Neuntes Kapitel.

[176] Wo man eine große Frage zu lösen finden wird.


»Ich werde Dir blindlings gehorchen,« antwortete Almaide dem Mocles; »Du hast mir eben fühlen lassen, dass die Eitelkeit allein mir den Mund verschloss, ich will mich aber dafür bestrafen, indem ich Dir ohne Verstellung die Begebenheiten meines Abenteuers vertraue, welches mich am meisten quält. Ich hatte Dir gesagt, so scheint es mir, dass dieser junge Mann mich auf ein Sopha umgeworfen hatte; ich war von meinem[177] Erstaunen noch nicht zu mir gekommen, so stürzte er sich auf mich.«

»Obzwar das Übermaß meines Erstaunens mir kaum gestattete, ihm meinen Zorn auszudrücken, so las er ihn doch leicht in meinen Augen, und da er sich vor meinem Geschrei sichern wollte, schloss er mir den Mund mit seinen frechen Küssen; es wäre mir unmöglich Dir zu sagen, wie sehr ich zuerst darüber empört war, dennoch muss ich gestehen, dass meine Empörung nicht lange gedauert hatte. Die Natur, die mich verrieth, ließ mich bald bis in den Grund meines Herzens diesen Kuss fühlen. Plötzlich mischten sich in meinen Zorn Regungen, die demselben nur eine schwache Oberhand ließen.«

»Mein ganzes Blut gerieth in Aufruhr, ein unbekanntes Feuer verbreitete sich durch alle meine Adern. Ich weiß nicht, welch ein Vergnügen mich fortriss und unmerklich meine ganze Seele erfüllte; mein Geschrei verwandelt sich in Seufzer, und hingerissen von Regungen, welchen ich trotz meinem Schmerz und trotz meinem Zorn nicht mehr widerstehen konnte, jammernd über den Zustand, in dem ich mich befand, hatte ich[178] nicht mehr die Kraft, mich dagegen zu wehren.«

»Das ist,« rief Mocles aus, »eine schreckliche Lage! Nun gut,« fuhr er fort, indem er sie mit flammenden Augen betrachtete.

»Was soll ich Dir sagen?« erwiderte sie. »Wann ich es konnte, machte ich ihm Vorwürfe, aber es war mechanisch. Ich glaube, dass ich zu ihm sprach, dass ich ihn mit aller Verachtung behandelte, die er verdiente, ich sage, dass ich es glaube, denn ich wage es nicht zu behaupten. In dem Maße, wie diese grausame Verwirrung zunahm, fühlte ich meine Kräfte und meine Wuth abnehmen, eine sonderbare Verwirrung herrschte in allen meinen Gedanken. Ich hatte mich doch noch nicht ergeben, aber welch ein Widerstand, wie schwach war er, und so schwach er war, so wünschte ich ihn doch! Mocles, ich erinnere mich dessen nur mit Schrecken, und die Schmach, die er mir verursacht, macht ihn mir so gegenwärtig, als ob ich noch in den Armen dieses Ungestümen ächzen möchte. Welch ein Augenblick für meine Tugend! Wie soll ich den ganzen Preis dieser Unschuld fühlen, die[179] man mir zu rauben suchte, inmitten aller dieser Hingebung fürchtete ich nichts mehr, als dieselbe zu verlieren. Warum hatte diese Angst mich diesem Vergnügen nicht entrissen, oder warum ließen diese Freuden noch so viel Macht in meinem Herzen für die Tugend? Ich wünschte (aber mit welcher Anstrengung! Wie viel hatte ich nicht zu leiden, indem ich wünschte), dass man mich dem Schicksal entreiße, welches mich bedrohte. Zur selben Zeit bildete ich mir diese Idee, die mir lebhaft wünschen ließ, dass sich nichts meiner Niederlage entgegenstelle.«

»Indem ich darüber, was ich fühlte, erröthete, so brannte ich doch noch mehr zu empfinden, die Gluth, die mich verzehrte, fing für mich an eine Strafe zu werden, und meine Sinne zu ermüden. Wie groß auch die Trunkenheit meiner Sinne war, konnte ich es dennoch nicht erreichen, diese unliebsame Stimme zu ersticken, die im Grunde meines Herzens rief, und die, da sie mich von meiner Schwäche nicht befreien konnte, fortfuhr mir dieselbe vorzuwerfen; als der junge Mann ohne Zweifel den Eindruck, den er auf mich ausübte, bemerkte,[180] trieb er die Schmach, die er nur anthat, auf's Äußerste. Er ...«

»Aber wie könnte ich Dir das, vorüber ich noch heute erröthe, ausdrücken. So sehr es meine Verwirrung gestattete, war ich damit beschäftigt, mich gegen seine Küsse zu wehren, womit er mich unaufhörlich überhäufte, übrigens hatte ich keine Vorsicht gegen ihn gebraucht. Trotz des grausamen Zustandes, in welchem ich mich befand, erweckte diese neue Beschimpfung meine Wuth; ach! es war nicht für lange. Ich fühlte bald meine Erregung zunehmen, bis auf die Anstrengungen, die ich machte, um diesem Kühnen zu entgehen, oder um ihn wenigstens zu stören, trug alles dazu bei, alles war schließlich dazu angethan, mich zu verführen. Einem unaussprechbaren Entzücken hingegeben, wovon Dir eine Idee zu geben mir unmöglich wäre, fiel ich ohne Kraft und ohne Regung in die Arme des Grausamen, der mir eine so schwere Beschimpfung angethan.«

»Welch' ein Zustand!« rief Mocles aus, »und wie fürchte ich dessen Folgen.«

»Dennoch waren sie nicht derart, wie[181] Du sie Dir einbildest,« antwortete Almaide. »In Mitte einer Lage, wo ich umsomehr zu fürchten hatte, ich nichts mehr fürchtete, weiß ich nicht, warum mein Feind plötzlich seine Glut und seine Wagnisse einstellte. Durch ein Wunder, das ich nie begreifen konnte, und das Du vielleicht nicht glauben wirst, so sehr außerordentlich ist es! In dem Augenblicke, wo ich ihm nichts mehr zu widersetzen hatte und wo er selbst auf dem höchsten Punkt der Erregung war, verwandelten sich seine Augen, deren Glut ich nicht ertragen konnte, und ein Ausdruck von Ermattung herrschte darin. Er wankte, schloss mich in seine Arme mit mehr Zärtlichkeit und weniger Heftigkeit wie vordem, er wurde (gerechte Strafe für die Unbill, die er mir angethan), eben so schwach, wie ich selbst. In diesem Augenblick fing meine Aufregung nachzulassen, und ich war genug glücklich, die ganze Demüthigung meines Feindes zu genießen; nachdem ich ihn mit dem möglichsten Vergnügen betrachtet hatte und Brama für den sichtbaren Schutz dankte, den er mir angedeihen ließ, erhob ich mich mit Ungestüm. Je mehr sich meine Sinne[182] beruhigten und meine Gedanken sich klärten, fühlte ich meine Schmach um so lebhafter. Zwanzigmal öffnete ich meine Lippen, um[183] diesen jungen Verwegenen mit Vorwürfen, die er verdiente, zu überhäufen; aber diese geheime Unruhe, die sich meiner bemächtigte, schloss mir dieselben stets, und nachdem ich ihn mit all der Verachtung betrachtete, die seine Frechheit und sein Vergehen verdiente, verließ ich ihn plötzlich. Ich hätte lieber geschwiegen, um Dir die Wahrheit zu sagen, als die Einzelnheiten aufzuzählen, die mich erröthen ließen. Es ist das erstemal,« fuhr sie fort, »auch das einzigemal, wo ich mich in dieser Gefahr befand, die ich immer gefürchtet hatte, bevor ich sie noch kannte, und die ich nur erkannte, um sie mit mehr Sorgfalt als jemals zu vermeiden. Ich glaubte mich um so mehr verpflichtet, sie zu fliehen, da ich nach den Regungen, die ich empfand, fürchtete, dass ich mehr Hang zur Liebe habe, als ich es gedacht.«

»Du siehst wohl,« sagte Mocles, »dass es nöthig ist, seine Seele zu versuchen, aber unter anderm, wie steht es mit der Deinen? Hat diese Erzählung jene Eindrücke gemacht, die Du fürchtetest?«

»Aber,« sagte sie erröthend, »sie ist nicht so ruhig, wie sie es war.«[184]

»Derart,« versetzte er, »dass wenn Du gegenwärtig einen Kühnen fändest, Du vermuthlich wieder ein wenig ins Wanken kämest.«

»Ach! rede nicht mehr davon,« rief sie aus, »das wäre das grausamste Unglück, welches mir geschehen könnte.«

»Ja,« antwortete er zerstreut, »das lässt sich leicht begreifen.«

Indem er diese Worte sprach, verfiel er in die tiefste Träumerei; von Zeit zu Zeit betrachtete er Almaide mit betroffener Miene und mit Augen, die sein Verlangen und seine Unentschlossenheit wiedergaben. Das Geständnis, welches Almaide ihm von ihrer Aufregung gemacht, ermuthige ihn; aber seine Unerfahrenheit erlaubte ihm nicht, davon Nutzen zu ziehen, beinahe wäre es ihm nutzlos gewesen.

Die Art, wie er es eigentlich anstellen sollte, um Almaide zu verführen, war nicht die einzige Sache, wovon er träumte. Zurückgehalten durch die Erinnerung dessen, dass er durch den Gedanken an das Vergnügen tyrannisiert war, sah ich ihn nach und nach bereit zu fliehen, oder alles zu wagen.[185] Während er so viele Kämpfe durchmachte, war Almaide in keinem ruhigeren Zustande.

Die Erzählung, welche Mocles von ihr verlangte, hatte alles, was sie davon fürchtete, erzeugt. Ihre Augen belebten sich, eine Röthe, ganz verschieden von der, welche die Keuschheit erzeugt, unterdrückte Seufzer, Unruhe, Schmachten, das alles bewies mir besser, als ihr selbst, die Stärke der Verwirrung, in die sie gerathen. Ich erwartete mit Ungeduld, welches die Lage von zwei so vernünftigen Personen sein würde, in die sie sich so unklug versetzt hatten. Ich fürchtete selbst, sie möchten den Irrthum, wohin sie ihre zu große Sicherheit führte, empfinden, und dass in Herzen, die so sehr an Tugend gewöhnt, dieselbe nicht die Oberhand erhalte, wie mein Zustand und die Versprechungen Bramas mich zu wünschen nöthigten.

Ich glaubte endlich an den Blicken Almaide's und Mocles, die von Augenblick zu Augenblick weniger schüchtern wurden und mehr in Wollust übergingen, dass es weniger die Angst zu unterliegen war, als die Verlegenheit den Fall herbeizuführen, die sie abhielt.[186]

Beide schienen dasselbe Verlangen zu haben, beide schienen gleich versucht zu sein. Diese Lage würde zwei welterfahrene Personen nicht in Verlegenheit versetzt haben, aber Almaide und Mocles, fern in der Kunst, sich gegenseitig zu helfen gewandt zu sein, wagten es nicht sich ihren Zustand zu vertrauen, noch sich anders als durch wenig beherrschte Blicke die Glut, welche sie verzehrte, begreiflich zu machen. Wenn sie auch einer bei dem andern dieselben Gedanken zu lesen glaubten, wussten sie denn, bis zu welchem Punkte sie beide verführt waren? Welche Schmach wäre es nicht für denjenigen, der zuerst gesprochen hätte, wenn er in dem Herzen des andern noch einige Überbleibsel von Tugend gefunden hätte, und wie sollten sie sich verständigen, da beide so viel Verstand hatten, nicht das Schweigen zu brechen? Dieser Klugheit, die sie immer ausgeübt, fügte sie noch die Keuschheit und den Anstand ihres Geschlechtes bei, welche es ihr nicht erlaubten, ihre Wünsche zu erklären, und obzwar dieses Gesetz nicht für alle Frauen unverletzbar ist, fürchtete Almaide dennoch die Verachtung, welche einem solchen Schritt[187] folgt, ob sie nun ganz unerfahren, oder der Liebe wenig hingegeben war; sie fürchtete die Verachtung, welche ein solcher Schritt zur Folge hatte; wusste sie übrigens, wie Mocles denselben deuten würde? Vielleicht, würde sie sich darüber hinweggesetzt haben, wenn er sie verachtend, sie dennoch befriedigt hätte, aber wenn er es einfach bei der Verachtung bewenden ließ?

Nachdem sie eine Zeit bei sich selbst überlegt hatten, auf welche Art sie mit einander sprechen könnten, ohne sich der Schande auszusetzen, keinen Erfolg zu haben.

Mocles, bei dem ein Geständnis seiner Gefühle zu sehr seinen Stolz und seinen Stand verletzt hätte, glaubte keinen bessern Erfolg als mit Sophismen zu haben; – angenommen, dass die Wahl der Mittel noch von einer Prüfung abhinge, die sein Verstand damit machen könne, und dass er nicht noch mehr sich selbst zu täuschen oder seinen Ruhm zu retten suche, im Falle der Versuch, den er unternehmen wollte, ihm nicht gelänge, als Almaide zu täuschen.

»Oh,« zum Kuckuck, sagte der Sultan,[188] »man möchte sagen, dass wenn er dabei schlecht zu Werke geht, dann ist nur Schuld, dass er zu viel darüber nachgedacht.«

»Aber,« sagte die Sultanin, »ich weiß nicht, warum Sie so sehr darüber erstaunt sind, dass er so viel überlegt hat, es scheint mir, dass die Lage, in welcher er sich befand, es forderte, dass er einige Erwägungen mache.«

»Einige, das würde noch angehen,« antwortete Schah-Baham, »und eben deshalb, weil er nur einigen machen sollte, hatte er nicht nöthig so viele zu machen. Diese Leute mussten schrecklich gereizt gewesen sein, wie kommt es, dass sie sich in dieser Zeit, die sie sich dazu ließen, nicht erkannten?«

»Sie wagten es eine treffende Bemerkung zu machen,« sagte die Sultanin.

»Sie haben gewagt,« sagte Schah-Baham, »dürfte ich Sie fragen, was das bedeutet? Sie machen wenig Umstände, indem Sie so wenig ehrerbietig sprechen und es gibt wohl in der Welt keinen Sultan, der sich das bieten ließe.«

»Aber ich wollte sagen,« erwiderte die[189] Sultanin, »dass alle die aufrührerischen Gedanken, welche Almaide und Mocles beherrschten, mit einer äußersten Schnelligkeit einander folgten, und wenn Sie gütigst davon denken wollten, so würden Sie sehen, dass alles, was Amanzei Ihnen nur in einer viertel Stunde gesagt, auch nicht zwei Minuten ihren Entschluss aufschieben durfte.« »Nun gut,« erwiderte der Sultan, »so ist der Erzähler dann ein Vieh, wenn er so viel Zeit dazu braucht, um darzustellen, was zwei Leute, von denen er spricht, mit so viel Raschheit dachten.«

»Ich möchte wohl,« erwiderte sie, »dass Sie genöthigt wären, sich dieses auszumalen.« »Ich habe meine Gründe zu glauben, dass ich recht gut damit zu Stande käme,« versetzte er, »aber ich würde es noch besser machen, denn das, was ich so schwer zu sagen fände, möchte ich keine Umstände machen, es zu übergehen.«

»Die Gedanken, in welche Mocles vertieft war, seine Wünsche, die Anstrengungen, die er machte, um sie zu unterdrücken, das Vergnügen, mit welchem er sich ihnen hingab,[190] gaben ihm ein so ernstes und nachdenkliches Aussehen, dass es Almaide endlich an der Zeit fand, ihn zu fragen, was ihm fehle, dass er so lange schweige.«

»Ich fürchte,« fügte sie hinzu, »dass Du Dir düstere Gedanken machest.«

»Du hast Recht,« versetzte er, und es ist die Erzählung, die Du mir eben gemacht, die erzeugte sie bei mir.

Almaide schien erstaunt darüber, was er ihr sagte.

»Sei nicht überrascht,« fuhr er fort, »und sei auch nicht verletzt über das, was ich Dir sagen werde, wie außergewöhnlich es auch in meinem Munde klingen wird. Ich bin außer mir, dass dieser junge Wagehals, der Dich so wenig schonte, nicht die Zeit hatte sein Vergehen zu vollenden.«

»Ach, Mocles,« rief sie aus, »und warum?«

»Weil,« antwortete er, »Du im Stande wärst die Zweifel zu beruhigen, welche mich schon seit lange quälen, und die Du mir eben in ihrer ganzen Stärke wiedergegeben hast, und welche unsere gegenseitige Unerfahrenheit[191] immer fortbestehen lassen wird, da Du auf meine Fragen nicht antworten können wirst, und da es für mich zu gefährlich wäre, eine andere Person als Dich über das, was mich erregt, zu befragen.«

»Es ist sicher,« antwortete sie, »dass Du mir alles sagen kannst, ohne etwas zu wagen.«

»Eben dieses ließ mich wünschen, Du wärest mehr gelehrt, denn da Du so viel Vertrauen in mich hast, so wie ich in Dich, würdest Du mir gewiss nichts verbergen. Wenn ich an Deiner Freundschaft und an der Art, wie Du auf meine Verschwiegenheit rechnest, hatte zweifeln können, die Wahrheit, mit welcher Du mir eben Deine geheimsten Regungen anvertraut, hätte mich davon überzeugt.«

»Lass uns denn wissen, was Dich bewegt,« versetzte sie, »vielleicht kommen wir durch eine Unterredung zu Ende.«

»Oh, nein!« unterbrach er sie, »Du könntest mir nur Vermuthungen geben; und das, was mich bewegt, ist von einer solchen Natur die vollkommenste Gewissheit zu[192] fordern. Ohne Dich mehr zu beunruhigen, will ich Dir sagen, was es ist, and Du wirst beurtheilen, ob es mir gleichgiltig sein soll, indem Du so wie ich denkst, über einen solchen Artikel in einer so tiefen Unwissenheit zu sein. Übrigens ist Dein Interesse mit meinem verbunden, da es nicht möglich ist, so tugendhaft wie Du auch seist, dass Du nicht, gleich mir, von demselben Gedanken gequält bist.«

»Du erschreckst mich,« sagte Almaide, »rede, ich beschwöre Dich.«

»Nun gut!« sagte er. »Ich denke, dass es wohl möglich ist, wir haben sehr wenig Verdienst, indem wir uns nie vom Pfade der Tugend entfernt.«

»Wäre es möglich?« rief sie aus, und zwar in einem ziemlich gereizten Tone, weil das Gespräch eine so ernste Wendung nahm.

»Gewiss,« erwiderte er, »ich will Dich davon überzeugen. Du hast nie die Wonne der Liebe empfunden, denn was auch immer Du davon glaubst, so ist es nicht zu bezweifeln, dass eben das, was Dir mit diesem jungen Manne begegnete, Dir davon doch nur eine sehr unvollkommene Idee gegeben[193] hat. Ich habe sie immer geflohen, aber Du wirst sagen, wir haben Verlangen gehabt, und haben sie besiegt, indem wir sie unterdrückten.«

»Ist es denn ein so großer Sieg, wussten wir, was wir wünschten? Sind wir auch sicher, Verlangen gehabt zu haben? Nein, unser Hochmuth hat uns getäuscht; das, was wir für Verlangen hielten, waren nur leichte Versuchungen. Vielleicht hatten wir uns aus Unwissenheit darüber getäuscht, gäbe es der Himmel! aber wenn es wahr ist, wie ich es wohl fürchte, dass das einzige Trachten, unsere Triumphe zu übertreiben oder zu glauben, dass wir deren davontrugen, uns dar über getäuscht, in welch schuldigem Irrthum haben wir gelebt!«

»Wir schmeichelten uns tugendhaft zu sein, während wir vielleicht unvollkommener waren als diejenigen, welche wir zu tadeln wagten, und dass wir durch unsere Eitelkeit ein Laster mehr als sie hatten.«

»Das ist wahr,« sagte Almaide, »Du machst da eben eine betrübende Betrachtung.«

»Nicht erst seit heute quält sie mich,« versetzte er mit trauriger Miene, und umsomehr,[194] da es nur ein einziges Mittel gibt, um mich von meinem Zweifel zu heilen das, so einfach es ist, deshalb doch nicht weniger gefährlich ist.

»Nun,« fragte sie ihn »ich möchte doch um alles in der Welt wissen, was Du gedacht hast.«

»Man muss Dich so kennen, wie ich Dich kenne,« antwortete er, »um nicht zu fürchten, es Dir zu sagen. Wir glauben tugendhaft zu sein, Du und ich; aber so wie ich es Dir vorhin sagte, wir wissen wirklicht nicht, was daran ist.«

»Worin besteht die Tugend? In der gänzlichen Entbehrung der Dinge, die am meisten die Sinne schmeicheln. Wer kann wissen, was sie am meisten reizt, nur der allein, welcher alles genossen. Wenn das Gewissen des Vergnügens uns dasselbe kennen lehrt, dann kennt derjenige es nicht, welcher es nie erfahren; was also kann er opfern? Nichts, eine Chimäre, denn wie anders soll man eine Sache benennen, die man nicht kennt? und wenn, wie es bestimmt entschieden ist, die Schwierigkeit des Opfers allein ihren Preis ausmacht, welches Verdienst[195] kann derjenige haben, der nur eine Idee opfert? Aber nachdem man sich den Vergnügungen hingegeben hat, und einen Gefallen daran gefunden hat, dann auf dieselben verzichten, sich selbst aufopfern, das ist die große, die einzige, die wahre Tugend, und es ist diejenige, die weder Du noch ich sich schmeicheln können zu haben.« »Ich sehe es nur zu gut ein,« sagte Almaide »dass es wahr ist, wir können uns dessen nicht rühmen.«

»Dennoch haben wir uns ihrer gerühmt,« antwortete lebhaft Mocles, der fürchtete, dass wenn er Almaide Zeit zur Überlegung ließe, sie es fühlte, wie sehr seine Beweisführung falsch sei; »wir wagten es zu glauben, und von diesem Augenblicke an sind wir des Hochmuths schuldig. Es freut mich sehr, und ich lobe Dich dafür, dass Du es fühlst, so lange man nicht im Stande ist einen genauen Vergleich zwischen Laster und Tugend zu machen, kann man nur von einem und dem andern einen falschen Begriff haben. Übrigens ist das Übel, so groß es auch sei, nicht das einzige, man wird unaufhörlich von dem Wunsch gequält, das zu erfahren,[196] was man hartnäckig nicht wissen wollte. Wenn unsere Seele wüsste, woran sie sich zu halten hat, betreff dessen, was sie zu kennen wünscht, dann wäre sie ruhiger, vollkommener. Man muss das Laster kennen, sei es, dass man weniger beunruhigt ist bei Ausübung der Tugend, sei es, dass man der seinen sicher sei.«

Almaide blieb einen Augenblick verzagt, aber das Verlangen, welches sie fühlte, sich über die Wollust zu belehren, oder sich ihr ganz hinzugeben, trug den Sieg über ihrem Schrecken davon, dass sie endlich mehr überrascht, als erschrocken über das war, was sie eben gehört hatte.

»Du glaubst also,« sagte sie mit zitternder Stimme, »dass wir dadurch vollkommener wären?«

»Aber wahrlich,« erwiderte er, »ich bezweifle es nicht; denn, betrachte gütigst die Lage, in der wir uns befinden.«

»Ich sehe es nur zu sehr ein,« sagte sie, »sie ist wirklich erschrecklich!«

»Erstens,« sagte er, »wissen wir ja nicht, ob wir tugendhaft sind, da wir über Leute, die so wie wir denken, betrübt sind.«[197]

»Wie grausam auch dieser Zweifel ist, ist er doch nicht das einzige Unglück, welches unsere Lage mitführt: Es ist nur zu sicher, dass, zufrieden mit der Lage, welche wir uns auferlegt, es gibt vielleicht tausend andere, wesentliche Dinge, über welche wir uns hinweggesetzt zu beobachten; demzufolge im Schatten einer Tugend, welche wohl nur eingebildet sein könnte, haben wir wirkliche Laster begangen, oder (das, was ohne dieselbe Wichtigkeit zu sein, dennoch bedeutende Unzukömmlichkeiten hat) wir haben versäumt gute Handlungen zu machen.«

»Leget verschiedene Lasten einem Menschen zur Wahl vor, es ist nicht zu zweifeln, dass er die leichteste auf sich nehmen wird.«

»Ich höre Dir zu,« sagte sie seufzend, »Du wolltest damit sagen, dass wir dasselbe gethan. Wie vielen Zweifeln lieferst Du mich aus,« fuhr sie fort, die Augen niederschlagend; »und wie soll man nicht davon gequält sein, wenn das einzige Mittel, welches man hat, um von ihnen befreit zu werden, in uns selbst solche Zweifel erweckt.«

»Dieses Mittel,« versetzte er lebhaft, »ist im Grunde weniger zu fürchten, als es erscheint.[198] Ich vermuthe, und es gäbe der Himmel, ich vermuthete nichts, dass unserer Ungewissheit müde, und wohl fühlend, dass es unsere Pflicht ist, uns davon zu befreien, wir das Vergnügen kennen wollen, um seine Reize selbst zu beurtheilen; und was für eine Gefahr läge dann in diesem Versuche, vielleicht die, uns nicht mehr von demselben losreißen zu können, wenn wir es erkannt hätten? Ich gestehe, es wäre eine Gefahr darin für schwächere Seelen, aber es scheint mir, dass ohne Vorurtheil wir auf uns selbst rechnen können.«

Diese Darstellung, welche Almaide ohne Zweifel verabscheut hätte, wenn sie mehr bei sich gewesen wäre, machte auf seine Seele, die, um zu unterliegen, nur auf den Schein einer Entschuldigung wartete, den ganzen Eindruck und die Wirkung, die der unglückliche Mocles sich davon versprach.

Nachdem sie ihn eine Zeit mit unsicheren und traurigen Augen angesehen hatte, sagte sie: »Ich fühle wie Du die Nothwendigkeit dieses Beweises, aber mit wem könnten wir diese Probe in Sicherheit unternehmen?«

Bei diesen Worten neigte sie sich schmachtend[199] über Mocles, der sich ihr nach und nach genähert hatte, so dass er sie in diesem Augenblicke in seinen Armen hielt.

»Ich glaube,« sagte er ihr, »dass, wenn wir es wagen wollten, so könnte es nur[200] zwischen uns beiden geschehen: Wir sind einer des andern sicher, und wir können nicht zweifeln, dass es nur geschieht, indem wir die Tugend suchen, dass wir uns zu Handlungen entscheiden, welche sie zu verletzen scheinen, wir sind sicher, uns eine Regung der Neugierde nicht zur Gewohnheit zu machen, welche nur von einem so guten Vorsatz ausgeht. In welcher Art es auch sein mag, so werden wir doch dabei gewinnen, da die Erinnerung an unseren Fall uns vor dem Hochmuth schützen wird.«

Obzwar Almaide nichts antwortete, schien sie noch ungewiss; Mocles, der sie um jeden Preis sich ergeben sehen wollte, widerstand ihr, um sie endlich zu besiegen, diesen Versuch unternahm er nur geradeweise; endlich sagte er, dass wenn sie bei ihrem ersten Versuch genug Wollust fänden, um ihren Zweifel festzustellen, so gingen sie nicht weiter.

»Sie willigte ein; bald vergaßen sie sich und erregten ihre Wünsche durch Dinge, die, obgleich ohne Anmuth und mit Unschicklichkeit, über ihre Sinne nichtsdestoweniger[201] Herrschaft nahmen; sie ließen den Vertrag, den sie schlossen, außer Acht.

Beide fanden zu viel oder zu wenig in dem, was sie fühlten, sie hielten es für richtig fortzusetzen, oder konnten nicht mehr aufhalten, und ...«

»Auf einmal bist Du was anderes geworden,« unterbrach der Sultan.

»Nein, Sir,« antwortete Amanzei.

»Ich kann das nicht begreifen,« erwiderte Schah-Baham »und ich weiß wohl warum, weil dieses unbegreiflich ist; denn es ist nicht zu bezweifeln, dass sie nicht alles hatten, was nur Brama verlangte.«

»Ich glaubte zuerst, wie Euere unbesiegbare Majestät,« erwiderte Amanzei; »wenigstens einer von Beiden hätte den anderen beherrschen sollen.«

»Ich bilde mir ein, dass Du sehr böse sein musstest,« versetzte der Sultan, »und sage mir, welchen von beiden misstrautest Du am meisten?«

»Die Erzählung von Almaide ließ mich großen Verdacht gegen sie schöpfen und die Unwissenheit, welche sie an den Tag legte, als sie sich Mocles ergab, obgleich sie außerordentlich[202] war, verhinderte mich nicht zu glauben, dass sie, als sie ihm die Erzählung ihres Abenteuers machte, den Umstand vorausgesetzt, der mich in meinem Gefängnisse zurückhielt.«

»Da seht die Frauen!« rief der Sultan aus, »oh, ja! Deine Vermuthung ist richtig! Nun gut! ich habe nichts dazu gesagt, aber ich hätte gewettet, dass sie nicht alles sagte; wenn ich mich dessen gerühmt habe, so gibt es hier Leute, die mich beschuldigt hätten, den starken Geist zu spielen. Geh, geh, sei dessen sicher; sie war es, die es verhinderte, dass Du nicht befreit wurdest.«

»Die Sache, wie wahrscheinlich sie auch ist,« antwortete Amanzei, »so scheint sie doch einige Schwierigkeiten zu haben; Mocles schien mir doch sehr viel Erfahrung für einen Mann zu haben, der bis jetzt für so fehlerfrei galt.«

»Dies ändert die These,« sagte der Sultan, »denn ... ah ja! man sieht es wohl, er war es.«

»Aber verständigen Sie sich doch,« sagte die Sultanin; »sie war es, er war es,[203] warum, ohne sich so sehr zu quälen, glaubt Ihr nicht, dass sich Beide verstellt haben?«

»Sie haben recht,« erwiderte der Sultan, »streng genommen, könnte es sein; es scheint mir jedoch, dass es besser wäre, wenn es einer oder der andere sei, ich weiß nicht warum, aber es möchte mir so besser gefallen. Lass sehen, was sagten sie hernach? Das interessiert mich nicht am wenigsten.«

»Der erste, der aus seiner Verwirrung zu sich kam, war Mocles; er kam mir anfangs wie erstaunt darüber vor, dass er sich in der Umarmung Almaidens befand, und als seine Vernunft nach und nach Oberhand gewann, folgte auf das Erstaunen der Abscheu. Er konnte das, was er sah, gar nicht begreifen; er bemühte sich, daran zu zweifeln, und gab sich der Täuschung hin, dass ein böser Traum ihm so unschöne Dinge zeigte.«

Bestürzt über sein Unglück bereute er und stellte sich alles vor, was er gethan hatte, um Almaide zu verführen, wie sehr ihn seine verbrecherische Leidenschaft verblendet hatte, und wie sehr sie ihn stufenweise[204] verdorben hatte; er verfiel in den bittersten Schmerz.

Endlich öffnete auch Almaide ihre Augen; sie war noch erregt und unterschied die Lage noch nicht so gut wie Mocles, sie war zuerst mehr zerstreut als betrübt.

Es sei, dass die Verzweiflung, in der sie ihn sah, sie ihren Fall deutlich fühlen ließ, es sei, dass sie selbst erkannte, was[205] sie sich vorzuwerfen hatte. »Ah, Mocles,« rief sie weinend aus, »Du hast mich entehrt!«

Mocles gestand es, er klagte sich an, sie verführt zu haben, bemühte sich, sie zu trösten, und sprach mit ihr wie ein Mann, der tief gedemüthigt war über die Gefahr, die darin liegt, wenn man zu viel auf seine Selbstbeherrschung rechnet.

»Endlich, nachdem er ihr alles gesagt hatte, was der lebhafteste Schmerz und die aufrichtigste Reue eingeben kann, nahm er für immer Abschied von ihr und entfernte sich, ohne es zu wagen, sie anzusehen.

Nachdem Almaide allein geblieben, verbrachte sie die ganze Nacht weinend und warf sich alles, selbst den Vorwurf, den ihr Mocles gemacht hatte und in welchem sie zu viel Eitelkeit fand, vor.

Mocles entschloss sich am nächsten Tage zur strengsten Zurückgezogenheit.«

»Nun endlich entschließe ich mich zu glauben,« unterbrach der Sultan, »dass er es nicht war.«

»Und Almaide,« fuhr Amanzei fort, »folgte nach einigen Tagen seinem Beispiele.«[206]

»Dieses stört mich,« erwiderte der Sultan, »sie hätte es nicht sein sollen. Nie hat sich eine schwerer zu entscheidende Frage meinem Geiste dargeboten und ich überlasse es jenem, dieselbe zu lösen, der es im Stande sein wird.«

Quelle:
Crébillon Fils: Sopha. Prag [1901], S. 176-207.
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