Sehnsucht

[68] Ich sehne mich nach einer Traumgestalt,

Nach einem unberührten, keuschen Wesen,

Das noch im Buch der Sünde nicht gelesen,

Das Wollust nicht einmal im Geist umkrallt.


In ihrer Seele müßte Mitleid wohnen

Mit jedem Menschen und mit jedem Tier,

Am allermeisten aber doch mit mir,

In dem das Elend und die Marter thronen.


Und wie vom übervollen Weinpokal

Die goldnen Fluten achtlos niederschießen,

Müßt' ihre Himmelsreinheit mich umfließen

Und tilgen meiner Seele Sündenqual.


Quelle:
Felix Dörmann: Neurotica, München und Leipzig 1914, S. 68-69.
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