[Im Norden aber scheinen sich Gerippe gegen Fleisch zu wehren]

[218] Im Norden aber scheinen sich Gerippe gegen Fleisch zu wehren,

Der Geist, der sich von Roms Bestimmtheit weg und weiterkritisierre,

Vermochte plötzlich eine Form nach eigener Artung zu gebären.


Die schale Leiblichkeit, die bald zur Lasterfratze halb verthierte,

Ward selbst als Sinnbild eitler Lust im Kirchenschnörkelwerk vermieden,

Drum sah man aufdemDomen kaum ein Spukbild mehr, das niederstierte.


Man sah, berechnete Verquickungen von seltenen Unterschieden

Und spitzte alles Wissen zu, um himmelwärts hinanzuklettern,

Und steifte sich beim Thürmen stets auf Krönungspyramiden.


Gar manches Münster trotzte so, fast erdentrückt, den Himmelswettern

Und ward dadurch ein Ebenbild geklärter, geistiger Empfindung,

Gereifter Reinheit, ders gelang, die Teufelsmächte zu zerschmettern.


Die Säule, keine Stütze mehr, erkannte sich als Formverbindung,

Im Dome konnten schwindelhoch Gedanken Halt im Stein besitzen,

Denn blos aus tiefstem Innermaaß entströmte jede Pfeilerwindung.


Mit Schillerspielen sollte Licht die Kircheneinsamkeit durchblitzen,

Belehrend drang es in den Dom, erzählte stets von Gottes Wollen,

Und drängte, kreuzte sich versprengt durch die verglasten Mauerritzen.
[218]

Auch schien ein dunkler Schwermuthshauch die Marmorbilder zu umgrollen,

Die Köpfe waren leidverzehrt, fast leibentrückt in ihrer Größe,

Und Mäntel sah man oft vom überlangen Halse niederrollen.


Gewänder, schlaff und faltenreich, verbauschten keusch die kleinste Blöße,

Der Heiland aber jener Zeit blieb stumm in seinen Marterqualen,

Und oft verbleichte nur sein Leib, zerfleischt durch rohe Lanzenstöße.


Doch ward er blutentleert zu schwer, so sing die Seele an zu strahlen,

Und waren seine Glieder bald verblichen, wesenslos, gebrochen,

Durchgeistigte der Heilandsgeist ganz eigentlich die Kathedralen.


Oh Christenthum, Du läßt das Herz der Leidentrückten stärker pochen

Denn nie verhehlst Du einen Schmerz, der Armut magst Du Dich nicht schämen,

Und da Du neue Leiden schufst, hast Du Dein Machtwort ausgesprochen.


Ja, die Betroffenen eilten zu, an Deinem Kreuz sich auszugrämen,

Denn schmerzenfördernd wie Du warst, begriffst Du auch, wer Schmerz erlitten,

Es ist, als ob die Leiden doch zum Menschenheil vom Himmel kämen.


Du tönst als ein Naturlaut fort und hast zumeist den Sieg erstritten,

Denn blutvergießend legtest Du stets Balsam aus die Wunden,

Und Du erwarbst dein Engelsheer, wo Du ein Dasein abgeschnitten.


Die Wittwen, Waisen folgten Dir, war doch ihr Fröhlichsein geschwunden,

Die ganze Menschheit aber geht stets sonnenwärts durch Leidepochen

Und hat sich drum aus Müdigkeit mit Leidverbreitern noch verbunden.


Die alten Deutschen, die so schwer mit ihrem Heidenthum gebrochen,

Empfanden lang das neue Heil so arg wie scharfe Marterzangen

Und wollten dann die Leiblichkeit dem Geiste gänzlich unterjochen.
[219]

Sie nahmen sich fürwahr zu ernst. Zu freudlos war ihr Lichtverlangen.

Sie suchten, konnten fast das Ich, samt seiner eigenen Unschuld, morden,

Doch schürten sie da unbewußt Beginne, die im Herz erklangen.


Was er nicht liebte und empfand verstand nach langer Pein der Norden,

Doch sind dabei, nach kurzer Frist, die groben, trotzigen Germanen

Ein heimathfremdes Träumervolk, ein wurzelwunder Stamm geworden.


Doch endlich schien die Erde sie an ihren tiefsten Hort zu mahnen:

Und Kathedralen, hoch und hehr, strengmathematisch ausgeklügelt,

Steilrhythmisch in die Höh gethürmt, ein anderes Werden anzubahnen!


Wo sich der Meister selbst erhebt, wenn er des Münsters Wucht beflügelt,

Und kaum der Gottheit Nahe sucht, vermag ers, Thürme aufzurecken,

In denen keinen Höhenflug ein erdentreues Rufen zügelt.


Doch in sich selbst begann man nun noch schönere Dome zu erwecken,

Aus Liebesgluth und Brunst gefügt, erstand so mancher Glaubensthurm,

Der konnte, einmal ganz am Ziel, die Welt, das Sonnenglück erschrecken.


Wohllautwolken entwirbeln im Orgelsturm

Den Seen der Seelen, die Ufer zerschlugen,

Denn ringsum entreckt sich ein glühender Wurm!


Und rhythmenverblitzende, wuchtige Fugen

Erlösen melodisch die Liebesgefühle,

Die lange den Fluch der Verdammniß ertrugen.


Die Freude entschmettert der lüsternen Schwüle

Und wonnigerstrahlend als Freiheit und Äther

Umhaucht sie ersprühte krystalllichte Kühle.
[220]

Ein Aufschwung lichtherrlich, urwillig gesäter,

Zu Tönen erglühender, reifender Liebe

Durchwuchtet die Seufzer asketischer Beter.


Genußschreie schluchzen im Wollustgetriebe

Und gleichen dem brausenden Aufklatschen nasser

Strandstürmender, wogenverkrümmender Hiebe.


Es schlingt aus uns allen ein goldener, blasser

Gefühlsschwall, der jeder Verstummtheit entbuchtet,

Sich weitwärts ins bacchische Lachen am Wasser.


Ein tönender Sprudel, der Sonnen befruchtet,

Entzückt, überstürzt sich, berührt mich als Manna,

Erhört sich als Echo im Münster verschluchtet


Und braust über uns als Erlösungshosianna!
[221]

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 1, München; Leipzig 1910, S. 218-222.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Nordlicht (Florentiner Ausgabe)
Theodor Däubler - Kritische Ausgabe / Das Nordlicht

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon