die warme, feuchtdunstige Luft und das Atelierlicht wirkten auf Drillinger einschläfernd. Die Rede des Alten tönte ihm wie Ammensingsang.[329] Er empfand nur einen körperlichen Eindruck und wußte nichts daraus zu machen. Eine wunderbar ergreifende Medusa über der Thür faszinierte ihn.

Mister John fuhr fort: »Afra war mir damals noch nicht nahe getreten. Heute erinnere ich mich an allerlei Münchener Redensarten aus meiner ersten amerikanischen Zeit. Dann mußte ich das Klima und das Leben dort meiden. Ich ging über den Ozean und das war unser Unglück; sie konnte meine Abwesenheit nicht ertragen. Die Familie, in deren Schoß sie Aufnahme gefunden, verlangte Garantien für meine Rückkehr. Bei Mißtrauen soll sie mitkommen, hatte ich erwidert. Und dann war sie tot, tot, tot ... Dann kam der Teufel über sie: Du hast sie gemordet, und sie drohten. Beobachtung, Argwohn, Flüstereien überall, wohin ich kam, in London, Paris, Berlin. Um so satanischer, als ins Kalkül fielen meine Einsamkeit, Unthätigkeit, Nervosität, Provokationsgruben, der Chauvinismus, royalistische Verbindungen ... Die in weiter Welt auf Revanche oder Ranküne lauernden Widersacher; endlich die Hoffnung, ich möchte irgendwo noch irgendwas begehen, woraus man Greifbares gegen mich[330] schmieden kann. Aber Mister John thut das nicht ...«

»Nein, er thut das nicht,« sagte Achthuber fest und gütig, »aber mein lieber John, neigt jetzt den Kopf ein wenig nach links, dann sind wir gleich fertig.«

Drillinger wandte den Blick auf den Boden und scharrte mit dem Fuß ein zerrissenes Zeitungsblatt näher heran. Achthuber gewahrte es und lächelte. Es war eine Nummer der »Kloake«.

Das Hiobmodell sprach unermüdlich weiter: »Bald hatte man gleichgestimmte Seelen, Flachköpfe, Schufte auf Seite der Hetzlustigen. Gewohnheitsverbrecher scheinen davon angeekelt worden zu sein, sonst hätte deren Augenblicknutztrieb mich auf einem entlegenen Weltgange beseitigen gekonnt. Endlich stutzten die Braven in der Millionenstadt und rückten. In München rauscht die Isar, der Andere ist jetzt stille. Manche gaben mir ihre Sympathieen zu verstehen. Was seitdem in der Umgebung sich abgespielt hat, davon wissen viele Vieles. Verrückter Mann! Abschaffen, asylieren, exilieren – Weltstadttöne, die hier nicht klingen. Hochstehende werden überall düpiert, meiden direkte[331] Kenntnisnahme, sind ohne Gegengewicht. In ihrem durchseuchten Hohlraum werden die Martern als verdiente betrachtet. Mich als schuldig hinzustellen! Hahaha. So lang die Kleine lebt ...«

»Und jetzt sind wir fertig für heute. Danke, alter Freund John. Darf ich Sie morgen Vormittag wieder erwarten?«

Der Alte ordnete seine Kleider und verschwand leise. Achthuber nickte ihm einen stummen Gruß nach, dann deckte er ein nasses Tuch über die Figur auf dem Modelliertischchen, wusch und trocknete sich die Hände und ging auf Drillinger zu. »Und nun erst Grüß Gott, Herr Baron, Ihr Besuch ist mir angenehm; er wurde mir schon von Italien aus avisiert. Sie selbst sind mir ja kein Fremdling. Ich bedauere nur, daß ich Ihre Geduld auf die Probe stellen mußte.«

»Das macht nichts, Herr Achthuber; das nichtsnutzige Frühlingswetter liegt mir ein wenig in den Gliedern und macht mich schlaff, sonst hätte die interessante Szene, der ich beiwohnen durfte, mich gewiß mehr angesprochen.«

»Ja, dieser Mister John ist ein unbezahlbares Studienobjekt. Sein eigentlicher Name[332] ist Flocker. Man siehts dem harmlosen Verrückten nicht an, was er schon alles hinter sich hat. In jedem Frühjahr kommt er zur Kur nach Brunnthal. Ein familien- und heimatloser Kunstgelehrter, durch eine kleine Rente unabhängig gestellt, durchpilgert er die Welt. Als ich vor drei Jahren in Amerika weilte, machte ich seine Bekanntschaft. Seitdem besucht er mich regelmäßig. Herzensgeschichten, die ihm den Verstand angebrannt haben, fesseln ihn auch ein wenig an mich. In meiner kleinen amerikanischen Braut – sie ist gegenwärtig in einem Dresdener Pensionat – will er das Abbild seiner zu Grunde gegangenen Geliebten erkannt haben; auch der Zufall des Namens scheint ihm imponiert zu haben. Aber was schwatze ich da von deutsch-amerikanischen Abenteuern, kommen wir zu unsern gemeinsamen Freunden, unserm Architekten Zwerger und seiner Verlobten Flora Kuglmeier!«

Drillinger machte große Augen: »Seiner Verlobten, sagen Sie?«

»Ich plaudere vielleicht aus, was er noch geheim gehalten wissen will. Aber es ist so. Fräulein Flora hat mir die überraschende Nachricht[333] erst diesen Morgen geschickt und mir zugleich Ihren Besuch angekündigt.«

»Ich finde den Zusammenhang nicht ...«

»Den werden Sie gleich haben. Wollen Sie sich da herauf bemühen? Hier sitzt sich's besser.« Achthuber war die Treppe an der Schmalwand des Ateliers hinaufgeeilt und hatte den grünen Vorhang zurückgeschlagen. »Hier ist mein Plauderwinkel und mein Observatorium.«

Es war ein lauschiges Gemach, zeltartig aus bunten Binsenmatten und Teppichen gebildet und mit einem fellbelegten Divan ausgestattet.

Nachdem sich die Herren niedergelassen hatten nahm Achthuber seinen Bericht wieder auf: »Meine nähere Bekanntschaft mit Zwerger verdanke ich meinem kurzen Rom – Aufenthalt im letzten Winter. Wir sprachen viel über die Münchener Kunstzustände, tauschten unsere Zukunftspläne aus, – ein genialer Mensch, voll Feuer und Phantasie! – weitgereist und viel erfahren wie wir beide waren, gewohnt, die Dinge von großen Gesichtspunkten zu betrachten, fanden wir uns schnell; ich stellte ihm noch meine ehemalige Schülerin – im Zeichnen und Modellieren – die nicht weniger geniale Flora Kuglmeier vor, Exhauslehrerin eines weitläufigen[334] Vetters von mir ...« (hier hüstelte der Sprecher unwillkürlich ein wenig) »und reiste dann wieder ab. Dringende Aufgaben riefen mich nach München zurück. Ich machte mir überdies nicht übermäßig viel aus Italien ... Ja, ja, Herzen haben ihre Schicksale: Zwerger schien mir das Ewigweibliche etwas von oben herab zu nehmen, schopenhauerisch infiziert, wie mir schien – und jetzt, wie's halt jedem beschieden ist, wenn sein Stündlein der Einkehr und der definitiven Entschlüsse geschlagen hat. Ich gönn' ihm das seltene Glück.«

»Von alle dem hat er mir nichts geschrieben. Sein letzter Brief schien mehr eine übermütige Humoreske, worin allerdings der mir bis dahin fremde Name Flora Kuglmeier gar sonderbar gaukelte. Wer ist denn die Dame eigentlich?«

»Fragen Sie vielmehr, Herr Baron, was ist denn die Dame eigentlich, und ich antworte Ihnen: eine Perle! Ah, Sie schütteln den Kopf? Ich war auch lange ein sündhaft ungläubiger Thomas. Sie können sich ja denken, ein Künstler, nicht wahr, der Verkehr mit den Modellen, den professionsmäßigen und – den andern; da kommen die Damen nicht, uns ihre Tugend und Keuschheit anzubieten oder uns mit frommen[335] Bußgedanken zu ködern. Und wir sind ja allzumal Sünder – ich muß Ihnen nur gelegentlich einmal meine intimeren Skizzen zeigen, proh pudor! – aber ich schwöre Ihnen bei meiner Künstlerehre, bei der kleinen Flora Kuglmeier lernte ich Respekt.«

»Das ist allerdings seltsam,« sagte Drillinger in Gedanken und ließ seinen Blick über die prachtvolle Figur des Künstlers gleiten.

»Glauben Sie mir, Herr Baron, diese Erfahrung war mir eine wahre Herzstärkung. Zuerst freilich war ich ein wenig beschämt, dann aber jubelte ich auf: Gott sei Dank, es giebt noch reine Frauenherzen und Frauenleiber! Besonders für einen Künstler ist diese Erfahrung notwendig und dieser Glaube ... Im Keuschen liegt eine göttliche Kraft. Unser Zwerger ist ein seliger Mann. Jetzt ist er geborgen. Jetzt wird er sich auch zum rechten Zielbewußtsein aufschwingen, nachdem sein Leben ein Zentrum in der Liebe gewonnen. Wenn ihm die Umstände nur ein wenig hold sind, wird er mit der Ausführung seiner Isarpläne seine Künstlerlaufbahn krönen.«

»Was ist es denn eigentlich mit diesen Isarplänen?«[336]

»Das ist leicht und schwer zu sagen, je nachdem. Im Prinzip handelt es sich darum, diese landschaftlich einzigen Bauplätze an den Isarufern der gemeinen Zinshaus-Bauspekulation zu entreißen und sie einem dem künstlerischen Ruhme Münchens würdigen Zwecke zu weihen. Es gilt da freilich zunächst einen heißen Kampf mit dem barbarischen Mammonismus, der alles phantasievoll Grandiose, sofern es nicht sofort rentierlich im kapitalistischen Sinne, mit Füßen tritt. Und hier soll für die Kunststadt München eine Entscheidungsschlacht geschlagen werden, welche die künstlerische Vorherrschaft Bayerns auf Jahrhunderte hinaus in Deutschland befestigen oder vernichten soll. Ein halbes Dutzend lumpiger Millionen und der königliche Schutz – und die Isarufer bedecken sich nach den Zwergerschen Entwürfen mit Kunstausstellungsbauten, Museen, Galerieen, dazwischen Privathäusern im reichsten Pavillonstil, Gärten, Anlagen, Brunnenwerken, Statuen und so weiter, wie die Welt nichts Ähnliches gesehen ...«

Drillinger lächelte: »Millionen und königlicher Schutz! Unter den bekannten obwaltenden Umständen!«

»Vorerst heißt's nur Zeit gewinnen – für[337] die Veränderung der augenblicklichen Umstände. Von heute auf morgen kann ein ungeheurer Wechsel eintreten. Der König ist krank, weltflüchtig, regierungsmüde. Er hat Außerordentliches für das Kunstgewerbe geleistet, ja, man kann sagen, daß er das bayerische Kunstgewerbe geschaffen und auf die gegenwärtige Höhe gebracht hat. Aber jetzt sind seine Mittel erschöpft. Er ist am Ende seiner Kraft. Ultra posse nemo obligatur. Nicht einmal ein König. Lassen Sie die Krone auf ein anderes Haupt übergehen ... In diesem Sommer feiert Münchens Künstler- und Bürgerschaft das Ludwigs – Jubiläum, die Hundertjahrfeier der Geburt Ludwigs I., des größten Kunstkönigs. Sein zaubermächtiger Geist ist im Wittelsbacherhause noch heute lebendig; stellen Sie ihn im rechten Mann auf den rechten Fleck und Sie werden Wunder erleben!«

»Ich bewundere ihren kühnen Gedankenflug, obwohl ich ihm nicht zu folgen vermag. Industriealismus, Kapitalismus, sie haben nun einmal das Heft in Händen und werden sich's nicht durch die glänzendste Künstlerphantasie entwinden lassen ... Selbst königliche Macht ...[338] Die Zeiten Ludwigs des Ersten sind nicht mehr die Ludwigs des Zweiten ...«

Es klingelte. Achthuber eilte an die Thür und steckte den Kopf hinaus.

»Nein, Isidor, melden Sie dem Herrn Bankier Weiler, daß ich ihn jetzt unmöglich befriedigen kann ... In vierzehn Tagen wollen wir sehen ... Wie? Pfand? Er soll sich selbst oder den Gerichtsvollzieher herausbemühen und sich nehmen in drei Teufels Namen, was ihm gefällt. Bargeld hab' ich jetzt nicht. Den Wechsel nehmen Sie nur wieder mit. Adieu ... Nochmal: nein! Vorwärts, sag' ich ... Betrachten Sie sich meinetwegen als hinausgeworfen ...«

Die Thür flog zu. Zwischen den dichten rötlich-blonden Augenbrauen des Künstlers stand eine düstere Falte.

Zu Drillinger zurückkehrend: »Ich bitte um Vergebung. Ja, ja, das Geld im Kleinen ist ein schändliches Ding. Mein Bankier hat eine wahnsinnige Inkasso – Wut ... Mit Millionen! ist bequemer arbeiten, die sind weit nobler und gefügiger, als die Tausender. Kleine Summen sind immer plebejisch ...«

Drillinger hatte sich schweigend erhoben.[339] Der Zwischenfall, von dem er unfreiwilliger Zeuge gewesen, drückte auf seine Stimmung und ließ die kaum verscheuchte Schwermut wieder die Oberhand gewinnen.

»Wollen Sie einen Blick auf meine Arbeiten werfen?« fragte Achthuber sich zusammennehmend. »Es sind Einfälle darunter, die Ihnen nicht mißfallen werden. Einzelne frühere Werke werden Sie bereits vom Kunstverein her oder aus Kritiken kennen. Was ich im Kunstverein ausstellte, war natürlich dummes Zeug, Schaugericht für Krethi und Plethi; ist auch längst verkauft. Dergleichen mache ich nie wieder. Konzessionen schwacher Stunden und gewisser Bedürftigkeiten, deren man sich besser schämt. Die Kritik pflegt solche Sünden natürlich mit höchstem Lobe auszuzeichnen. Waren Sie nicht selbst eine zeitlang kritisch thätig? Es ist mir als ... kurz vor meinem Abstecher nach Amerika ...«

»Meinen Sie mein journalistisches Unternehmen mit dem Baron Almen? Ein unglücklicher Versuch. Seitdem habe ich die Hand von der Presse gelassen ...«

»Das verdenke ich Ihnen nicht. Unsere Preßverhältnisse lassen viel zu wünschen übrig.«[340]

»Wo ein Preßbandit möglich ist, wie dieser Kloakenhäuptling ...«

»Den rechne ich nicht zur Münchener Presse. Nein, das möchte ich unserer Journalistik nicht anthun, so wenig ich mich ihr zu Artigkeiten verpflichtet fühle; sie hat mich, besonders in meinen Anfängen, oft gemein genug behandelt. Jetzt schweigt sie mich fleißig tot, das nehme ich ihr weniger übel. Aber dieser Preßbandit ist für mich doch nur eine lustige Person. Neulich wollte er sich auch an mir reiben, aber ich habe ihm einstweilen einige Hiebe brieflich aufgesalzen, die fruchten werden. Ich stehe nämlich in gewissen Beziehungen zu ihm, sehr sonderbarer Natur, von früher her, durch sein Weib ... Nicht wahr, da staunen Sie? Kennen Sie sein Weib? Ich meine nur so ...«

»Vom Sehen? Allerdings.«

»Natürlich nur vom Sehen. Ich auch. Nur habe ich sie besser gesehen, als irgend einer, als Aktmodell nämlich, in ganzer Figur, wie sie Gott geschaffen und ein Tätowierkünstler verbessert hat. Das ist eine furchtbar komische Geschichte. Nach der Anrempelei des Preßbanditen habe ich keine Veranlassung mehr, sie länger geheim zu halten. Also die Donna kam aus[341] Hamburg hieher, aus irgend einem Matrosen-Paradies. Eine teufelmäßige Schönheit, die hier zuerst mit Modellstehen ihren Weg machen wollte. Die wenigsten Künstler wußten etwas mit ihr anzufangen; auch wollte sie sich nicht weiter als bis zu den Lenden hergeben. Da kam sie zu mir – und beehrte mich mit einem unfaßlichen Vertrauen. Das heißt: Hofbräuhaus-Bock drei Glas, hierauf Marsala anderthalb Flaschen und einige Fingerhüte voll Chartreuse hatten sie beschwipst ... Daran war ich nicht ganz unschuldig ... Gewisse Frauen sind erst im beschwipsten Zustande zu ergründen, dann aber unfehlbar ... Und meine Entdeckung! An der Innenseite beider Schenkel von der Kniekehle bis oben hinauf tätowiert: einen Löwenkampf unter Palmen darstellend! Die Bestien fletschen die Zähne, hauen mit den Schwänzen um sich, packen sich im Nacken, in den Flanken – ein dämonisches Kampfbild, naiv aufgefaßt, grotesk dargestellt, aber von unerhörter Wirkung an dieser Stelle ...«

»Das möcht' ich wahrhaftig ... nein, nicht in natura, aber in einer beglaubigten Abschrift sehen.«

»Der Wunsch ist berechtigt und soll erfüllt[342] werden. Sie sind zwar nicht der Erste, dem ich's zeige, aber der Erste, dem ich den Namen der Besitzerin des lebendigen Originales mitteile. Kommen Sie!«

Achthuber führte den Baron in eine verschlossene Abteilung des Ateliers.

»Das ist mein Raritätenkabinet, das ich nur ganz Intimen öffne. Einem Freunde Zwergers biete ich den Eintritt als Gastgeschenk.«

»Ich werde diese Auszeichnung zu würdigen wissen,« antwortete der Baron verbindlich.

»Das, ist der Tempel der Natürlichkeit oder sagen wir schöner: Vermählung von Natur und Kunst. Für klassisch verdorbene Akademikeraugen ein Ort des Schreckens und der Qual ...« fuhr der Bildhauer fort, nachdem er von einigen Gruppen und Statuen die schützende Hülle, grobe, staubgraue Tücher, genommen. Längs der Wand standen auf einem niedrigen Simse eine Reihe von kleineren Skizzen. »Suchen Sie!« rief Achthuber.

»Hier das Frauenzimmer auf dem ominösen Stuhl? Erlauben Sie, das ist unerhört, das ist kein Vorwurf für die bildende Kunst!«

Der Künstler verzog die Lippen. »Das müssen die Herren Nichtkünstler doch wohl den[343] Künstlern zu entscheiden überlassen ... Sehen Sie nur genau hin, Herr Baron, das ist wirklich der ominöse Stuhl; Sie haben richtig geraten. Die genaue Kopie des Stuhls, der im ärztlichen Untersuchungsbüreau von der Polizeibehörde bekannten Damen allwöchentlich angeboten wird. Der Künstler, dem nichts Menschliches fremd sein darf, hat ein Recht, sich für Personen, Dinge und Zustände nachschöpferisch zu interessieren, welche in der profanen Alltagswelt noch als die Domäne des Arztes, des Polizisten, des Richters betrachtet werden. Ei freilich, Venus, die Schaumgeborene – die Verführerin als strahlende Göttin – und ihr mit Mars erzeugter Sohn Amor oder Kupido oder Eros, dargestellt als neckischer Knabe mit Flügelchen an den Schultern, bewehrt mit Bogen und Köcher, aus dem er Liebespfeile schießt, oder mit einer Fackel, dem Sinnbilde brennender Liebe, diese mythologischen Kinderstubenscherze, das sind Vorwürfe für die echte, die ideale Kunst, nicht wahr? Nein, mein Herr, mit diesem verlogenen, konventionellen Schnickschnack wollen wir modernen Künstler nichts mehr zu schaffen haben. Unsere Seele schreit nach Erlösung von Unnatur und Lüge, wir sehen die[344] hehre Schönheit nicht in der klassischen Schablone, sondern in der Wahrheit, die vor unsern Augen liegt. Wir kehren uns nicht an die alten Muster, wir halten uns an den Geist, der in uns selbst lebendig ist und beugen uns in Ehrfurcht vor dem ewigen, erhabenen Urtext der Natur. Und darum schildern wir unsere Zeit und unsere Menschen, unsere Irrtümer, Thorheiten, Leiden, Hoffnungen und Ideale, wie die Alten die ihrigen geschildert haben. Dieser Stuhl hier und das Weib darauf mit den ausgespreizten Schenkeln und der Gerichtsarzt davor mit dem kühlen Aktendeckelgesicht – das sind Abschnitte aus der echten, wirklichen Venuslegende unserer Zeit, mit hoher obrigkeitlicher Approbation, ein Aufzug aus dem hundertaktigen Drama unseres modernen sozialen Elendes, das nur diejenigen nicht sehen, die es aus Feigheit oder eigener Niedertracht nicht sehen wollen ...«

Drillinger musterte die Gruppe aufmerksamer. »Ich kann mir nicht helfen, Herr Achthuber, so vollendet Ihr Werk auch sein möge und so frei von frivoler Effekthascherei – man wird Sie doch der Verirrung, ja der Freude an der Schweinerei bezichtigen ...«

»Lassen Sie sich ad vocem Schweinerei eine[345] Anekdote erzählen, Herr Baron,« sagte der Künstler gelassen, indem er eine reizende nackte Mädchengestalt auf der Drehscheibe so rückte, daß das hellste Licht auf die Rückenseite fiel. »Als der große französische Schauspieler Talma zum erstenmal den Brutus mit entblößten Armen und Beinen und echter römischer Tunika statt in dem bisher üblichen Phantasiekostüm spielte, da verließ seine Partnerin, Madame Vestris, empört die entweihte Bühne mit dem Rufe: ›Schwein!‹ ... Heute ertragen wir nicht nur, sondern wir fordern sogar echte Kostüme im Theater und das prüde Publikum findet sich mit nackten Schultern und Armen ganz gut ab, während es gegen nackte Füße oder Beine noch entrüstet aufschreien würde. Von dem Dichter oder bildenden Künstler hingegen verlangt es nach wie vor das lächerliche Phantasiekostüm der Konvention. Die Schwachköpfe mögen es ihm geben, die starken Naturen, die suveränen Künstler-Individualitäten, kümmern sich keinen Pfifferling darum, und wenn man ihnen auf Schritt und Tritt die, blödsinnige Insolenz entgegenschleuderte: ›Was, du kannst es wagen, uns zu schildern wie wir sind – du Schwein?‹ Lieber Herr Baron, aus der Perspektive des modernen Künstlers gesehen,[346] sind alle diese Moralitätsanfälle pure Kindereien, und die ganze konventionelle Moral, die den Leuten angedrillt wird, eitel Schwindel und Humbug. So lange diese Moral herrscht, ist kein Raum für die Sittlichkeit in der Welt. Und Sittlichkeit thäte uns so wohl wie echte Natur.«

»Wer ist diese herrliche Lichtgestalt?« fragte Drillinger träumerisch, längst nur noch Auge und den Ausführungen des Künstlers kaum ein zerstreutes Ohr leihend.

»Meinem französischen Lieblingsschriftsteller Flaubert zu Ehren habe ich sie ›Salambo‹ getauft. Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte von dem Töchterlein Hamilkars kennen. Salambo ging in das feindliche Lager, schlief die Nacht über im Zelte des feindlichen Heerführers, um den Schleier der Göttin Tanit, den dieser geraubt, wieder zurück zu holen. Eine unbefleckte Jungfrau, wie sie gekommen, soll sie wieder nach Karthago zurückgekehrt sein.«

Drillinger seufzte ironisch. »In Karthago muß dann wenigstens die jungfräuliche Keuschheit intensiver, oder die Weiberlust der Heerführer bedeutend impotenter gewesen sein, als bei uns ... Je nun, die Welt ist so groß und[347] so verschieden ... Salambo hin, Salambo her, das ist ein wundersüßer Frauenleib. Ach, ich hätte ihn nicht ungenossen aus meinem Zelte entweichen lassen – Sie wohl auch nicht, Herr Achthuber ...«

»Meine keusche Salambo verführt Sie!« sagte der Künstler in vorwurfsvoll singendem Tone mit drohend erhobenem Finger. »Herr Baron, das ist patentierte und garantierte Jungfräulichkeit ... aller Liebe Müh' umsonst. Betrachten Sie hier mein ›asketisches Ideal‹, das wird Sie abkühlen, oder dort meine Gruppe ›Leben aus dem Tode‹, die Entbindung einer Sterbenden, das wird Sie erschrecken. Auch meine ›Würde der Arbeit‹, wie ein verunglückter halbverhungerter Künstler einem Parvenü-Protzen die Stiefel putzt, ist ein gutes Ableitungsmittel für wollüstige Gedanken. Das ›asketische Ideal‹ ist eine Charakterstudie nach dem Leben des Einsiedlers im Steinbruch von Höllriegelskraut. Lauter moderne Stoffe! Hier ›die kleinen Propheten‹ sind aus unserem Landtag, Abteilung, für klerikal – mittelalterliche Halluzinationen, geholt ...«

Das war umsonst geredet. Max v. Drillinger lag in Salambo's Fesseln, daß er alles[348] andere übersah und überhörte. Diese Welt von jugendlich knospender, taufrischer Schönheit, hat er sie nicht schon beglückt in seinen Armen gehalten? Erinnerte dieser wonnesame Leib der Karthagerin nicht in jeder Linie, jeder Schwellung, jeder Bebung an die zierliche Huldgestalt seiner kleinen Sängerin Fifette? Und wie hat er sie in diesen Tagen vernachlässigt! Konnte er nicht jeden Augenblick niedertauchen in ihre Liebe wie in einen Jungbrunnen und alles Leid vergessen? Er hatte einen Entschluß gefaßt – diese Nacht bei ihr! Nun riß er sich von dem Bilde los.

»In der That, Sie haben entzückende Sachen hier. Wenn Sie gestatten, werde ich mir das alles später einmal mit Muße betrachten. Ich muß in diesen Tagen einen kleinen Erholungsausflug machen; wenn ich zurückkehre ...«

»Sie sollen mir stets willkommen sein, Herr Baron. Inzwischen werden wir hoffentlich auch neue Nachrichten von unserem gemeinsamen Freunde Zwerger erhalten haben ...«

»Wer ist das hier?« fragte Drillinger im Hinausgehen, mit flüchtigem Blicke auf eine Porträtbüste weisend. »Den sollte ich kennen.«

»Ein moderner Antinouskopf, nicht wahr?[349] Das ist ein junger Philologe, ein Unglücksmensch von einem Ideologen. Schlichting heißt er.«

»Und das hier?«

»Eine Engelmacherin, sagt man. Ich will nicht darauf schwören. Man sagt ja so vieles.«

»Was Sie für seltsame Bekanntschaften haben ... Eine Engelmacherin!«

»Der Thiergarten Gottes und seiner Künstler ist groß.«

Es war der Kopf der Elisa v. Hutzler.

»Und das?«

»Eine Blumenmacherin und angebliche Baronesse dazu. Als Baronesse hatte sie gar nichts, als Blumenmacherin drei bis vier Mark in der Woche. Ihre Schwester desgleichen. Um nicht zu verhungern ... die alte Geschichte ... Die satte Tugend geht vorüber und hält sich die Nase zu. Die Polizei stellt eine Karte aus und erhebt die Taxe.«

Drillinger stand sinnend, als suche er nach einer Ähnlichkeit mit einer von zwei jungen Dämchen, die ihm kürzlich begegnet ... auf der Maximiliansbrücke und unter einem Thorweg ... Es ging ihm so vieles im Kopf herum. Das Leben wird mit jedem Tag komplizierter.[350]

An der Thür sich umwendend, gewahrte er auf einem kunstvoll gearbeiteten Postamente eine jugendliche Frauenbüste, die ihm schon beim Eintritte aufgefallen war, weil sie abseits von den anderen Bildwerken wie auf einem Ehrenplatze stand. Es war ihm auch gewesen, als hätte ihr der verrückte Flocker beim Hinausgehen heimlich eine Kußhand zugeworfen.

»Verzeihen Sie eine letzte Frage, Herr Achthuber: wer thront dort gleichsam als der weibliche Schutzgeist dieser kunstgeweihten Stätte?«

Über das edle Gesicht des Künstlers flog ein siegesstolzes Leuchten und mit feinem Lächeln sagte er, die Kraft seiner Stimme zu geheimnisvollem Flüstern dämpfend: »Meine Herzensliebschaft, meine Afra!«

»Afra?« fragte Drillinger nachdenklich wie einer, der sich auf verblaßte Träume und erloschene Zusammenhänge besinnt. »Die im Roman des Mister John eine Rolle spielt?«

Die Art des Fragens belustigte den Künstler; sie sprach ihn an wie frauenhafte Neugierde. Nun wollte er zum Schluß mit dem Frager eine kleine Komödie spielen: »Ich vermute sogar, daß sie eine der Ursachen von Johns Irrsinn ist, insofern, als Johns etwas überempfindliches Hirn[351] durch die Abweisung, die er von Afras Mutter auf sein hitziges Liebeswerben erfahren, übergeschnappt ist ... Mister John leidet zeitweilig auch an der Wahnvorstellung, er sei Afras, meiner Zukünftigen, leiblicher Vater ...«

Nein, das Fabulieren wurde ihm doch zu schwer und es stritt auch gegen seine Gewissenhaftigkeit, ein ihm so teures Wesen wie seine Afra in eine romantische Komödie zu verflechten. Was wußte er auch von Afras Vorgeschichte mehr, als daß ihre Kindheit im Findel- und dann in einem Erziehungshaus für Waisenkinder in Newyork verflossen ist? Also genug des grausamen Spiels!

Drillinger erwiderte: »Hm, seltsame Schicksale. Die Geschichte müssen Sie mir einmal deutlich erzählen, wenn ich wiederkomme, Herr Achthuber. Afra, sonderbar ...«

»Mit Vergnügen, Herr Baron. Es ist zwar schauderhafte Romantik, und ich weiß nicht, ob ich, der Naturalist, sie Ihnen zu Dank vortragen kann. Immerhin!«

»Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, Mister John als Modell zu einem Hiob zu benutzen?«

»Er hat mich selbst darauf gebracht. Mit[352] Vorliebe, das heißt mit der den Verrückten eigenen Hartnäckigkeit verglich er sich mit dem alttestamentlichen Dulder. Gleich dem Hiob habe ihn der grausame Gott, der überhaupt der Grund alles Übels in der Welt sei, weil er mit dem Menschen experimentiere wie ein Vivisektor mit seinen Versuchstieren – ihm, dem Mister John, seine Familie und seine Reichtümer genommen und, nicht zufrieden mit dem angestifteten Unheil, auch noch seine Freunde gegen ihn aufgehetzt und seine Gesundheit geschädigt. Außer sich selbst und dem Pechvogel Hiob wisse er niemand, dem Gott so sinnloses und grausames Leiden auferlegte ...«

»Und das alles um einer Afra willen, die ihn nicht einmal erhört hat! Das ist freilich göttlicher Widersinn. Wenn wir andern um der Weiber willen leiden, wissen wir wenigstens warum ...« Dem Künstler die Hand reichend: »Sie haben mich mächtig angeregt, Herr Achthuber. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis komme ich wieder. Ich wohne am südlichen Ende der Stadt, Sie am nördlichen. Uns beiden rauscht die nämliche Isar, die es unserer Zwerger« ... auf einen andern Gedanken überspringend: »Herrgott, daß er sich verlobt hat, wirklich verlobt,[353] ist doch eine riesige Neuigkeit ... Leben Sie wohl, Herr Achthuber. Ich fliehe ...«

»Gleichfalls. Das heißt: ich bleibe! Wiedersehn, Herr Baron!«

»War Drillinger bei Ihnen gewesen?« fragte der Photograph Attenkofer eintretend. »Bin ihm an der Ecke begegnet, er schien aber so in Gedanken und machte so lange, eilige Schritte, daß er mich gar nicht sah.«

»Ja, das ist auch so einer, dem der liebe Gott die Füße mehr zum Davonlausen, als zum festen Schritt oder zum Zustoßen und Zertreten gegeben hat. Der richtige Modejournaloffizier außer Dienst in seinem Äußern. In seinem Innern? Wer weiß! Ich hatte mir ihn anders vorgestellt, weniger abgenutzt und effeminiert, weniger ermüdet und zerfahren. Er hat einen Stich ins Hysterische. Künstlerisch ist er nicht uninteressant. Ganz klug werde ich erst aus ihm werden, wenn ich ihn einmal unter mein Modellierholz bekomme ... Helden nur unter scharfem Kommando, in Reih und Glied, wo's kein Entrinnen gibt; auf sich selbst gestellt, schändliche Zärtlinge ... Und so etwas macht das Weibsvolk toll ... Ich hab' das Motiv ... Ein guter aktueller Typus. Der[354] soll mir nach Mister John an die Reihe kommen.«

»Schon wieder in Gedankenarbeit? Ich will Sie nicht lange stören. Ich wünsche Ihren Rat, lieber Freund. Raßlers Neffe hat mir diesen Morgen angetragen, in sein Geschäft einzutreten. Soll ich annehmen? Er bietet mir eine sehr angenehme Stellung. Ich wäre damit vielem aus dem Wege, was mir bisher das Leben verbitterte.«

»Natürlich sollen Sie annehmen. Aber mit klarem Kontrakt. Alle Raßler sind mehr oder weniger Tröpfe und Spitzbuben.«

»Sie sind streng, aber ich danke Ihnen für den Wink. Mein ganzes Unglück war meine Armut. Und als armer Teufel wurde ich immer noch ausgebeutet und wo man mich nicht ausbeuten konnte, verfolgte man mich.«

»Selbstverständlich. Den Armen traut man stets das Erbärmliche zu. Die Wohlhabenden gelten zugleich als die Wohldenkenden. Sie Narr des Mitleidens und der Entsagung! Nur der Erfolg, je materieller er sich in Besitztümern ausspricht, desto besser – gibt moralische Autorität.«

»So klug bin ich endlich auch durch Schaden[355] geworden. Im Raßlerschen Geschäfte hoffe ich die Mittel zu erwerben, um ...«

»Ich wiederhole: strammen, klaren Kontrakt. Was gibt's sonst Neues?«

»Ihr Kollege Echter ...«

»Verzeihung, Konkurrent wollen Sie sagen. Unter den Künstlern gibt's heutzutage keine Kollegen, nur Konkurrenten. Nur Stümper und Lumpe trumpfen sich altfränkisch als Kollegen auf. Echter ist wenigstens kein Stümper. Er ist ein Konkurrent, den man ernst nehmen muß. Was ist's mit ihm?«

»Echter hat richtig den Auftrag bekommen, für den König den großen Relief-Fries, ›Triumphzug des Bacchus und der Ariadne‹ auszuführen. Er hat mich gestern ersucht, den Karton zu photographieren.«

Achthuber runzelte die Stirn. »Also hat er mir richtig die schöne Beute abgejagt ...«

»Professor Schnürle, der alle Schleichwege kennt, die zum König führen, soll ihm wacker geholfen haben. Ein unermüdlicher Wühler ...«

»Das überrascht mich weniger. Dieser Pinselmeister ist ja mit den Füßen und der Schnautze geschickter, als mit den Händen, daher seine raschen Erfolge. Schnürle und die andern akademischen[356] Dunkelmänner sind ja wütend auf mich und haben allen Grund dazu, seit ich allmählich mit meiner Richtung durchdringe und die jungen Talente sich um mich scharen, obwohl ich weder Ämter noch Ehren und Würden und Aufträge zu vergeben habe. Aber dieser Echter! ... Wie ist denn seine Arbeit?«

»Nicht übel. Das Durcheinanderwogen von liebestrunkenen Gestalten ist sogar vortrefflich. Allein gewisse Gruppen scheint er Ihrem Entwurfe direkt gestohlen und nur wenig umgeformt zu haben, um's nicht merken zu lassen, zum Beispiel die zwei Frauen, die sich taumelnd in die Arme sinken, – wissen Sie, wozu Ihnen die Bertha Hohenauer damals Akt gestanden – und die andern, die vom Veitstanz des Rausches ergriffen. Auch die Szene, wo ein Triton die eben errungene Geliebte jubelnd in die Höhe hebt, daß ihre ganze unverhüllte Schönheit sichtbar wird, während ein Satyr lüstern nach ihrem Fuße hascht, erinnert an Ihre Konzeption; nur ist bei Echter alles geleckter und ohne Ihr Leben und Ihre Kraft.«

»Mag's ihm wohl bekommen! Beim Künstlerfestzug zu König Ludwigs Zentenarfeier werde ich ihm doch einen Possen spielen ...«[357]

»Echter und Schnürle sollen auch von den Zwergerschen Plänen durch Konsul Schmerold Wind bekommen haben und nun Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Leuten den Geschmack daran zu verderben.«

»Das wird ihnen schwerlich gelingen, wenn sie nicht dem ganzen Architektenverein von heute auf morgen andere Köpfe aufsetzen können – Köpfe nach dem Strohwischkopfmuster des Herrn Professors Schnürle. Zwerger hat das Votum des Architektenvereins und – sein Genie für sich. Daran werden die Sturmböcke zerschellen.«

»Aber einen rechten Hexensabbat wird's doch geben.«

»Hexensabbat, ja ...« Und nach einigem Nachdenken: »Lieber Attenkofer, wenn nicht alle Wetterzeichen trügen, liegt ein ganz anderer Hexensabbat in der Luft, ein viel größerer, klassischerer – und dieser größere wird den kleineren verschlingen. Vor Schnürles Lakaienpolitik braucht uns nicht bange zu sein. Wir gehen einem Umschwung entgegen, mit Riesenschritten, glauben Sie mir – und dieser Umschwung, wird die Lakaienwirtschaft auch in der Kunst wegfegen wie Spreu. Dann werden wir wieder[358] reinen Tisch und reine Luft haben. Sagen Sie nur, der Achthuber hat's gesagt. Vielmehr: sagen Sie gar nichts. Halten Sie nur Augen und Ohren offen. Reifsein ist alles – und arbeiten und sich nicht vor Tod und Teufel fürchten. Ich gehöre ja ohnehin zu jenen, die immer Feinde nötig haben, um scharf bei der Arbeit und fröhlichen Herzens zu bleiben; Feinde sind mir so notwendig wie das tägliche Brot; sie sind meine Wohlthäter, meine Lustmacher, meine Hofnarren, meine Sklaven. Nur ganz schmutzige, ekelhafte und insipide Gesellen wie der Preßbandit sind mir zuwider wie Läuse und Wanzen ... Inzwischen photographieren Sie ruhig Echters Triumphkarton, ausgeführt ist er deswegen, doch noch nicht, und lassen Sie sich ordentlich bezahlen. Nichts mehr aus Gratis-Kunstbegeisterung und um einen Gotteslohn, verstanden?«

»Ach ja, Herr Achthuber,« setzte jetzt der Photograph mit einer Stimme ein, die ins Falsett umschlug, was gar spaßhaft mit seiner Hünengestalt kontrastierte: »Eine Bitte hätte ich auch noch, speziell für mich. Wenn ich jetzt mein Geschäft auflöse, habe ich eine Menge alter Verbindlichkeiten zu bereinigen ...«[359]

»Und dazu brauchen Sie Geld – und das soll ich Ihnen pumpen? O Sie Schwärmer!

Gedulden Sie sich bis heute Abend, wenn's dunkel wird, will ich mit Ihnen fechten gehen ...«

»O, das würde schwerlich ein Triumphzug werden.«

»Ich fürchte auch. Vielleicht schinde ich morgen etwas von dem Bilderwucherer in der Maximilianstraße heraus, der mein ›Hofbräuhaus-Idyll am Tisch der Ungespundeten‹ zur Vervielfältigung erworben hat. Der Hund Weiler lauert zwar auch schon auf den Knochen und zeigt die Zähne ... Der soll sichs Maul wischen. Also morgen – vielleicht!« – –

Max v. Drillinger war auf dem Nachhauseweg in das Café Viktoria eingetreten, hatte sich Papier und Tinte geben lassen und bei einem Glas Marsala an einem stillen Ecktischchen folgende Zeilen an seine kleine Fifette geschrieben: »Nur einen Augenblick des Glücks in Deinen üppigen, süßen Armen, mein liebes, blühendes Herzensweibchen! Ich brenne vor Ungeduld nach Dir, nach Deinem Leib, nach Deiner Seele! Du sollst dieses Mal keine Jeremiade von mir hören, mein niedliches, braunes Reh,[360] unser Wiedersehen soll eitel Wonne und Trunkenheit sein und seligster Rausch. Nach der Zuchthausexistenz dieser letzten Woche und den Höllenqualen, die ich erduldet, laß mich eingehen in Deinen Himmel. Kein Weib der Welt weiß zu beglücken wie Du: Beglücke mich, Du Holde, Einzige! Heut Nacht zur bekannten Stunde im bekannten Hause in der Buttermelcherstraße. Ich werde die Wirtin benachrichtigen, daß sie alles bereit hält. Willst Du mich überselig machen – mein Blut rast nach Dir, wenn ich Dich mir so vorstelle! – so komme etwas früher und erwarte mich in Deiner betäubenden Anmut und Deinem Liebreiz mit aufgelösten Haaren, ohne Korsett, in dem blauen Schlafrock, vorn offen, und in den durchbrochenen blauen Strümpfen. Du einziger, duftiger, unaussprechlich süßer Engel – Dein, Dein, Dein Max.«

Dann schrieb er einige Worte an die Wirtin und übergab beide Briefe einem Expreßboten. In der Maximilianstraße – der Weg an der Isar, durch die Quaistraße, war ihm unheimlich – suchte er dem Oberst Wotan auszuweichen, allein der grimmige Degen schnitt ihm den Seitengang ab. Den Schlapphut bis zu[361] den borstigen Brauen herabgezogen, schwarzgallige Worte auf den verächtlich aufgeworfenen Lippen, hatte er den leichtfüßigen Baron gestellt.

Nachdem sich Drillinger hoch und heilig, verschworen hatte, weder mit einem gewissen Paillard eine mehr als rein zufällige Begegnung, noch mit dem Schlemming, Schneidmeyer und tutti quanti seit einer Ewigkeit überhaupt eine persönliche Beziehung gehabt zu haben, fuhr der Oberst fort: »Gut, dann hat man mich wieder angelogen. Aber lassen Sie sich das als Warnung dienen: Sie haben rührige Feinde, denen kein Mittel zu schlecht ist, Sie mit dem anrüchigen, der Spionage verdächtigen Gesindel in Zusammenhang zu bringen. Jetzt, wo in Bayern ohnehin so viele Wasser getrübt sind – Sie verstehen mich. Semper aliquid haeret. Weit vom Ziel ist gut vorm Schuß.«

»Ich verreise morgen ohnehin auf einige Wochen.«

»Da thun Sie gut daran. Ich bin auch höllisch hauptstadtmüde, zeitungsmüde, klatschmüde. Ewig diese Königs- und Kabinets- und Künstlergeschichten, das wird ja so langweilig, daß einem das Schilfrohr zum Bauch herauswächst.[362] Remplem. Ich geh' fort. Dieses nüchterne Pendantenvolk mit seiner Arroganz und unheilbaren Troddelose ... Hab' auch das Bier satt, will meine Eingeweide mit Rotwein auswaschen. Ist ja auch gar kein Bierwetter, immer Kälte und Regen; eine Salvator- und Maibock-Saison ohne lachenden Sonnenschein, das ist gegen alle Weltordnung. Ich rutsche über den Brenner nach Südtyrol hinab; da gibt's noch Frühling und lustige Menschen und trinkbaren Wein.«

»Aber die ›Ungespundeten‹, Herr Oberst, wenn alles geht?«

»Hören Sie damit auf! Wer ist heute noch ungespundet? Alle halten den Knebel im Mund und den Zapfen im Loch, weil sie der nächsten Viertelstunde nicht trauen ... Apropos, gestern bin ich die Isar hinauf, um in den Buchenwäldern von Großhesselohe und Grünwald ein wenig nach dem Frühling zu sehen. Zufällig kam ich auch nach Höllrieglskreuth und in den Steinbruch, wo der Meister Effenbach seine ›Werkstatt für freie Religion und Menschlichkeit‹ aufgeschlagen hat. Wenn der Mann so fortfährt, wie ich ihn gefunden habe, gehört er nicht mehr in die Philosophie und in die Soziologie,[363] sondern in die Komödie. Hält dieser Mensch jetzt, der selbst nichts zu nagen und zu beißen hat, auch noch ein Asyl für verrückte Weibsleute! Machte mir da eine uralte büßende Magdalena, die's jedenfalls längst nicht mehr juckt, mit Bibelsprüchen und mystischen Prunkworten die Honneurs! Remplem. Die Weiber verderben alles. Wo ein Unterrock weht, wird die Luft unrein. Und noch dazu alte Weiber, die ihre Jugendsünden nicht vergessen können und über die Verderbtheit der Welt seufzen ... Auch eine vegetarische Kinderbewahranstalt plant dieser Heilige im Steinbruch! Heutzutage, wo man nur durch furchtbare Kraft und Rücksichtslosigkeit noch einigermaßen mit der Welt fertig wird! Ich hab's ihm auch gesagt: wenn Ihr durchaus Kinder machen und großfüttern wollt, so säugt sie wenigstens mit Blut und bestellt ihnen Löwinnen und Tigerweibchen als Ammen, so bekommt Ihr vielleicht einen Nachwuchs, wie man ihn heute brauchen kann. Anders nicht. Remplem. Was geht's mich an? Also ich geh' fort. Andere Luft, andere Menschen, anderen Trunk!«

»Und andere Weiber, Herr Oberst, trotz alledem.«[364]

»Remplem.« – –

Zwei Tage später hatte auch Max v. Drillinger mit seiner Fifette ein Billet über den Brenner genommen. In einem Geheimfach seines Reisekoffers ruhten drei unerbrochene Briefe von der Frau Kommerzienrat Leopoldine Raßler. Er hatte keine Ahnung davon, daß seine verschmähte Geliebte seit dem letzten Zusammenprall mit ihrem Gatten den ersten Stock der kommerzienrätlichen Wohnung verlassen hatte und in den Gartensalon hinabgesiedelt war, wo sie in schwerer Krankheit darniederlag. Vorerst wußte nur der Hausarzt und der alte Beichtvater aus dem Lehelkloster, daß die Folgen einer Faussekouche die Kranke zwischen Tod und Leben schweben ließen. Im Interesse seines Familienlebens hatte der Kommerzienrat ausstreuen lassen, daß seine Frau auf Weisung des Arztes aus dem ersten Stock ausgezogen sei und die Gartenwohnung mit Rücksicht auf die größere Stille und ozonreichere Luft gewählt habe; ein Nervenleiden habe zu dieser Veränderung des Aufenthalts Veranlassung gegeben. Die Teilnahme im Hause an dem Leiden der Frau Raßler war eine allgemeine. Die Postoffizials, ließen sich täglich nach dem Befinden der verehrten[365] Kommerzienrätin erkundigen. Auch die englische Familie bezeigte ihr Mitgefühl in ihrer Weise, obwohl sich Mister Aston und Mistreß Wood über den dummen Zufall ärgerten, der ihre angenehme Emotion über die vor einigen Tagen aus der Isar gefischte Leiche mit der abgeschnittenen Nase nun mit der betrübten Stimmung über einen schweren Krankheitsfall im eigenen Hause kreuzte. »Sie wird doch nicht sterben?« fragte Mama Wood ihren Familien-Statistiker Harry; »das wäre der erste Todesfall in München, der uns nahe ginge – oder ging schon ein anderer voraus, mein Sohn?« Worauf Harry lakonisch erwiderte: »Nein, Mama.« Seit Harry seiner Kusine Vivian gestanden, daß er den Preßbanditen regelrecht niedergeboxt habe, und die zarte, aber heldensinnige Dame dieses Geständnis mit einer enthusiastischen Liebeserklärung erwidert hatte und dem nichts Schlimmes ahnenden Harry an den Hals flog, war der glückliche Statistiker und Boxer sehr wortkarg geworden. Auch hatte er über Frau Raßlers Leiden eigene Gedanken und Empfindungen, die er niemand anvertrauen mochte. So Trübes hatte ihm die Isar noch nie gerauscht wie in diesen Tagen.[366]

Max v. Drillinger hatte vor seiner beschleunigten Abreise – in Hetz und Hast – andere Sorgen. Er mußte den Bankier Weiler schriftlich um einen Tausendmarkwechsel ersuchen nach Riva am Gardasee, nachzusenden gegen Schluß des Monats – »Alles Übrige ordnen wir nach meiner Rückkehr.« Er hatte seiner Köchin Resl die kränkelnde Brigitta auf die Seele zu binden und der unter Thränen Abschied nehmenden Alten die tröstliche Versicherung zu geben: »Alles Übrige wegen Ludwig und was ich Dir von Afra angedeutet, erkunden und ordnen wir nach meiner Rückkehr.« Er hatte infolge seiner Antwort auf ein Inserat in den Neuesten Nachrichten noch in aller Eile ein Stelldichein am »Chinesischen Turm« im englischen Garten zu erledigen – und als die geheimnisvolle Dame »Amüsement« im Dämmer des Abends sich als Bertha Hohenauer entschleierte und mit feurigen Reden von seinem »schönen, edlen und kunstsinnigen Wesen, das stets einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht« die Annäherung abrunden wollte, gab er auch ihr die Antwort: »Alles übrige Vierhändige ordnen wir nach meiner Rückkehr.« Jawohl, auch die Bertha Hohenauer möchte mit ihrer abgegriffenen Klaviatur zu den[367] schönen Künsten zurückkehren ... Mit rauchendem Kopfe jagte er heim. Davon mit der Schmerzstillerin, mit der entzückenden Fifette! Davon!

Den Doktor Trostberg hatte er vor seiner Abreise nicht mehr besucht. Er hätte ihn auch nicht angetroffen. Drillinger war schon über alle Berge, als Trostberg eines Abends von seiner Fahrt in die Königsschlösser aus den Alpen ganz verstört heimkehrte. Bemühungen, den König zu sehen und zu sprechen, waren erfolglos gewesen. Hatten ihn die Lakaien nur zum Besten gehabt, als sie ihn drei Tage lang nicht aus dem neuen Frackanzug kommen ließen und ihn von Schloß Berg am Starnberger See nach Schachen und von da nach Neuschwanstein und Linderhof sprengten, immer mit der Versicherung, dort würde er endlich auf das wandernde Hoflager treffen? Nein. Die guten Leute wußten's selbst nicht besser. Der König war wie von einer wilden Phantomjagd ergriffen und fortgewirbelt, in dieser Zeit bald da, bald dort in den Voralpen, ohne verfolgbaren Plan, ohne längeren Aufenthalt, zuletzt in dem halbfertigen Schloß auf der Herreninsel in Chiemsee während einiger Nachtstunden. Alle[368] Wasser- und Beleuchtungskünste mußten plötzlich spielen, tausend Kerzen flammen, aufblitzen die Wunder einer Märchennacht – und dann war wieder alles vorbei, ausgelöscht und verweht wie ein mitternächtiger Geisterspuk ... Leise krachten und bebten die Fundamente ...

Auf der Heimfahrt machte Trostberg einen Abstecher nach Forstenried, einen befreundeten Arzt zu besuchen, der dort als Irrenpfleger des geisteskranken Bruders des Königs in dem Jagdschloß des einsamen Waldes seinem traurigen Amte lebte. Was mußte er da aus dem Munde des Arztes hören! Der König sei geisteskrank, so geisteskrank wie sein wahnumnachteter Bruder, eine Hilfe gebe es nicht mehr, und ein Wechsel in der Regierung des Landes sei nur noch eine Frage von heute auf morgen! Aus dem Flüstern der Dienstleute in den Vorgemächern und Korridoren, aus dem geheimnisvollen Kommen und Gehen hoher Staatswürdenträger, die hier in der Stille des Waldes mit berühmten Irrenärzten über das Schicksal des Königs beratschlagten – des Königs, der schon von Wahnsinnsfurien von Schloß zu Schloß gehetzt, noch seinen herrscherstolzen Allmachtstraum träumte – aus allen Mienen, aus Reden[369] und Schweigen konnte er lesen, daß Ungeheures sich vorbereite ...

Wie eine unheimlich drohende, schwarze Gewitterwolke am sonnenbeglänzten Himmel über einer stillblühenden Frühlingslandschaft, so schwebte jetzt das Schicksalsbild des flüchtigen, von Schloß zu Schloß rasenden Königs vor seiner Seele, und tief erschüttert in seinem Gemüte, mühte sich Doktor Trostberg vergebens, wieder heimgekehrt in seine Klause, seiner eigenen unstäten Gedanken Herr zu werden.

Zu verschiedenenmalen in der Nacht war er an das Bett seines Dieners getreten und hatte den schnarchenden Klown geweckt mit Fragen wie: »Gabriel, was macht Dein Kopf? Gabriel, sind meine Freunde auch bei Sinnen? Gabriel, ist Baron Drillinger nicht dagewesen? Gabriel, hat Maximilian Schlichting nichts von sich hören lassen?«

Was der Diener von dem Besuche des Barons Drillinger zu melden wußte, klang wenig beruhigend. Er unterbrach ihn mit der Frage nach dem Kommerzienrat Raßler, und ob dieser das Schweinebild gekauft habe.

»Nein,« antwortete Gabriel schlaftrunken, »Raßler ist nicht mehr zurechnungsfähig, er hat[370] das Bild nicht einmal angesehen, obwohl ich ihn daran erinnert habe, daß an der Stelle der Quaistraße, wo heut sein Hans steht, vor zehn Jahren noch mein Zirkus wie in einer Wüstenei gestanden habe, mein Zirkus, wo ich mit den ersten gelehrten Schweinen Furore machte und man weder an die Erbauung der Quaistraße noch an den Kommerzienrat Raßler dachte. Alles half nichts, er mochte nichts von dem Bilde wissen, er ist unzurechnungsfähig. Ich schwöre einen Eid darauf, er ist verrückt.«

»Und mein Maximilian Schlichting, wie steht's mit ihm? Erzähl' mir's!«

»Ich weiß es nicht anders, als wie mir's die Monika erzählt hat. Monika hat bittere Thränen dazu geweint und wollte sich von mir nicht trösten lassen. Der Herr Schlichting sei auf den Tod krank, habe den Typhus und Delirien. Und dann sei ein Herr Kuglmeier, ein böser Mensch, zu ihm gekommen und habe dem Kranken erzählt, seine Schwester Flora habe sich verlobt, und auf diese Nachricht ist's mit dem Kranken noch ärger geworden. Die Monika, nämlich des Schneiders Tochter, bei dem Schlichting wohnt, pflegt den Kranken und weicht nicht von seinem Bett. Wenn er stirbt, hat sie gesagt,[371] dann bringe sie sich ins Zuchthaus. Warum? hab' ich sie gefragt. ›Ich habe das Haus angezündet aus Eifersucht‹, hat sie gesagt ›und ich zünde es noch einmal an‹, hat sie gesagt, ›und brenne alles nieder‹. Gute Nacht, Herr Doktor, jetzt kann ich nichts mehr erzählen von diesen Leuten: die sind alle verrückt, weil sie keine Philosophie im Leibe haben ...«

Und der Diener warf sich auf die andere Seite und schnarchte weiter.

»Verrücktheit fragt nichts nach Philosophie, Gabriel.«

Er horchte noch lange nach der rauschenden Isar zum Fenster hinaus. Der Tag graute, als er sein Lager aufsuchte.

»Paranoia, Paranoia! Da soll man den – Mut haben einzuschlafen, wenn man nicht weiß, wie man in der Frühe aufwacht ... Wenn man nicht sicher ist, daß man im Schlafe sich nicht selbst verliert ... daß man von der Morgensonne als Narr angeschienen und angeschrieen wird. Paranoia ...«

Nach einer Weile erhob er sich wieder vom Bette und tappte mit bloßen Füßen in die Schlafkammer des Klowns und rüttelte und schüttelte ihn, bis er erwachte. Ein trübes,[372] fahles Licht kam durch die Scheiben, ein gräßlicher Wind umwimmerte das Haus.

»Ach Herr, es war ein schöner Traum ... Festzug im Zirkus ... ich war König mit einer wunderschönen Krone, und die Schleppe meines Purpurmantels umtänzelten und umgrunzten mit Frohlocken und Vivat meine gelehrten Schweinchen, alle in Gala-Uniform ...«

»Gabriel, hattest Du stets Vertrauen zu Dir selbst?«

»Im Zirkus immer, Herr!«

»Hattest Du nie Mißtrauen gegen Dich, gegen Deinen Verstand?«

»Im Zirkus und mit meinen Schweinen nie, Herr! Das Publikum jubelte uns zu und bewarf uns mit Blumen, Äpfeln und Orangen. Es war der schönste Festzug meines Lebens. Die Krone stand mir sehr gut, nur mit dem Szepter that ich mich hart, es war zu lang, zu schwer ... Und die Schweine, ach die Schweine, alle in goldener Uniform, und so gelehrt, so ... graziös ... so ...«

Er schnarchte wieder ein, in seinen glücklichen Traum wie in ein weiches Kissen zurücksinkend.

Still rauschte die Isar.[373]

»Paranoia!« sagte der Doktor und ging kopfschüttelnd in sein Schlafzimmer zurück. »Ich hätte ihn doch in seinem Zirkus lassen sollen, in seinem Festspielhaus, bei seinen gelehrten Schweinchen ... Armer Gabriel, glücklicher Narr! Ach, und wir andern, die Schauspieler der Vernünftigkeit, die Theatraliker der Weltweisheit!«

Doktor Trostberg ging vom Schlafzimmer ins Studierzimmer, in den »Tempel der Weltlitteratur«; von allen Bücherrücken glaubte er das Wort »Paranoia« zu lesen. Er trat aus Gartenfenster.

Wie traurig des Königs Büste in der Mauernische lächelte! Wie der Wind an dem dürren Lorbeerkranz auf dem hoheitsvollen Haupte zerrte und zauste! Und jetzt – nein, zurück ins Schlafzimmer!

Er zog die Fenstervorhänge dicht zu, vergrub sich tief in die Kissen und schlief und träumte in den düstersten Regentag hinein. Was er geträumt? Als er sich beim Frühstück seine Traumbilder ordnen wollte, kam er nicht über Bruchstücke hinaus. Zwei riesig aufgebauschte Gestalten, die eine in bunten, die andere in schwarzen Gewändern, Frau Welt und Frau[374] Vernunft, die gute Hur', wie Luther sie nennt – umschwebten die Thore und Zinnen der Königsschlösser und begehrten vergeblich Einlaß ... Dann wiederum die schwarze Wolke am blauen Himmel – Transfiguration derselben über dem Starnberger See in lichte, klagende Engelschöre, wie die Götterjungfrauen auf dem Himalaya im Urvasi-Theater – die Roseninsel steigt aus dem See aus, höher und höher, wie in einer Apotheose, verwandelt sich in ein Purpurkissen, darauf Krone und Szepter wie Sonnen glänzen – dann ein zuckender Blitz hinab in den See, dann ein Donnerschlag weithin hallend, dann ein nachtschwarzer Schleier, der alles bedeckt, die Alpen, die Königsschlösser, den See, München, die ganze Welt, – das Geheimnis des Todes ...

Dem Zufall sei Dank: Zwergers Brief, den er unter den während seiner Abwesenheit eingelaufenen Postsachen fand, gab seinen Gedanken eine andere Richtung. Zuerst muteten ihn die Blätter ganz anachronistisch an, wie eine uralte Handschrift, die man in dem verschütteten Pompeji ausgegraben und die so seltsame Mähr kündet von Menschen und Schicksalen, die seit tausend Jahren verschollen. Aber[375] je weiter er las, desto gewaltiger und heiterer faßte ihn der Geist der Modernität, der aus diesen Zeilen spottete, scherzte, klagte, fluchte, segnete, hoffte. Er legte von Zeit zu Zeit die Blätter weg, lachte vor sich hin, drehte sich eine frische Zigarette und sprach für sich selbst: »Dieser Umfang, diese Fülle! Ich schwatze gewiß auch mein ehrlich Teil zusammen, wenn ich einmal im Zug bin – das bringt das Jahrhundert der parlamentarischen und publizistischen Schwatzsucht so mit sich – aber was zu viel ist, ist zu viel. Das flutet und rauscht ja daher wie die Isar bei Hochwasser! Das ist ja ein Buch, eine Parlamentsrede! Eine Parlamentsrede zum Fenster hinaus ins zeitungsfressende Land hinein! Armer Zwerger, auch du hast deinen Beruf verfehlt, du, ein Mann der Baukunst, der schweigsamsten, vornehmsten, diskretesten, aller Künste! Ich weiß wohl, es ist ein Vergnügen, in ungezügeltem Plauderton über fremde Thorheit herzufallen, in suveräner Kritik an allem Menschen- und Affenwerk kein gutes Haar zu lassen – es ist sogar ein lukratives Vergnügen, wenn man wie unsere Landtagsschwätzer und Kritikschmierer noch dafür bezahlt wird ... Ach, dem heimatfernen Einsiedler kann man's[376] eigentlich nicht verdenken, wenn ihm das Herz mit der Zunge und der Feder durchgeht ... Einsiedler? Was? Mit einem Frauenzimmer? Auch du, Brutus? Mein keuscher Joseph? Nun wird auch dir mit deiner Gottähnlichkeit bald bange werden! So spottet der Stärkste seiner selbst und weiß nicht wie ... Wie ein Simson will er die Welt der Kunst aus den Angeln heben – und liegt einer Delila im Schoße und merkt's nicht, wie sie sacht die Schere erhebt und seine Locken bedroht und mit seinen Locken seine Kraft vernichtet ... O komm' nur und sieh, wie die Natur selbst die Könige vernichtet, du König aus eigener Kraft, du Suverän von Talentes Gnaden!«

Und immer wieder drängte sich das Bild des unglücklichen Fürsten in seine Gedanken. Er vermochte nicht, den pompeijanischen Brief des Freundes heute zu Ende zu lesen.

»Ein Wahnsinnswind geht durch die Welt und bläst mit seinem Gifthauch die besten Köpfe an ... Lauter Hysteriker der Phantasie ...«

Mit diesem schwermütigen Wort legte Doktor Trostberg den Brief aus der Hand.

Den leise hereintretenden Klown mit einem[377] langen, kalten Blick fixierend, schrie er ihn in plötzlicher Wallung an: »Versiegle Deinen Kopf mit einem großen Siegel und umpanzere Dich mit siebenfachem Erz, Hanswurst!«

Und dann: »Geh und stelle mir einen Bürgen für die Vollsinnigkeit unserer Irrenärzte! Einen Bürgen, hörst Du? Ich trau' ihnen nicht. Woher nehmen sie das Vertrauen in ihre eigene Gesundheit? In ihre eigene närrische Unfehlbarkeit? ...«

Eine tiefe, düstere Traurigkeit hatte sich des Doktors bemächtigt.

Quelle:
Michael Georg Conrad: Was die Isar rauscht. 2 Bände, Band 2, Leipzig [o. J.], S. 282-378.
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