Ein Ende vor dem Anfang

[211] Ganz leise erst, noch in den zartsten Fäden,

Spann sich ein Band von dir zu mir herüber ...

Oh! Voll war ich des köstlichsten Erwartens,

Und süße Hoffnung hat mich oft berauscht.

Ich liebte dich vielleicht noch nicht ... Und doch –

Ich wußte es: die Stunde, ja, sie käme,

Wo ich dich sanft in meine Arme nähme,

Dich an mich zöge, küßte ... und tief atmend

Du dich auch mir zu eigen geben würdest ...
[211]

Ich lebte dieser Stunde still entgegen

Und zehrte scheu von ihrer Freude Segen ...

Und nun kam's doch noch anders. Zaghaft fast

Stand auf ein müder, milder Wind ... und langsam,

Wie spielend, wie in harmlos neck'schem Zufall,

Hat er die weichen Flocken des Gewebes,

Das zart von dir zu mir sich angesponnen,

Zertändelt ... Sieh, mein liebes Kind, nun flattern

Die kleinen, losen Maschen wie verwaiste,

Verlorne Seelchen durch die stummen Lüfte ...

Und drüben nun stehst du, ich stehe hüben –

Und traurig sehn wir unser Glück zerstieben ...


Ich liebte dich vielleicht noch nicht ... Vielleicht

Lieb' ich dich jetzt noch nicht ... vielleicht nicht mehr ...

Nein! Aus dem Wege gehen wir uns nicht.

Ja! Wir begegnen uns noch ziemlich oft ...

Und unsre Augen suchen sich und bleiben

Auf einen ... Augenblick in tiefem Anschau'n,

Nicht scheu, nicht schüchtern und wohl vorwurfslos ...

Und nur wie Neugier, wie ganz zarte Neugier

Liegt es in unserm Blick ... dann gehen wir

Vorüber aneinander stumm und still ...


Ich weiß: wir werden uns nicht wiederfinden –

Und auseinander weiter, immer weiter

Wird uns das Leben unsre Wege führen ...

Nur manchmal zittert leis die Frage auf,

Das scheue Kind verschwiegner Stunden: wenn[212]

Nun dieses Wissen dennoch trügrisch wäre?

So trügrisch wie das erste? Würd' ich säumen,

Da sich zum andern Mal das Glück mir böte,

Es zu ergreifen und es festzuhalten? ...


Es folgt der Nacht die junge Morgenröte –

Doch meinem Leben blühet noch das Licht,

Doch meinem Leben blühet noch der Tag

Und seines Schaffens ungemess'ne Freude ...

Noch darf ich meine Kraft im Kampf vergeuden,

Noch habe ich ein Recht auf rote Wunden,

Noch schiert's mich nicht: Ob träge Abseitsruh',

Ein Opfer der alltäglichsten Geschichten,

Im ersten besten Winkel ich gefunden,

Noch darf ich kühn auf »stilles Glück« verzichten!

Es zu ergreifen – ja! ich würde säumen –

Und dann auch: selbst, wär' ich zu feig dazu:

Nein! Nein! Ich halt' nicht viel von reparierten Träumen ...


Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 211-213.
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