Klage Sions Vber den Verzug ihre Breutigams Jesu Christi

[68] Der Tag beginnet zu vergehen:

Die Sonne lest des Himmels Saal

Versetzt mit Sternen ohne Zahl

Wie einen bunten Teppich stehen:

Der Schlaff trit Wald vnd Städten zu,

Gönnt Vieh vnd Menschen ihre Ruh.


Der Braut-Tantz ist bereit geschlossen,

Die Fackeln leuchten vor der Braut,

Ein ieder leufft hinzu vnd schawt,

Die Sänger spielen vnverdrossen,

Die Braut steht vmb- vnd angeziehrt

Vnd wird vom Bräutgam heimgeführt.
[68]

Dieß sehen täglich deine Glieder,

O Christe, die von Ewigkeit

Im Glauben Dir sind zugeträwt,

Vnd weinen hertzlich hin vnd wieder,

Dieweil Du Sie, O Gnaden-Schein,

So lange lessest Trost-los seyn.


Wenn wirst Du deine Braut heim-führen?

Sie muß wie eine Witwe gehn,

Von aller Welt verlassen stehn,

Man giebt ihr Fleisch den wilden Thieren,

Der Gottloß' helt Sie ohne Ziel

Zum Affen-werck vnd Faßnacht-Spiel.


Sie ist wie eine Dorttel-Taube,

Die in dem Walde sich versteckt,

Da Einsamkeit vnd Grawen heckt,

Sie gleichet einer welcken Traube,

Bey der kein Safft mehr wird erkennt,

Alß die vom Reben ist getrennt.


Sie ist ein Schifflein, so das brausen

Des tollen Meeres nicht erträgt,

Da eine Flut die andre schlägt,

Vnd vngezähmbt die Winde sausen;

Sie ist erblasst vnd nur nicht todt,

Du aber schläffst in solcher Noht.


Errette Sie doch von den Wellen,

Steh' auff vom Schlaaff, O süsser Hort,

Vnd führ Sie an des Lebens Port,

Treib deine Schaafe zu den Ställen,

Eh' etwas, O getrewer Hirt,

Vom Wilde noch geraubet wird!


Sie ist ja, die du Dir vermählet,

Eh' als der vnbewegte Grund

Der Erden vnd des Himmels stund,

Ward Sie dein Eigenthumb erwehlet,

Auff daß Sie solte neben Dir

Im Himmel wohnen für vnd für.


Sie ist es ja, vmb welcher willen

Du Gottes dich geeussert hast,

Bist arm geworden vnd ein Gast,

Vnd Dich in Windeln lassen hüllen,

Des Todes vnd der Hellen Pein

Hast wollen vnterworffen seyn;


Vnd kanst es vnbewegt ansehen,

Was man für Jammer mit jhr treibt,

Wie jedermann sich an Sie reibt,

Was Vnglücks-Winde Sie anwehen,

Was grosses Wasser Sie vmbringt

Vnd Ihr biß an die Seele dringt!


Du hast dich Ihrer nicht zu schämen;

Ihr vnbeflecktes Ehren-Kleid

Ist Vnschuld vnd Gerechtigkeit,

Die wir im Glauben von Dir nehmen;

Du hast Sie selbst so außgeziehrt,

Daß Sie Dir würde zugeführt.


Drumb komm, Sie endlich zu vmbfangen!

Es ist schon vmb die Mitternacht,

Die Lampe brennt; Sie sitzt vnd wacht

Vnd wil verschmachten vor Verlangen!

Sie wird vor Trawren schwach vnd alt;

Drumb komm, gewünschter Auffenthalt!
[69]

Komm, komm, damit man Dein Verziehen

Nicht halte nur für einen Spott,

Vnd spreche: wo ist nu jhr Gott,

Nach dem sie sich so hefftig mühen?

Dieß ist das ärgste was Sie kränckt,

Dieweil man Dein so spöttlich denckt!


Wer klagt doch so ohn alle massen?

Liebt eine trewe Mutter sehr,

Ich liebe Zion noch viel mehr

Vnd komme bald sie vmb-zu-fassen,

So spricht der Herr. Er kömpt auch schon

Vnd führet seine Braut davon.

Quelle:
Simon Dach: Gedichte, Band 3, Halle a.d.S. 1937, S. 68-70.
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