[Frau Königin beschnitt ihr Haar]

[625] Frau Königin beschnitt ihr Haar

Stets, wenn der Mond zunehmend war.


»Man wirft kein Löckchen aus dem Fenster,

Denn Haare locken die Gespenster,


Und Vögel, welche Nester bauen,

Auch denen soll man niemals trauen,


Denn wenn sie deine Haare finden,

Muß Wahnsinn deinen Geist erblinden.«


Sie sprach: »Dies sagt die Mutter mein,

Doch braucht es ja nicht wahr zu sein.«


»Ja,« sagt ich, »sicher ist es wahr,

Heimlich schnitt jemand mir mein Haar,


Und Vögel taten es dann holen,

So ward mir mein Verstand gestohlen.


Wir leben wie die Kinder hin,

Hab' nichts mehr in den Taschen drin,


Mit ohne Geld backt man kein Brot,

Und tödlich ist die Hungersnot.«


»Ach,« lachte sie, »wie tut das wohl,

Wenn man mal wirklich hungern soll.


Was macht uns das, dann sterben wir,

Und stündlich lieg' ich dann bei dir,


Und gar nicht stehen wir mehr auf,

Dies wär' der rechte Lebenslauf.«


»Ja,« sprach ich, »einmal wird sich's geben,

Bis dahin muß man weiterleben.«


Zieht man den letzten Ring noch aus,

Dann ist's schon etwas leer im Haus,
[626]

Und kann man diesen Ring verborgen,

Dann lebt man noch am nächsten Morgen.


Doch übermorgen ist nicht weit,

Und hat man dann kein Geld bereit,


So klopft der Hunger an den Magen,

Und gar zu gern tät man's ertragen.


Wir fanden noch in einer Weste

An Geld kupferne Überreste


Und kauften etwas Spiritus,

Und kochten uns ein Stärkemus,


Gefärbt mit wenig Schokolade,

Dann schmeckt die Stärke nicht zu fade.


Wir rührten in der Kasseroll

Und wußten nicht, was werden soll.


Und sonderbar, sie hatte recht,

Der Hunger schmeckte nicht so schlecht,


Und vornehm taten wir ihn tragen

Geadelt von dem leeren Magen.


Doch gehen nachts die Sterne auf,

So sieht man meistens mal hinauf.


In der Nacht machen sie mich toll,

Wußt' noch nicht, wie's uns werden soll.


»Ihr Weltstücke dort in der Nacht,

Sagt mir, warum bin ich gemacht?


Ich tue meinen Willen spüren,

Und trotzdem tut man mich regieren.


Hat einer Recht, mich zu bezwingen,

Gebären mich und umzubringen?
[627]

Mein Weib soll mich unfehlbar sehn,

Ich wünsche mich sonst ungeschehn.


Liebe ist Herr, hat alles Recht,

Nur ungeliebt ist man ein Knecht.


Es reizt mich gar nicht, mich zu töten,

Das rettet nicht vor Zukunftsnöte.


Ein Herr bin ich und bin ein Mann,

Der keinen Zwang mehr dulden kann,


Mein ganzes Leben sei vergessen,

Hab' ich nicht morgen was zu essen.


Nacht, undurchdringliche Pupille,

Mein Fedehandschuh sei mein Wille!«


Und sonderbar, in dieser Nacht

Bin zähneklappernd ich erwacht.


Unheimlich war ein Traum gekommen,

Hat meinen Körper mir genommen.


Es war in einem hohen Haus,

Das Ganze sah verlassen aus,


Der letzte Mensch kam an die Tür

Und ließ mich dann allein mit mir.


In mir war selbst nichts mehr zu lesen,

Denn nichts an mir schien je gewesen,


Hatte nur furchtbar viele Zeit,

Fühlte, – dies war die Ewigkeit.


Zwar wußt' ich noch nicht, was ich soll,

Doch Hunger zähmte Zoll um Zoll.


Und als der nächste Abend kam,

Ich anständiger mich benahm.
[628]

Ich bat: »Ihr Sternenungeheuer,

Gold, weiß ich, schwimmt in eurem Feuer.


Nur eine Handvoll mögt ihr geben,

Vorläufig hätt' ich dann zum Leben.


Ihr Brüder, habt ihr mich vergessen?

Ich liebe und hab' nichts zu essen.«


Da endlich mich die Antwort traf,

Ins Ohr sprach jemand mir im Schlaf:


»Mein Junge, du wirst noch nicht sterben,

Dein Vater stirbt, und du wirst erben.«


Der Traum, der hat mich aufgeschreckt,

Frau Königin hab' ich geweckt,


Erzählte ihr, wie alles war,

Doch sie findet nichts sonderbar.


Sprach: »Daß der Himmel Botschaft sendet,

Ist gut, denn wir sind ausgepfändet.


Zwar, daß der Vater stirbt, tut weh,

Doch da ich keine Rettung seh',


Und da es unser Schicksal will,

So erben wir und trauern still.


Doch ist der Traum dir nur gelogen,

Hat um die Ruh' er mich betrogen:


Just bin im Traum ich satt gewesen

Und hatte wundervoll gegessen.«


Am Morgen sprach ich: »Denke kaum

An diesen bösen Erbschaftstraum.


Es ist ein Frevel, so zu denken.

Will nur dem Leben Glauben schenken.
[629]

Sieh, immer fand ich wunderbar

Seidenzeug, das aus Japan war,


Es war mir bunte Augenweide,

Die ganze Welt scheint dort aus Seide.


Und Japan fiel mir heute ein,

Und jetzt soll uns geholfen sein.


Ich zeichne Bilder auf die Seide,

Und du stickst sie zur Augenweide.


Damit werden wir Geld verdienen

Und legen ab die Hungermienen.«


»Ach nein,« sagte Frau Königin,

»Das Sticken, das verdreht den Sinn.


Doch, wenn ich höre meine Stimme,

Ist's, als ob ich im Himmel schwimme.


Die Stimme, sie ist zwar noch klein,

Und deshalb üb' ich sie erst ein.


Dann singe ich auf allen Straßen,

Von Geld sind wir dann nie verlassen.«


»Ja,« sprach ich, »übe dich nur ein,

Und laß das Sticken mir allein.


Sorgen, sie hindern mich am Schnaufen,

Wer gibt uns Geld zum Seidekaufen?


Ja, Seide braucht man, das ist wahr.«

Anbetend sah ich auf ihr Haar.


Sie scherzte: »Wenn ich 's Haar abschneide,

Dann brauchen wir kein Geld zur Seide.«


Da grollte ich dumpf wie ein Bär:

»Von deinem Haar geb' ich nichts her,
[630]

Das wär', als ob ich dich verkaufe.

Ach, daß ich gleich mein Herz ausraufe.«


Doch ließ sie nicht ihr Scherzen sein

Und fädelte ein Haar selbst ein,


Drückt mir die Nadel in die Hand;

Ich hab' mich düster abgewandt.


Ich setzte mich ans Fenster hin,

Und drunten ging Frau Königin


Am frommen Kleefeld auf und nieder

Und dehnte im Gesang ihr Mieder.


Da wurde mir so wohl im Blut,

Fühlte mich wie der Klee so gut,


Fühlte mich Staub und Meeressand,

Stach mir die Nadel in die Hand,


Hing an ihr Haar ein Tröpflein Blut,

Hab' nie so nah bei ihr geruht.


Ihr Stimmlein tat mich selig heben,

Tat über allen Hungern schweben.


Doch weiß ich nicht, wie es dann kam,

Daß ich die Hand zur Nase nahm,


Sie roch wie Zigarettenrauch,

Ganz so roch stets mein Vater auch.


Dreimal wusch ich mir beide Hände,

Und immer war's, als ob ich fände


Des Vaters Atem nahe hier,

Und ganz unheimlich war das mir.


Und ehe noch der Abend kam,

Erhielt ich kurz ein Telegramm.
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Ich konnt' es nicht vor Tränen lesen:

Der ernste Traum ist wahr gewesen.


Doch dieses Trauertelegramm

Erweckt auf meinen Wangen Scham.


Ich nahm es zu dem Kaufmann mit,

Und er gab uns sofort Kredit,


Und alles ward uns reich bemessen,

Haben uns weinend satt gegessen,


Wir konnten uns nicht selbst betrügen,

Wir aßen beinah mit Vergnügen.


Ich fand uns da im Grund nicht besser

Als zwei bewußte Menschenfresser.


Auch stolz machte mich ganz und gar,

Daß ich so auserwählet war,


Daß Gott nachts selbst zu mir gesprochen

Und sein Inkognito gebrochen. –


Wenn man im Grab wen kennen lernt,

Ist's schlimm, verwandt oder entfernt.


Frau Königin tat es so gehn,

Als sie am frischen Grab tat stehn,


Sie sprach: »Ich glaube nicht daran,

Daß man im Grabe sterben kann.


Menschen, die einem vieles schenken,

Kann man sich gar nicht sterben denken.«


»Ja,« sagte ich, »lebte er weiter,

So spräch er jetzt: ›Kinder, seid heiter,


Ein jeder wird es mal allmählich,

Und lebend ist man wirklich selig.
[632]

Steht euch die Welt jetzt auf der Höhe,

Beißen respektvoller die Flöhe;


Die Liebe ist nicht blind erfunden,

Haltet euch an die Liebesstunden.


Erlebt stets die Realität,

Heiß wie der Topf am Feuer steht.


Und jetzt sollt ihr Siesta halten,

Und legt die Stirn in keine Falten,


Fürs Leben es euch zwölf Uhr schlug,

Habt jetzt vom Vormittag genug,


Und dehnt die Liebe auch noch aus,

Geht die Siesta mal hinaus.‹«


Quelle:
Max Dauthendey: Gesammelte Werke in 6 Bänden, Band 4: Lyrik und kleinere Versdichtungen, München 1925, S. 625-633.
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