[Hier lacht die Nacht: das ist die Stadt der tollen Nächte]

[415] Hier lacht die Nacht: das ist die Stadt der tollen Nächte,

Das ist das Land der Liebe und der Liebesrechte,

Es fürchtet Niemand hier die großen Zweifelsmächte,

Da weilt die Kindlichkeit im schaudernden Geschlechte.


Das herzt sich und lacht, das tanzt auf der Straße,

Das nimmt sich aus Neigung und küßt sich zum Spaße,

Man liebt um zu lieben, entjubelt dem Maaße

Und ruft sich und winkt sich, das singt auf der Straße.


Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen!

Die Erde schämt sich, daß wir tanzen, scherzen,

Die Erde blutet ja vor Mutterschmerzen:

Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen.


So komme, so komme, die Reue ist ferne,

Ich habe Dich gerne, wir haben uns gerne,

Die Nacht ist beruhigt, es flimmern die Sterne,

Wir jubeln und jubeln: die Sterne! die Sterne!


Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen!

Die Erde will nicht, daß wir herzen, scherzen,

Sie will uns aus der Herzensnähe merzen:

Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen.


Das ist die Stadt, wo ich ein Wesen knickte,

Wo ich beinah vor Bangigkeit erstickte,

Das war kein Kind, das aus dem Fenster nickte,

Das war die Schuld, die mir das Schicksal schickte.


Jetzt springen wir, wirbeln wir, drüber, hinüber!

Vorüber, vorüber, je schneller je lieber!

Ich juble, wir singen, ich werde doch trüber,

Ich denke nicht dran und ich schwärme im Fieber.
[415]

Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen!

Die Erde will nicht, daß wir herzen, herzen,

Sie will uns aus der Herzensnähe merzen,

Sie blutet aus dem Herzen! aus dem Herzen!


Der Gram erfaßt mich, ringsum wird es dunkel,

Nur selten blitzt es, wittern wir Gefunkel,

Du börst und mehrst zugleich das Stadtgemunkel,

Auf einmal ward es überraschend dunkel!


Das Mutterherz blutet, es blutet und blutet,

Das Unheil wird überall wortlos vermuthet.

Was giebt es am Meere? Es grollt und man tutet,

Die Nacht ist vergraut, doch sie blutet! und blutet!


Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen!

Wir können nicht fröhlich sein, jubeln und scherzen,

Es fängt sich der Himmel an furchtbar zu schwärzen:

Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen.


»Du Heiliger, Schutzpatron dieser Gefilde,

Maria, Du Königin ewiger Milde,

Beschirme die Stadt mit dem bräutlichen Schilde!«

Ertönt es vor manchem beleuchteten Bilde.


Wir wollen uns herzen, besitzen, vergnügen,

Wir lassen uns nimmer von Schemen belügen,

Wir mögen uns nicht mit dem Fleische begnügen,

Ihr Anderen laßt Euch betrüben, betrügen.


»Du Mutter, die keine Gewaltthat erfahren,

Beschütze, was fromm ist, vor Schreckensgefahren,

Erschaue Gerechte in thörichten Schaaren!«

Ertönt es: »Und lasse uns Trost offenbaren!«
[416]

Es blutet das Dunkel, das Mutterherz blutet,

Es blutet das Meer und man tutet und tutet,

Die Luft ist geschwärzt und von Schaudern durchgluthet,

Der Tag ist verkohlt und die Nacht grell durchblutet.


Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen!

Man singt jetzt; »Wir wollen uns eillig noch herzen,

Der Tod ist so schwarz und so ledig an Scherzen!«

Es tönt: »Bringt der Jungfrau gesegnete Kerzen!«


Es donnert die Luft und es tönen die Glocken,

Es kann, was da jubelte, nimmer frohlocken,

Es mag sich jetzt Niemand zum Tändeln verlocken,

Es blutet das Dunkel, es grollen die Glocken.


Das singt Litaneien, beleuchtet die Straßen!

Es wagt es jetzt Niemand zu lästern, zu spaßen,

Die Menschen, die lange das Murmeln vergaßen,

Durchmunkeln nun dunkeldurchblutete Straßen.


Das läuft aus den Häusern, die Freude ist ferne,

Das betet in jeder verrauchten Taverne,

Das tapft von Laterne jetzt stumm zu Laterne:

Auf einmal erschallt es: »die Sterne! die Sterne!«


Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen!

Die Menschen fangen plötzlich an zu scherzen,

Das will genießen, jubeln, scherzen, herzen:

Das ist die Stadt mit dem gebrochenen Herzen.
[417]

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 415-418.
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