|
[64] Wo seid ihr hingegangen,
Meine frommen, unschuldigen Kinderaugen?
Wo seid ihr hingegangen,
Die ihr in prangenden Reizen
Die Welt mir verkündigt
In meines Lebens erster Morgenfrühe?
Wo seid ihr hingegangen,
Die ihr zärtlich bestauntet[64]
Jedwede Kreatur,
Flut und Kristall,
Und voll Inbrunst
Wunder um Wunder schautet?
Wo seid ihr hingegangen,
Meine frommen, unschuldigen Kinderaugen?
Sehet! Ich sehne mich euch nach,
Ein Jüngling, ein Mann,
Dem die Welt sich nun malt
In nackten, nüchternen Farben!
Sehet! Ich sehne mich euch nach,
Ich weine euch nach –
Dem keuschen Blick
Meiner ersten Jugend –
Als zum ersten Male
Ich um mich blickte
Und der Bilder Fülle
Mich trunken machte –
Unsägliche Sehnsucht
In mir weckte –
Doch stilles Genügen
Zugleich mich besaß!
Sehet! Ich sehne mich euch nach,
Verlorene Augen der Unschuld,
Nun ich ein anderer ward
Und anders die Welt
Sich mir verkündigt.
[65]
Es fiel
In der hingleitenden Zeiten Spiel
Binde und Hülle –
Und über mich strömte sich aus
Die Fülle
Der Wirklichkeiten, der märchenlosen –
Es verdorrten
Meiner frommen Neugier –
Meiner keuschen Sehnsucht
Köstliche Jugendrosen!
Satt bin ich –
Und mein ungewirktes Auge
Träufelt in die zusammenschauernde Seele
Nur Tropfen des Ekels ...
Weltgierig ward ich
Und allgierig
Und unersättlich –
Und spät und frühe
Durchtaumelte diese Brust
Unheimlicher Sehnsuchtsflammen
Schlangengezüngel.
Nimmer mir tat ich genug –
Und auf mir lastete
Segen zugleich und härtester Fluch ...
Und ich wuchs und ich lebte,
Bis in der zweiten
Oder der dritten Morgenfrühe meines Lebens[66]
Ich alt schon ward
Und müde schon vor der Zeit ...
Von mir hinweggegangen
Sind Drang und Sehnsucht
Und die Wollust des Wanderns
Und des schneidenden Wehs
Unergründlichkeit!
Nicht wunschlos ward ich
Und nicht hoffnungslos!
Doch alles, was ich begehre –
Doch alles, was ich erhoffe,
Ist so geringe,
So hohläugig, entmarkt –
Ueberschattet von den müden Brauen
Heimlich zehrender Melancholie ...
Wo seid ihr hingegangen,
Meine frommen, unschuldigen Kinderaugen?
Oh! wäret ihr bei mir geblieben!
Stark und trotzig
Wie vorzeiten
Wäre mein Lieben –
Und mein Hassen
Loderte auf in jähen Feuern!
Nun, da ihr mich verlassen,
Durchschreite ich welk und bekümmert
Meines wachsenden Lebens
Schmale, reizlose Dämmerungsgassen ...
[67]
Es trauert entvölkert
Meiner Leidenschaften Serail –
Und ich ließ meiner ringenden Kraftgefühle
Felsengebirge,
Das in gigantischen Gegensätzen
Sich enthüllte,
Und sich erfüllte,
Zu gewaltigen Werdeschätzen!
Wo seid ihr hingegangen,
Meine frommen, unschuldigen Kinderaugen?
Sehet! Ich sehne mich euch nach,
Schürend
In toten, veraschten Kohlen –
Suchend und wie im Halbtraum spürend
Nach ein paar letzten mageren
Zukunftssymbolen!
Buchempfehlung
»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
90 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro