[Du Lebenskrampf, nun wirst Du Klarheit wollen]

[44] Du Lebenskrampf, nun wirst Du Klarheit wollen.

Das Sonnenmuß erscheint als Lust zu leben.

Das letzte Volk entklettert zäh den Stollen,

Und Vollbewußtsein kann sein Haupt erheben.

Die Massen, die dem Kraterschlund entfliegen,

Bedünkten mich verkrampft am Hang zu kleben,

Als Tausendhänder sich hervorzuschmiegen,

Verkrallt, verrunzelt, wo die Spalten klafften,

Noch starr die schroffen Schranken zu besiegen.

Nicht länger taugt das Aneinanderhaften.

Es muß die Blindheit der Gefühle schwinden.

Die Menschheit löst sich aus den fabelhaften,

Fast schlangengleichen, starren Urgewinden

Nun langsam auf, in krumme Einzelwesen;

Doch jedes trachtet wieder das zu finden,

Was eben noch mit ihm verschränkt gewesen.

Noch stehn die Menschen kaum und dennoch kriechen

Die Leiber, ihrer Wunden erst genesen,

Sogleich zurück zum fiebersiechen,

Geschlechtsverschiedenen andern Leibe

Und scheinen da den gleichen stets zu riechen.

Dann ists, als ob sie andere Sucht vertreibe.

Die Männer trachten sich emporzurecken,

Doch stets verfolgt vom gleichen krummen Weibe,

Gelingt es schwer, den Sonninstinkt zu wecken.[44]

Denn will der Mann sein Ich aus Brunst erheben,

So trachtet sich das Weib ihm nachzustrecken:

Und scheint dann eines ganz aufeinmal zu erbeben,

So liegen gleich auch Andere mit in Krämpfen,

Um Drillingen im Nu das Sein zu geben.

Doch das Gebären kann die Wollust dämpfen.

Die Weiber wollen ihre Kinder nähren

Und lassen nun die Männer wüthend kämpfen.

Der Feinde muß sich Niemand noch erwehren,

Und dennoch würgt man sich nach alter Weise.

Ja, das Bewußtsein scheint erst einzukehren,

Wälzt der Instinkt sich längst im Urgeleise!

Der Schreck verfärbt die Haare mancher Streiter,

Und schon besitzt die Welt wie einstens Greise,

Doch diese leben hundert Jahre weiter.

Die Jugend werden Kinder bald ersetzen,

Und vollbesetzt ist dann die Altersleiter.

Gestalten, die das stumpfe Sein benetzen,

Die treten in der Menschheit jung zu Tage.

In ihr versucht die Welt sich festzusetzen

Und urhamonisch schafft sie eine Lage,

In der Gestirne sich das Leben spenden,

Dem einst die Menschheit klarbewußt entrage.

Zum Weib seh ich den Mann sich aufrecht wenden.

Er findet wieder was er einst verlassen.

Er labt das Weib mit seinen eigenen Händen,

Und was ihm naht, das muß er blindlings hassen.

Drum scheint es mir, es wird nach einiger Weile,

Wie einst, sich alles ineinanderfassen:

Und sprießt, was jetzt entsteht, mit Sturmeseile,

Geschiehts, um alte Maaße einzurenken.

Der Menschheit grundverschiedene Wesenstheile[45]

Sind da, sich als Bewußtsein zu verschränken.

So wird die Einheit stolz ihr Sein erfassen

Und ihren Lebensdurchlauf kurz bedenken:

Heil Dir Natur, wie kannst Du Kraft verprassen!

Du reißt die Stütze Deines Weltenbaues

Aufeinmal ein und Du vertilgst die Rassen,

Die Fluren Deines heitern Erdengaues:

Du stückst und thürmst sie wiederum zusammen,

Und kühlst von Deines hohen Sonnenbaues

Unendlich steilem Throne alle Schrammen!

Wir wagens, Dich in Gut und Schleckt zu theilen!

Doch selber wirst Du nimmer Dich verdammen.

Viel größer ist Dein ewiges Urverweilen,

Als Lebensstürme, die sich selbst verzehren

Und zweck und ziellos durch das Chaos eilen!

Du kannst sie ewig jung in Dir gebaren.

Nun grüß ich sie in meiner eigenen Gattung,

Denn eben laßt Du diese sich vermehren.

Auf Erden giebt es nirgends mehr Ermattung.

Und was sich jäh in seine alte Form gegossen,

Das fordert des Geraubten Rückerstattung,

Und nichts Erworbenes ist mit ihm ersprossen!

Jetzt sind die Stumpfgewalten übermächtig,

Noch giebt es keine Kampf und Ehgenossen.

Die Leiber bleiben kaum drei Monde trächtig,

Um Drillingen das Erdensein zu schenken.

Selbst Greisinnen und Mädchen, jung und schmächtig,

Gewahr ich, wie sie plötzlich Kinder tranken:

Die vollen Brüste strömen üppig über,

Und nichts kann diesen Überfluß beschränken.

Oft wird das Lichtbewußtsein wieder trüber.

Die Schnellgeburten rauben es den Vätern:[46]

Doch giebt es gleich ein Licht und Schattengegenüber,

Verkörperlicht in Sonn und Erdvertretern.

Auch Länder fangen wieder an zu beben.

Da hörst Du plötzlich die Bewohner zetern

Und Schreckensrufe schrill und laut erheben.

Doch so wird manches Angstempfinden rege,

Und unsere Sprache uns zurückgegeben.

Die Menschen packen auf den Wüstenwegen,

Die Echorufe auf von Felsenrändern,

Damit der ganze Stamm sie sorgsam hege

Und, um die Muttersprache nie zu andern!

Die Völker ziehn dem Lebenslaut entgegen,

Ihn aufzugreifen, in verschiedenen Ländern

Und ihn hinein ins eigene Sein zu legen!

Die Sprache hilft die Stämme auszuprägen

Und selbst den Eigenstolz als Gott zu heben,

Denn wallt sie auf, so zwingt sie zu erwägen,

Und wildfanatisch seh ich Völker sprechen,

Als schrien sie, schmerzdurchzuckt von Peitschenschlägen!

Ja, so nur können sie die Starrheit brechen

Und Zwecke fühlen durch das Volksgehaben:

Und solches fängt nun an hervorzustechen!

Nun sieht ein Wanderstamm in einem Graben

Die Reste abgedorrter Fühlerhaken.

Die zucken noch und trachten sich zu laben:

Sie stammen wohl von gleichen Lebenskraken,

Der plötzlich aus dem Krater Fühler langte,

Die lange tief im Erdenschooße staken.

Doch was sich krampfhaft hier zum Wurm verrankte,

Das scheint fürwahr kein Knäul von Menschengliedern,

Und jedes Volk, dem gleich vor Fremdem bangte,

Beginnt nun diese Masse anzuwidern.[47]

Die meisten werfen schon darauf mit Steinen,

Doch einige trachten mit gesenkten Lidern

Sich dort mit Weibestheilen zu vereinen.

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 44-48.
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