Achtzehntes Kapitel.

[244] Ich war nun wieder in einer schlimmen Lage, in einer viel, viel schlimmeren als je zuvor. Denn jetzt war ja die Zeit für mich vorbei, da ich immer noch hoffen gedurft, sobald es mir übel erging, daß meine Schönheit mir wieder einen neuen Geliebten oder Gatten zuführen werde ... meine Schönheit war dahin, und nur noch Spuren zeugten von dem, was ich einstmals gewesen.

Dazu kam eine Stimmung dumpfer Niedergeschlagenheit und stumpfer Entmutigung – wohl im Zusammenhange damit, daß ich fühlte, wußte, sah, wie ich jetzt nichts mehr hatte, worauf sich eine Zukunft bauen ließe. Und diese Stimmung war etwas ganz neues für mich, die ich immer mit Mut obenauf gewesen und ja noch zuletzt meinem Gatten, als ihn der Kummer um das Verlorene überwältigen wollte, Festigkeit und Hoffnung zugesprochen hatte; jetzt war ich meinem eigenen Kummer nicht mehr gewachsen, und es fehlte mir so ganz die Schwungkraft, von der ich ihm immer gesagt, daß sie das nötigste sei, was ein Mensch haben müsse, wenn er aus seinem Unglück herauskommen wolle.[245]

Ich war allerdings auch wirklich übel daran, so freund- und hilflos, wie ich wieder dastand. Allein konnte ich den Verlust, den mein Gatte erlitten, nicht verwinden; und er war so groß gewesen, daß ich, wenn ich auch keine Schulden hatte, nur sagen mußte, der Rest werde nicht für eine allzulange Zeit reichen. Er schmolz denn auch von Tag zu Tag ersichtlich dahin – und wenn ich ihn ausgegeben hatte? was dann? Dann kam die Armut, kamen Hunger und Not! Und so lebhaft dachte ich an mein zukünftiges Leben im Elend, daß ich schließlich glaubte, es sei schon da. Furcht faßte mich und verdoppelte mein Unglück noch, ich ward verzagter und immer verzagter und konnte bei jedem Pence, den ich für ein Stück Brot ausgab, den Gedanken nicht los werden, der sich festgebohrt hatte, es sei der letzte Pence, und nun müsse ich Hungers sterben.

Wenn ich wenigstens einen Freund, einen Bekannten gehabt hätte, der mir mit Trost und Rat beigestanden wäre! So aber saß ich Tag und Nacht allein, starrte vor mich hin oder quälte mich weinend ab, rang die Hände, und oft kam es vor, daß ich wie eine Wahnsinnige austobte und schreiend durch das Zimmer lief.

Daß mein Verstand damals nicht wirklich gelitten, hat mich später selbst gewundert, denn oft wußte ich nicht aus noch ein vor schwarzen Einbildungen; und mein Bewußtsein, das mir sonst in schwierigen Lebenslagen die nötige Ruhe und Besonnenheit gegeben, war wie verschwunden.

In dieser trübseligen Verfaßung verbrachte ich zwei volle Jahre, indessen das wenige, was ich besaß, langsam seinem Ende zuging und mein Dasein ein einziges Abgrämen war über das Aussichtslose meiner Lage: woher wohl, fragte ich mich immer und immer wieder, woher wohl sollte mir auch Hilfe kommen!?

Schließlich konnte ich noch nicht einmal mehr weinen und es war mir, als ginge es nun zu Ende mit mir, so hatte die Verzweiflung mich gepackt.

Als ich endlich tatsächlich keinen Pence mehr[246] hatte, gab ich unsere Wohnung auf und mietete mir irgendwo ein Zimmer. Auch verkaufte ich den größten Teil meiner Möbel und gelangte dadurch zu so viel Geld, daß ich fast ein weiteres Jahr davon leben konnte – zumal ich sehr sparsam war und alles und jedes bis zum äußersten nutzte.

Aber die Frage blieb: Wenn nun das auch ausgegeben war, was dann? Und ich sagte mir, daß Elend und Not am Ende doch unausbleiblich schien!

O mögen alle, die diese Geschichte lesen, es nicht tun, ohne sich so recht und ernsthaft auszumalen, was sie wohl im Leben ohne Geld und Freunde beginnen würden ... Sie werden dann nicht nur das, was sie haben, sparen, sondern auch mit dem weisen Manne beten: »Verschone uns vor Armut, damit wie nicht stehlen!« O mögen alle, die diese Geschichte lesen, es nicht tun, ohne daran erinnert zu werden, daß die Zeit der Not auch die Zeit der schwersten Versuchung ist, in der wir nicht die Kraft haben, dem Bösen in uns zu widerstehen; denn Armut lastet und drückt, und wir verzweifeln an ihr ... Was aber kann aus Verzweiflung werden?

Meine Geschichte wird es zeigen.

Eines Abends, als ich wieder stundenlang trübselig vor mich hingebrütet hatte – ich weiß nicht, welcher Geist es da war, der mich hieß, ich solle aufstehen und mich ankleiden. Ich weiß auch nicht, weshalb ich eines meiner besten Gewänder anlegte, die ich noch von früher her besaß, aber sonst sehr schonte. Ich weiß nur, ich hatte keinerlei bestimmte Absicht als ich dann das Haus verließ, ja, ich wußte sogar noch nicht einmal, wohin ich meine Schritte lenken wollte.

Ich glaube, es war der Teufel, der mich herausgelockt und nun, während ich durch die Straßen Londons wanderte, Schlingen für mich auslegte und mich ganz nach seinem Willen lenkte; denn ich selbst wußte wirklich nicht, wohin ich ging, noch was ich tat.

Wie ich nun so planlos und ziellos umherstrich,[247] kam ich auch in die Scadenhall-street und dort an den Laden eines Apothekers. Ich blieb stehen und sah, wie auf einem Stuhle, ganz vorn, und gerade vor dem Zahltische, ein kleines, in ein Tuch eingeschlagenes Bündel lag. Daneben stand ein Dienstmädchen, jedoch mit dem Rücken dem Stuhle zugewandt, und blickte in die Tiefe des Ladens hinein, wo der Apothekerlehrling, wenn ich mich recht entsinne, auf der Ladentheke stand oder auf einer Leiter und, mit einer Kerze in der Hand, irgendwo oben auf einem Bord etwas suchte. Auch er wandte der Türe und mir den Rücken zu. Beider Gedanken aber waren, wie es schien, ganz beschäftigt mit dem, was der Apothekerlehrling nicht gleich finden konnte. Sonst war niemand in dem Laden.

Das Bündel war der Köder, den der Teufel für mich hingelegt, und die ganze günstige Gelegenheit die Schlinge. Und nun trieb er mich in sie hinein; denn ich erinnere mich und werde es nie vergessen: eine Stimme sprach ganz deutlich über meiner Schulter: »Nimm das Bündel, schnell, schnell, jetzt jetzt«! Und sofort trat ich auch schon in den Laden, und zwar mit dem Rücken dem Dienstmädchen und dem Apothekerlehrling zugewandt, wie wenn ich einem Wagen ausweichen wollte, der eben vorbeikam, griff sachte mir der Hand nach hinten, in der Richtung des Bündels, faßte es und war auch schon wieder aus dem Laden, ehe jemand etwas von dem Diebstahl merkte.

Ich könnte nicht den Schauder beschreiben, den ich empfand, während ich dies alles tat. Und nun, da es getan war, hatte ich nicht den Mut und die Kraft, zu laufen, und beschleunigte kaum meine Schritte. Ich schwankte über die Straße und bog an der nächsten Ecke in eine andere ein und kam dann noch in so viele Straßen, Gassen und Gäßchen, daß ich mir nie habe sagen können, wo ich eigentlich an jenem Abend überall gewesen bin. Ich ging schließlich schneller, und je mehr ich mich aus der Gegend entfernte, in der die Apotheke lag, um so schneller. Ich lief beinahe, und es bebte und brannte[248] mir der Boden unter den Füßen, bis ich dann endlich, zu Tode ermüdet, abgehetzt und atemlos, auf einer kleinen Bank vor irgend einer Türe niedersank und, wie ich um mich schaute, bemerkte, daß ich in die Thames-street gekommen war. Ich ruhte mich ein wenig aus und ging dann wieder weiter. Mein Blut kochte noch immer und mein Herz schlug, so voll Aufregung vor mir selbst war ich, und dem, was ich getan.

Schließlich faßte ich mich aber doch, riß mich gewaltsam zusammen, suchte mir den Heimweg und kam gegen zehn Uhr in meiner Wohnung wieder an.

Ich wußte noch nicht, was das Bündel enthielt und öffnete es nun gleich. Ich fand eine vollständige Kindbettwäscheausstattung, und zwar eine ganz neue und sehr gute, mit feiner Spitze; ferner einen silbernen Suppennapf, einen kleinen silbernen Becher, ein halbes Dutzend silberner Löffel, ein sehr schönes Frauenhemd, drei seidene Tücher; und in dem Becher, in ein Stückchen Papier eingewickelt, acht Schilling und sechs Pencestücke.

Während ich all diese Sachen vor mir ausbreitete, faßte mich wieder eine schreckliche Angst, trotzdem ich mir ja sagen mußte, daß ich vollständig sicher war und niemand auf meine Spur kommen konnte.

Ich sank auf meinem Stuhl zusammen und schrie einmal laut auf.

»Mein Gott, mein Gott«, flüsterte ich dann vor mich hin, »was bin ich jetzt? Eine Diebin bin ich ja! Und nun wird man mich auch noch ergreifen und nach Newgate schleppen und den Stab über mich brechen. Mein Gott, mein Gott!«

Und so arm wie ich war, ich hätte die Sachen gewiß wieder zurückgegeben, hätte ich es wagen dürfen, das können Sie mir glauben.

In der Nacht dieses Tages schlief ich fast gar nicht, sondern blieb ruhelos wach liegen, denn das Entsetzen über meinen Diebstahl wollte nicht von mir weichen. Und auch am folgenden Tage wußte ich nicht recht, was ich redete und tat. Ich hörte[249] mit Ungeduld herum, ob ich nicht etwas von dem Diebstahl erfuhr, und hätte gar zu gern gewußt, ob die Sachen etwa einem armen Schlucker gehörten, oder einem Reichen.

»Vielleicht«, jagte ich zu mir selbst, »sind sie das Eigentum einer Witwe, die ebenso schlimm daran ist, wie du, und die die Sachen zusammengepackt hat, um sie zu versetzen oder zu verkaufen, damit ihre Kinder Brot bekommen. Nun hungern sie alle zusammen und bejammern den Verlust des Letzten, was sie noch hatten.«

Solche Gedanken quälten mich sehr, und es dauerte Tage, ehe ich sie los ward. Aber dann brachte meine eigene Not mich schließlich wieder auf andere; und die Furcht vor dem Hungertode die täglich wuchs, machte mein Herz härter und härter.

Dabei lag es mir aber doch schwer auf der Seele, daß mich die fürchterliche Notwendigkeit noch des öfteren und weiterhin treiben werde, die Gefahr zu versuchen, ein Ende als Verbrecherin zu nehmen nachdem ich bereits so schön alle meine vergangenen Vergehen bereut hatte und die letzten Jahre einfach und ehrbar gelebt. Und oft sank ich auf meine Kniee und bat Gott um Hilfe in meiner Herzensangst; doch waren meine Gebete, wie ich gestehen muß, von mir selbst aus hoffnungslos und deshalb auch wirkungslos: um mich her war alles Furche und in mir war Dunkelheit, und ich war im Grunde meines Herzens selbst überzeugt, ich hätte mein vergangenes Leben doch niemals aufrichtig genug zu bereuen vermocht, und nun wolle mich Gott dafür strafen und genau so elend machen, wie ich einst schlecht gewesen.

Freilich, hätte ich in dieser Stimmung verharrt, ich glaube, ich wäre doch noch eine aufrichtige Büßerin geworden.

Statt dessen gewann der Teufel bald wieder neue Macht über mich und trieb mich an, dem drohenden Elend zu begegnen – und wäre es auch mir den schlechtesten Mitteln.[250]

Eines Abends hörte ich seine Stimme wieder ... es war dieselbe böse Geisterstimme, die mir damals zugeraunt, ich solle das Bündel nehmen; und wieder redete sie so unerbittlich heftig auf mich ein, daß ich tun mußte, was sie befahl.

»Geh aus!« sprach sie auf mich ein, »geh aus und sieh, ob sich keine Gelegenheit bietet!«

So ging ich denn aus.

Draußen war es noch ziemlich hell. Ich wanderte ziellos, ohne eigentlich zu wissen, wohin mich meine Schritte führten. Schließlich bog ich in die Aldersgate-street ein, und da begegnete mir ein kleines hübsches Mädchen, das wohl aus der Tanzschule kam und nun allein seines Weges nach Hause ging. Kaum hatte ich das unschuldige Geschöpf erblickt, da hetzte mein Versucher auch schon auf mich ein. Ich sprach das kleine Mädchen an, und es plauderte eine Weile mit mir, dann nahm ich es bei der Hand und führte es in ein abgelegenes Gäßchen. Das Kind meinte zwar, das sei nicht sein Weg nach Hause, ich aber meinte dagegen: »Doch, mein Kind, folg du nur hübsch, ich führ dich schon recht und nach Hause. Das Kind hatte nämlich ein Halsband von lauter Goldkügelchen um, und auf das hatte ich mein Auge geworfen. In dem Gäßchen, in das ich das Kind geführt, war es schon recht dunkel; ich bückte mich und tat, als ob ich an dem Schuh des Kindes, an dem sich auch wirklich ein Schnürband gelöst, etwas in Ordnung bringen wollte; dabei machte ich dann hinter dem Rücken der Kleinen mir einer schnellen Handbewegung das Halsband los und steckte es zu mir, ohne daß das Kind den Raub bemerkt hätte. Als ich das Halsband glücklich in meiner Tasche fühlte, führte ich das kleine Mädchen weiter und da, einen Augenblick lang, schoß mir der Teufel den höllischen Gedanken durch den Kopf, ob ich das Kind nicht hier, in irgend einer Ecke, einfach rasch umbringen solle! Ich sage – umbringen! Doch war ich schon gleich darauf selbst so entsetzt vor dem bloßen Gedanken, daß mir schlecht und schwach wurde. Ich führte das Kleine deshalb, so[251] schnell es nur gehen wollte, aus dem Gäßchen heraus und hieß es dann, sich flugs auf seinen Weg nach Hause machen; was es auch tat, während ich in das Gäßchen zurückging, mich dann zu einem anderen wandte, das nach Long-lane führte, von dort bog ich nach Charterhouse-jard und von dort zurück nach der St. Jones's. Darauf ging ich hinüber nach Smithfield, weiterhin hinunter nach Field-lane und endlich zur Holborn-bridge. Bei der letzteren mischte ich mich unter die Volksmenge, die dort wie alle Tage unablässig durcheinander und aneinander vorbei flutete und aus der man mich unmöglich herausgefunden hätte, selbst wenn man mir gefolgt wäre.«

Das war also meine zweite Tat in meinem Leben als Diebin gewesen! Und zwar zeigte es sich alsbald, daß die Gedanken an den Raub, den ich an dem kleinen Mädchen begangen, die Gewissensbisse, die ich von dem Diebstahl des Bündels her wohl noch manchmal gehabt, vollständig ertöteten. Die Armut hatte eben mein Herz verhärtet, und mein Elend ließ keinerlei Bedenken mehr aufkommen. Über meine zweite Tat selbst hatte ich schon überhaupt keine Gewissensbisse mehr ... im Gegenteil: ich hatte ja dem kleinen Mädchen kein Leid weiter zugefügt, seinen Eltern aber war nur eine gerechte Strafe geworden; denn, so sagte ich zu mir, warum ließen sie das arme Wurm allein durch London gehen? jetzt hatten sie durch mich ihre Lehre weg, und in Zukunft würden sie wohl vorsichtiger sein!

Die Schnur Goldkügelchen war ungefähr zwölf bis vierzehn Pfund wert. Ich denke, daß sie wohl früher der Mutter der Kleinen gehört hatte, denn sie war viel zu dich für eine Kinderkette; jedenfalls hatte eine tadelnswerte Eitelkeit die Mutter bewogen, der Kleinen das Schmückstück umzuhängen, damit es in der Tanzstunde nur recht gut aussähe! Übrigens war es ja auch möglich, daß die Mutter eine Magd gesandt hatte, um das Kind abzuholen, und daß diese Magd – wie derlei pflichtvergessene Weibsstücke nun einmal sind – sich bei irgend einem Kerl von Liebhaber aufgehalten; so daß dann die arme[252] Kleine allein gehen und mir in die Hände fallen mußte.

Aber ich hatte dem armen Ding kein Leid getan, ich hatte es noch nicht einmal erschreckt; ja, ich war ihm eigentlich in meinem Herzen recht gut gewesen, es hatte mir gefallen, und so tat ich denn im Grunde nichts anderes als das, wozu mich, wie ich wohl sagen darf, die Not trieb.

Nach diesem zweiten Abenteuer hatte ich noch viele, viele andere. Doch war ich zunächst noch zu unerfahren in meinem neuen Beruf, um genau zu wissen, was ich zu tun hatte; mein Versucher mußte mich zunächst immer erst anspornen und anleiten, was er auch redlich tat, und immer, wo es nur eine Gelegenheit gab, war er gleich zur Hand.

Ein Abenteuer verlief besonders glücklich für mich.

Ich ging in der Abenddämmerung durch die Lombard-street und befand mich gerade am Ende dieser Straße, als ganz plötzlich, schnell wie der Blitz, ein Bursche an mir vorbei lief und ein Bündel, das er in der Hand trug, gerade hinter mich warf. Ich stand dicht an dem Eckhause vor dem Eingang in ein Gäßchen. Und als er es hinter mich warf, so, daß es so leicht niemand sehen konnte, rief der Bursch mir zu: »Hören Sie, Fräulein, lassen Sie es da ein bißchen liegen.« Und weg war er. Nach ihm kamen noch zwei andere Burschen gelaufen und gleich hinter diesen ein junger Mann ohne Hut, welcher in einem fort schrie: »Haltet den Dieb!« Er verfolgte die Burschen so lebhaft, daß auch sie ihre Beute von sich werfen mußten. Einer von den dreien wurde gepackt, die anderen aber entkamen.

Ich war die ganze Zeit über still auf meinem Posten stehen geblieben, bis die Verfolger zurück kamen. Sie schleppten den armen Burschen, den sie gefangen hatten, mit sich, zerrten die Sachen, die sie wiedererbeutet, auseinander und waren außerordentlich zufrieden, daß sie den Dieb erwischt. Sie gingen ruhig an mir vorbei, denn ich sah aus wie[253] jemand, der abwarten wollte, bis die Menge sich verlaufen hätte. Zwei- oder dreimal fragte ich, was geschehen sei, doch gaben mir die Vorüberhastenden keine Antwort, und ich drängte auch nicht allzusehr. Als die Menge sich dann verstreut, wandte ich mich um, nahm den Packen auf, der immer noch hinter mir lag, von meinen Kleidern verdeckt, und ging harmlos weg; mit viel weniger Unruhe natürlich, als ich sie früher bei einem Abenteuer empfunden. Denn diese Dinge, sagte ich mir, die stahl ich ja nicht, sie waren mir vielmehr sozusagen in meine Hand gestohlen worden. Ich gelangte mit der Beute denn auch sicher und unangefochten in meine Wohnung, woselbst sie sich als einen Ballen seiner schwarzer Seide und einen Ballen Sammet herausstellte. Das heißt, dieser letztere war nur der Teil eines Stückes von ungefähr elf Ellen. Der erste Ballen war dagegen ein ganzes Stück von fast fünfzig Ellen. Die Ware schien einem Kaufmann gebrandschatzt zu sein; ich sage gebrandschatzt, denn alles zusammen, was die Diebe weggeworfen hatten, war viel zu beträchtlich, als daß man das Wort »stehlen« noch gebrauchen könnte. Wie es ihnen überhaupt möglich gewesen, sich so umfangreiche Gegenstände anzueignen, kann ich mir denn auch kaum vorstellen. Auf jeden Fall nahm ich, da ich nur einen Räuber beraubt, diese Gegenstände, wie gesagt, ohne Skrupel an mich und freute mich noch sehr über dieselben.

Ich hatte auch in der Folge noch mancherlei Glück und erlebte noch mehrere Abenteuer, die mir zwar nicht so viel einbrachten, aber doch immer gut ausliefen. Dennoch lebte ich täglich in der Furcht, irgend ein Unheil werde sich ereignen, und man werde mich demnächst hängen. Diese Befürchtung hielt mich davon ab, mich in allzu gefährliche Unternehmungen einzulassen.

Ein Unternehmen will ich rasch noch erzählen, das mich manchen Tag gefreut hat.

Ich begab mich häufig auf die in der Nähe der Stadt liegenden Dörfer, um zu sehen, ob mir dort nichts in die Hände falle. Als ich nun einmal an[254] einem Hause in der Nähe von Stenney vorüberkam, sah ich auf dem Fensterbrett zwei Ringe liegen, einen kleinen Diamantring und einen einfachen goldenen Reif, den gewiß irgend eine gedankenlose Dame, die mehr Geld als Überlegung hatte, dort hingelegt – vielleicht den Augenblick vorher, um sich die Hände zu waschen. Ich ging nun ein paar Mal an dem Fenster vorbei, um zu erspähen, ob sich irgend jemand in dem Zimmer befände. Ich konnte jedoch niemanden erblicken. Da ich mich aber doch nicht sicher genug fühlte, sann ich nach, bis ich endlich auf einen ganz prächtigen Gedanken kam. Ich klopfte nämlich einfach an die Scheibe, wie wenn ich mit jemanden sprechen wollte. War jemand in dem Zimmer oder auch nur nebenan, so kam er gewiß, um zu sehen, was es gäbe: ich würde dem Betreffenden dann einfach gesagt haben, er möge auf die Ringe dort Acht geben, ich hätte zwei junge Burschen überrascht, wie sie sich dielben mit verdächtigen Augen ansahen. Ich klopfte also gegen die Scheibe, klopfte noch Mal und wieder, und als sich dann immer noch kein Mensch zeigte, drückte ich das Fenster leise auf, nahm die beiden Ringe an mich und ging ruhig von dannen. Der Diamantring war drei Pfund wert, der andere, der Goldreif, neun Schilling.

Quelle:
Daniel De Foe: Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders. Berlin [1903]., S. 244-255.
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