Der Baum am Erdensaum

[526] Oft mein Geist im Leben klagte,

Wenn kein Licht im Herzen tagte,

Und er nicht zu lachen wagte,

Und er fragte: Wozu dieses stete Streben,

Wozu dieser Tage Traum,

Wozu alles Lebens Schaum?


Gehe zu dem Baum, sagte endlich eine Stimme in dem Baum,

Zu dem Baum, der da steht am Erdensaum,

Und aus dem die Weisheit weht.


Und ich ließ die Heimat, ließ mein Weib, mein Haus,

Und ich zog der Stimme folgend

Über Meere aus.


Hinter mir indes kam die Welt in Brand.

Jeder Weg im Feuerschein aufstand,

Und auf jedem Wege sich die Flamme wand.

Kein Weg ließ mich wieder in mein Land.


Doch am langen Weg nirgends jenen Baum ich fand,

Der am Berge steht und aus dem die Weisheit weht.

Suchte ihn am Erdenrand, suchte ab den ganzen Erdenraum

Nach dem Baum.
[526]

Und ich fluchte dem Geschick, fluchte jeden Tag dem Brand,

Der mir wehrte heimzukehren, der mit roter Flammenhand

Trocken alle Meere kehrte.

Wüsten wurden alle frische Meere.

Und ich stand im Sand und in toter Leere.


Müde legte ich mich nieder auf den nächsten Berg,

Wo kein Atemzug sich regte.

Lange lag ich auf dem Stein

Totenstill und ganz allein.


Sagte mir: will mich niemals mehr von hier erheben,

Will entsagen allem Leben.


Und mein Geist zum Geiste klagte:

Will hier liegen, bis mein inneres Auge sich gelichtet.

Bis sich jener Baum aufrichtet

Und mein Blick die Weisheit sichtet.


Und ein Regen fiel auf meinen Leib,

Und der Sturm erbrauste auf den Wegen,

Und der Feuerwurm der Blitze sauste unter hellem Fegen

Mir in meines Auges halbgeschloßne Ritze.

Sehend ward ich durch des Feuers Hitze.

Weiß nicht mehr, wie lang' ich dort gelegen

Auf der harten Bergesspitze.

Wolken flogen rund im Kreis,

Wolken, die mich durch das Weltall zogen.

Meinem Leibe wurde kalt und heiß.

Sah die Erde unter mir im Bogen kaum,

Und zu Geist ward ich im Raum.


Aber wo mein Herz am Berg gelegen,

Stand mit reifer Krone groß ein Baum,

Größer als die Zeit,

Groß und breit wie die Ewigkeit.

Und er rauschte voller Eifer: Weisheit, Weisheit!

Und mein inneres Auge ewig festlich Leben

Für den Tod eintauschte,

Als ich ernst und hingegeben

Diesem Liede heiliger Weltfestlichkeit im Geiste lauschte.

Quelle:
Max Dauthendey: Gesammelte Werke in 6 Bänden, Band 4: Lyrik und kleinere Versdichtungen, München 1925.
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