[Orpheus zieht es nun zum Meere]

[61] Orpheus zieht es nun zum Meere,

Das ihm dumpf entgegengähnt,

Und nach dessen dunkler Leere

Sich des Sängers Seele sehnt.


Lustig flimmern, schon die Sterne,

Denn der Tag verglomm bereits,

Und der Dichter athmet gerne

Dieser Stunde düstern Reiz.


Plötzlich schäumt noch, wie verschlagen,

Eine Woge auf den Damm,

Und die hat noch einen Kragen,

Spitzensaum und Feuerkamm.


Nun ists finster. Linde Winde

Spielen auf dem bleichen Strand,

Und ganz ähnlich einem Kinde

Formen sie den feinen Sand.


Niedlich sind die kleinen Haufen

Die da jemand aufgebaut –

Kinder wohl, die scherzend laufen,

Oder lacht der Wind so laut?
[61]

Plötzlich giebt es kleinen Ärger

Denn das bläst sich Hügel um!

Oder wird der Lufthauch kärger?

Plötzlich wird es ringsum stumm!


Orpheus tönt nun aus dem Meere

Wohl ein Mutterruf hervor,

Und es scheint ihm, es begehre

Draußen wer, was er verlor.


Arme greifen aus dem Wasser

Wahrhaft jetzt nach ihrem Wind,

Und er sieht auch, wie ein blasser

Milchgischt wie aus Brüsten rinnt.


Lauter Mutterwogen wollen

Die Erfüllung einer Pflicht,

Und die See hört er ergrollen,

Wenn ein Wunsch zusammenbricht.


Viele, viele Arme sielen

Wildverzweifelt schon zurück,

Denn die winzigen Hauche spielen

Ruhig fort und voll von Glück.


Ach, das sind die Kinderseelen,

Die sich, wie ein sanfter Wind,

Abends sacht zum Spiele stehlen,

Wenn sie schon verschieden sind.


Überall am Meeresstrande,

Wird man ihrer oft gewahr:

Frei von jedem Gängelbande,

Tummelt sich die muntere Schaar.
[62]

Orpheus weiß, von vielen Kindern

Die sich stets hinweggesehnt –

Ach, ihr Weh war nie zu lindern

Und ihr Blick hat oft gethränt.


Sie gedachten der Gespielen,

Dort am stachen Daseinsrand,

Erst als sie dem Tod verfielen,

Waren sie im Heimathland.


Kinder, die nicht ganz erwachen,

Fallen bald zurück in Schlaf,

Selten nur siehst Du sie lachen,

Und sie sind stets gut und brav.


Orpheus weiß, es ist das Leben

Durch den Lenz vom Tod getrennt,

Durch sein Traumland muß man schweben,

Bis man sich als Kind erkennt.


Seine Jugend überwinden

Wird zur ersten Schmerzenspflicht,

Einige Seelen aber finden

Diesen Weg voll Wehmuth nicht!


Orpheus selbst ist sanft geblieben

Und sein Geist spielt überm Meer:

Schmerz hat mit ihm Scherz getrieben

Und sein Lied ist regenschwer.


Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 3, München; Leipzig 1910, S. 61-63.
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