[Dir Artemis, der Erstgeborenen]

[82] Dir Artemis, der Erstgeborenen

Von Letos hohem Zwillingspaar,

Dem reinsten Weib, dem zuchterfrorenen,

Bringt mein Gemüth den Nachtsang dar.


Dein Speer und Silberpanzer blinken.

Auf wildem Schimmel, ohne Zaum,

Die Halbmondfackel in der Linken,

Durchschweifst Du still den Sternenraum.


Du reitest sicher, ohne Zügel,

Und stürmisch wiehert nun Dein Roß,

Es wittert weißes Nachtgeflügel,

Da schleuderst Du Dein Wurfgeschoß!


Es sprengt Dein nacktes Magdgeleite

Auf Windfliehern um Dich herum,

Wohl keine weicht von Deiner Seite,

Zur Jagdzeit sind sie meistens stumm.


Sie haschen Vögel, die ermüden,

Doch blos die Göttin wirft den Speer,

Nun kommt der Jungfrau, aus dem Süden,

Ein Vogelzug jäh in die Quer.


Um Störche, weiße Tauben, Reiher,

Ein reiches, frühes Lenzgeschenk,

Wirft jetzt der Jagdtroß dichte Schleier,

Und fängt sie listig und gelenk.


Doch vorwärtswirbelnd, wiederkehrend,

Setzt sich der Vogelschwarm zur Wehr,

Sich weiterwindend, rings sich mehrend,

Weicht nimmer dieses Wolkenheer.
[82]

Dianas Fakel zu verdüstern,

Scheint ihnen Rettung in der Noth,

Doch bleiben sie von Windverwüstern,

Trotz Muth und Hurtigkeit, bedroht.


Ein Zug von Turteln gurrt, und lüstern

Wirft sich der Jungfrau munteres Pferd,

Jetzt geifernd aus den weiten Nüstern,

In diese Schlacht, die es begehrt.


Ganz wirr, verworren sind die Mähnen

Der Gäule bei der wilden Jagd,

Sie tragen tausend Luftsirenen,

Von Artemis hoch überragt!


Die führt den Troß, der sie begleitet,

Jetzt wüthend ins Getümmel ein,

So weit das Wolkenfeld sich breitet,

Entbrennt der Kampf im Fackelschein.


Sowie die Herrin Beute wittert,

Durchzuckt Begierde ihr Gesicht,

Es blendet, bricht, es blitzt uud splittert

Jetzt Britemertis Silberlicht.


Sie will das Wild zu Tod verletzen,

Ganz rücksichtslos wird aufgeschlitzt,

Selene liebt das tolle Hetzen,

Ihr Silberlicht wird rings verblitzt.


Bald wird das Nachtgezücht zerstieben,

Der Himmel ist mit Flaum bedeckt,

Der ganze Schwarm ist aufgerieben

Und im Gemetzel lahmgeschreckt.
[83]

Den Göttern wird als frohe Kunde

Verkündet, daß die Schlacht vollstreckt,

Es heulen noch die Sturmwuthhunde,

Sie haben heute Blut geleckt.


Der Himmel muß als Mond erscheinen,

Der sich ins Sternenall erstreckt,

Denn hinter Federn und Gebeinen

Liegt nun der Kampfplatz ganz versteckt.


Hoch oben sieht man Kraterschlacken

Von Silbersäumen leicht erhellt,

Und scharf umgrenzt von Mondlichtzacken

Erscheint das große Todtenfeld.


Erstarrt, vereist ist jetzt der Himmel,

Der Mond eroberte ihn ganz,

Und siegreich sticht das Jagdgewimmel

Sich einen Rieseniriskranz.


Nur langsam löst sich das Gefieder,

Es ist der Göttin Jagdtrophäe,

Als Flocken wirbelt es hernieder,

Die Höhen hüllen sich in Schnee.


Als strebten Segler nach dem Orte

Der sichern Rast, mit scharfem Kiel,

Drangt durch das Wogen unserer Worte,

Durch kühner Rhythmen Wechselspiel,


Gleich Pfeilen von entspannter Sehne,

Als Lichtbild, herrlich die Idee:

So tritt aus Nebeln jetzt Selene,

Ganz Hellas glänzt in Silberschnee!
[84]

Das Mondlichtnetz umschlingt uns wieder,

Der Himmel ist fast wolkenfrei,

Und Leleithia steigt hernieder,

Sie hilft des Nachts von eins bis drei.


Stets westwärts wehen die Jägerschaaren

Im Mond Muchion übers Meer,

Wie sie Italiens Strand gewahren,

Fliegt flinker noch das freie Heer.


Durch Wälder streifts im Schwebeschritte

Als blasser, weißer Nebelstreif,

Um Wiesen schweifts, mit leichtem Tritte,

Und gleitet schon und schleift aus Reis.


Die Göttin sieht auf fernen Zinken

Des Bruders Troß im Purpurlicht,

Und horch, sie muß zum Aufbruch winken,

Da eine Jungfrau leise spricht:

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 82-85.
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