[Von Flimmerlüften war das Nebelmeer verschlungen]

[20] Von Flimmerlüften war das Nebelmeer verschlungen,

Die Thäler dampften sonnvergoldet, frei,

Doch alles, was zum Sonnenglück emporgesprungen,

Trug in sich selbst ein Stück der Daseinswüstenei.


Auf hohen Gipfeln hafteten noch Wolkenmassen

Und ragten steil und schroff ins tiefe Blau empor.

Sie schienen alle Erdensehnsucht zu umfassen,

Bis ihre Hochgestalt sich schließlich auch verlor.


Der Sieg des Lichtes machte alles lebenstrunken,

Nur dort, wo noch ein Wolkensaum das Land umzog.

War manche Wildniß in ein Gletschergrab gesunken,

Das nun ein Geierschwarm, statt Wolkenflaum, umflog.


Was sonnwärts lebte, schloß, zur eigenen Bewahrung,

Die Thierkreise zu einem strengen Beutering,

Doch fehlte bald den Lichterlesensten die Nahrung,

Denn, was sich an sie schloß, blieb dürftig und gering.


Somit verreckten denn die allermeisten Wesen,

Und Licht und Erde trennte nun ein Wüstensaum,

Das Wachsthum mußte bald verschrumpfen und verwesen,

Fast astlos blieb der Mutterstamm vom Lebensbaum.


Die Sonnenrückkehrkröne aber mußte bleiben,

Denn Erdenmystik fand darinnen Unterkunft,

Es schien für seine Blüthen nur des Baumes Saft zu treiben,

Und bald entduftete die Tugend der Vernunft.
[20]

Vernunft ist ein erworbenes Erbstück unserer Erde,

Das Widersprüche, ja das Licht der Nacht verknüpft,

Sie giebt uns auch das Pathos freier Herzgeberde,

Da ihr Entschluß nun mit ins Schöpfungswalten schlüpft.


Sie muß in sich die eigene Sonnenhöhe messen,

Sie ist der Erde tieferstrebtes Meisterwerk,

Sie trachtet, wirkend ihren Ursprung zu vergessen,

Und aufs Abstrakte richtet sich ihr Augenmerk,


Sie sucht den Kreis, den sie erfaßt, streng abzuschließen,

Der Menschheit Lasternachschub wird von ihr verdammt,

Und wo sie stark ist, kann sie geistig tief genießen,

Da sie asketischer Nothwendigkeit entstammt.


So ward, fast eirund, auch des Menschen Hirnverschalung,

Durch dünne Wirbel dann das Haupt vom Rumpf getrennt,

Denn nur der Urellipse Theilung und Verstrahlung,

Ergeben Weltvernunft und Sonnentemperament.


Des Menschensamen ganz verschieden rasches Schwingen

Giebt künftigen Wesen ihre sonnenfreie Art,

Es muß der Urkeim schon den Sonnenrang bedingen,

Nach dem der Pulsschlag dann den Sonnenrhythmus wahrt.


Vernünftige Erkenntniß der geschlechtlichen Erzeugung

Der Nachwüchse ward bald zum letzten Ruck,

Zur Spaltuug in Geschlechter: klare Überzeugung

Befreite erst von allen Zwitterthumes Druck.


Denn dieses scheute die Vernunft als unnatürlich,

Zumal es immer jung, als Urinstinkt, ersproß;

So blieb auch seine Grunderstickung unausführlich,

Da es stets wieder in den Menschen überfloß.
[21]

Das Wechseln ward dann für die Menschen vorbehalten,

Und die Geschlechtstrennung der Wildniß größter Drang,

In Sonnenmännchen und in Erdweibchen gespalten

Erfüllt ja schon das Dasein seinen heiligen Zwang.


Nun schürt jedoch die Erde eine Einheitsflamme,

Die die Vernunft zurück in ihre Kreise weist,

Sie treibt und hält sich steil am Daseinsstamme,

Und heilt, was die Natur wild auseinanderreißt.


Im Menschengeiste lohen hehre Farrenwälder

Jetzt hoch empor, und was erstorben ist ersteht:

Das da sind Edens urversprochene Felder,

Ihr Himmel ist vom Meergewimmel übersät!


Dort oben schimmern Goldpolypen, Purpurschlangen,

Und Riesenperlen ruhn in einem Muschelhof,

Es können Dichter stets nach ihnen sicher langen

Und immer fühlt ihr Wesen, irgendwo, ein Philosoph.


Beinahe von der Eingeschlechtlichkeit gereinigt,

Da die Vernunft sie unerbittlich von sich stieß,

Bleibt doch der Mensch noch ernst mit der Natur vereinigt,

Wie sich die Schöpfung dies vom Vollgeschöpf verhieß.

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 3, München; Leipzig 1910, S. 20-22.
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