Sechszehnter Abschnitt.

[251] Das spanische Schiff.


Ich war nun im dreiundzwanzigsten Jahr meines Aufenthalts auf dieser Insel, und des Orts und der Lebensart so gewohnt, daß ich es allenfalls zufrieden gewesen wäre, meine übrige Lebenszeit hier zuzubringen, und in dieser Einöde zu sterben, wenn ich nur vor der Gefahr, durch die Wilden beunruhigt zu werden, hätte gesichert seyn können. Es waren bereits wieder mehrere Jahre verflossen, ohne daß ich das Geringste von den Wilden bemerkt hatte; dies gab mir einen Theil meines vorigen Selbstvertrauens und meiner Zufriedenheit wieder, und mein Hauswesen nahm auch nach und nach wieder seine vorige Gestalt an; ich hatte mir sogar einige Vergnügen und Zeitvertreibe verschafft, die meinen Zustand viel angenehmer machten, als er vorher war. Zwar war mein guter, treuer Hund schon vor mehrern Jahren vor Alter gestorben, nachdem er nicht weniger als sechszehn Jahre mein unzertrennlicher Gefährte gewesen war. Ich erzog von Zeit zu Zeit ein Paar junge zahme Katzen, welche sich immer sehr zuthätig und schmeichelnd zu mir hielten; die übrigen ersäufte ich. Ausserdem hielt ich, wie schon gesagt, einige zahme Ziegen, nebst einem Böckchen, die ganz an mich gewöhnt waren und mich überall begleiteten. Vorzüglich aber hatte mein Poll nicht nur so vielerlei schwatzen[252] gelernt, sprach Alles so deutlich und richtig aus, und war so zutraulich, daß ich meine größte Lust an ihm hatte, sondern ich hatte noch mehrere Papagayen, die allerlei plauderten und Robin Crusoe ruften, obwohl keiner so gut wie Poll, mit dem ich mir mehr Mühe gegeben hatte, als mit den übrigen. Da man in Brasilien glaubt, daß diese Vögel über hundert Jahre leben, so mögen vielleicht noch jetzt die Papagayen, die ich auf der Insel gelassen habe, ihr Robin Crusoe rufen, das einen Engländer, der das Unglück hätte, dahin verschlagen zu werden, nicht wenig in Erstaunen oder gar in Schrecken setzen würde. Auch hatte ich verschiedene Land- und Seevögel, die ich von Zeit zu Zeit fieng, ohne daß ich ihre Namen zu nennen wußte, zahm gemacht, ihnen die Flügel gestutzt, und sie in dem Gebüsche vor meiner Burg herumfliegen lassen, so daß es ganz belebt war, indem sie darin nisteten und sich vermehrten.

Auch mein Vertrauen auf die Vorsehung hatte sich wieder eingefunden, und ich richtete mich täglich durch Gebet und Lesung der heiligen Schrift wieder auf. Die Gedanken über die unerforschlichen Wege Gottes, über seine Güte, Gerechtigkeit, Weisheit und Allmacht, und über meine Pflicht, mich ohne Widerrede seinem Willen zu unterwerfen, auf ihn zu hoffen, und zu ihm zu beten, beschäftigten mich manche Stunden und Tage, ja wohl ganze Wochen und Monate. Eine besondere Wirkung derselben zu meiner Beruhigung kann ich nicht übergehen.

Als ich eines Morgens früh wachend noch zu Bette[253] lag, und mich mit beunruhigenden Gedanken über die Gefahr vor den Wilden beschäftigte, kamen mir jene trostvollen Worte in den Sinn: »Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.« Hierauf verließ ich mein Bette, und fühlte mich gestärkt und in mir den Antrieb, Gott ernstlich um Errettung anzuflehen. Nach verrichtetem Gebet öffnete ich die Bibel, und die ersten Worte, die mir in die Augen fielen, waren folgende: »Harre des Herrn! sey getrost und unverzagt und harre des Herrn!« Es läßt sich durch keine Worte ausdrücken, wie sehr mich diese Bibelstelle tröstete; ich legte gerührt und mit innigem Danke das Buch nieder, und war nicht mehr traurig.

Auf diese Art war ich seit einiger Zeit – meine größere Behutsamkeit ausgenommen – wieder zu meiner vorigen stillen und ruhigen Lebensart gekommen, da mir in derselben wirklich nur sehr wenige Dinge fehlten; deßwegen erweiterten sich auch wieder meine Wünsche. Ich gerieth auf den Einfall, ob ich mir nicht aus meiner Gerste Malz verschaffen, und mir dann Bier brauen könnte, das nicht nur für mich ein neuer, längst ersehnter Genuß, sondern auch für mein Brodbacken vom besten Erfolg gewesen wäre, weil ich dadurch Sauerteig und, statt bloßer Kuchen, wirkliches Brod erhalten hätte. Freilich war das ein gewagter Einfall, und ich machte mir selbst Vorwürfe darüber, da es mir beinahe an Allem fehlte, was zum Brauen unentbehrlich war. Ich hatte keinen Hopfen, nichts, um es zur Gährung zu bringen, keinen tauglichen Kessel[254] und keine Tonne, ob ich gleich zu wiederholten Malen ganze Wochen und Monate damit verloren hatte, sie zu Stande zu bringen. Indessen, da ich selten etwas unternahm, und nicht davon abließ, bis es mir gelang, so zweifle ich nicht, daß ich endlich damit zu Stande gekommen wäre, wenn nicht die Furcht vor den Wilden meine Erfindungskraft und Beharrlichkeit geschwächt und auf andere Gegenstände geleitet hätte; damals lag mir die Sorge für meine Sicherheit näher am Herzen, als die für meinen Gaumen oder für meine Bequemlichkeit.

Da verfloß meine Zeit in Einsamkeit und tiefem Schweigen – wenn ich meine Gespräche mit Poll ausnehme – als auf's Neue meine Ruhe gestört und meine Rachbegierde geweckt wurde. Es war im Monat Dezember, und die Zeit der Erndte, wo ich genöthigt war, öfter als sonst hin und her zu gehen. Als ich nun einst in der Morgendämmerung auf das Feld gieng, sah ich zu meiner großen Bestürzung den Wiederschein eines Feuers, das, nicht etwa da, wo sonst die Wilden landeten, sondern auf meiner Seite am Strande, höchstens zwei Meilen von mir entfernt seyn konnte. Ich war in der That außerordentlich erschrocken, und zog mich hurtig in mein Wäldchen zurück. In den ersten Augenblicken war ich so betäubt, daß ich nicht wußte, was ich anfangen sollte, und in der größten Besorgniß, die Wilden möchten die Insel durchstreifen, mein stehendes oder geschnittenes Getreide gewahr werden, daraus schließen, daß Menschen hier wohnten, und ihre Nachforschungen nicht aufgeben, bis sie mich[255] gefunden hätten; in dieser Angst eilte ich in meine Burg, zog die Leiter mir nach, setzte Alles in streitfertigen Stand, indem ich meine Artillerie und Kleingewehr, nämlich meine Musketen, die Flinten und die Pistolen mit mehreren Kugeln und Eisenstücken lud, und war entschlossen, mich bis auf den letzten Hauch zu vertheidigen, wobei ich nicht vergaß, Gott um seinen Beistand und um Rettung aus dieser Gefahr anzurufen. In dieser Verfassung blieb ich ungefähr zwei Stunden; aber nun fieng ich an ungeduldig zu werden, und konnte es nach einer Weile nicht mehr aushalten, länger in der ängstlichen Ungewißheit zu bleiben; ich gieng also auf meine Warte, und ward vermittelst meines Fernglases wenigstens neun Wilde gewahr, die um ein hell loderndes Feuer herum saßen, um, wie ich vermuthete – deutlich konnte ich's nicht sehen – eine ihrer Blutmahlzeiten zu halten, denn die Hitze war so groß, daß das Feuer nicht zum Wärmen angemacht seyn konnte, dem ungeachtet fiengen sie einen Tanz an, wobei ich ihre Stellungen und Gebehrden deutlich bemerken konnte. Sie waren ohne die geringste Bedeckung, es war mir aber unmöglich, zu unterscheiden, ob auch Weiber dabei waren. Sie hatten zwei Kanots bei sich, die sie auf den Strand gezogen hatten, und da es eben die Zeit der Ebbe war, so schien es, daß sie die Zeit der Fluth abwarten wollten, um die Insel wieder zu verlassen. Ich hatte richtig geurtheilt; denn kaum strömte die Fluth nach West, so sah ich sie alle ihre Boote besteigen und fortrudern. Die Bemerkung, daß die Wilden nicht anders als mit der Ebbe ankommen könnten,[256] war für mich sehr beruhigend, da ich nun überzeugt war, daß ich die ganze Dauer der Fluthzeit über, – wenn sie nicht bereits am Lande waren – in aller Sicherheit auf meiner Insel herum gehen und meine Geschäfte verrichten konnte.

Sobald sie eingeschifft waren, nahm ich meine Flinte, Pistolen und Säbel, gieng dann in völliger Rüstung nach der Stelle, wo diese Kannibalen ihr Siegesmahl gehalten hatten, und sah da die gräßlichen Spuren ihrer Grausamkeit; Blut, Knochen und andere Theile von menschlichen Körpern. Hierauf begab ich mich auf den Hügel, wo ich das erste Mal ähnliche Ueberreste gefunden hatte, und erblickte in weiter Ferne drei Kanots, welche dem festen Lande zuruderten; als ich an das Gestade hinab kam, sah ich, daß auch hier gleiche Unmenschlichkeiten statt gefunden hatten. Dies erfüllte mich auf's Neue mit Rachgedanken und mit dem Vorsatz, die Ersten, die ich zu Gesichte bekäme, über den Haufen zu schießen, wenn ihrer auch noch so viele wären. Ich brachte nun meine Zeit wieder bald in großer Besorgniß zu, diesen Menschenfressern in die Hände zu fallen, bald wieder im Eifer, sie anzugreifen und aufzureiben; bald bediente ich mich der größten Vorsicht und Behutsamkeit, die man sich nur denken kann, bald aber gieng ich beherzt umher, ohne zu befürchten, daß sie unversehens kommen und mich überfallen könnten, daß, wenn ich auch einen Trupp von zehn, zwölf getödtet hätte, in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten immer wieder andere kommen würden, und daß, wenn ich auch immer siegte, ich endlich kein geringerer[257] Mörder als diese Unmenschen seyn würde, welche wohl einst mit hundert und mehr Kanots wieder kommen und sich an mir rächen würden.

Indeß gieng ein ganzes Jahr und drei Monate vorüber, ehe ich das Geringste wieder von ihnen sah oder hörte. In der Regenzeit dürfen sie sich ohnehin nicht auf's Meer, wenigstens nicht so weit wagen. Ob sie in dieser Zwischenzeit da gewesen, ist mir unbekannt, denn ich fand keine neuern Spuren. Die Unruhe meines Gemüths während diesen fünfzehn Monaten war sehr groß; ich ward oft durch Träume von den Wilden, vom Todtschlagen, Verfolgen und Verfolgtwerden aus dem Schlafe aufgeschreckt, und bei Tage quälten mich bald Rachelust, bald mancherlei Beängstigungen.

Es war, wo ich nicht irre – denn ich setzte täglich meinen hölzernen Kalender fort – am 16. März, daß ein heftiger Sturm, welcher mit Donner, Blitz und Regenströmen begleitet war, den ganzen Tag und den größten Theil der Nacht hindurch tobte. An demselben Abend saß ich, in ernstliche Gedanken über meine Lage vertieft, und hatte eben die Bibel zur Hand genommen, um darin zu lesen und mich dadurch aufzurichten, als ich plötzlich durch einen dumpfen Knall, der einem entfernten Kanonenschusse ähnlich schien, in das größte Erstaunen gesetzt ward. Diese Bestürzung war von ganz anderer Art, und erregte, wie man leicht denken kann, ganz verschiedene Gefühle in meinem Gemüthe. Ich kletterte in größter Eile auf mein Observatorium; ehe ich es noch erreichte, hörte ich einen zweiten Schuß, und als ich oben stand, verkündigte[258] mir ein Aufflammen den dritten, dessen Knall auch in weniger als einer halben Minute mein Gehör traf; er kam von Ost, aus der Gegend, wohin mich einst die Ströme getrieben hatten. Dies konnte nichts anders als ein Schiff in der Noth seyn, welches einem andern, das mit ihm segelte, durch Nothschüsse seine Gefahr anzeigen wollte. Ich hatte Gegenwart des Geistes genug, zu denken, daß wenn ich ihm nicht helfen könnte, so möchte es doch vielleicht mir helfen können, brachte deßwegen so geschwind als möglich einen beträchtlichen Haufen Holz oben auf der Warte zusammen, und steckte ihn an, obgleich der Wind sehr stark wehte; er brannte auch bald hellauf, so daß er von der See aus sogleich entdeckt wurde, denn das Fahrzeug that mehrere Kanonenschüsse nach einander. Ich blieb die ganze Nacht hindurch auf der Warte, um mein Feuer zu unterhalten; die Kanonenschüsse aber hörten nach einer Stunde gänzlich auf; ich vermuthete also, die Schiffsmannschaft werde sich in die Boote begeben haben und nach der Insel rudern, wo die Flamme ihr zum Leuchtfeuer dienen mußte. Meine Hoffnung war desto mehr gegründet, da gegen Anbruch des Tages der Wind nachließ und schönes Wetter eintrat. Als es nun heller Tag geworden war, sah ich etwas auf der See, das ich für ein Schiff hielt, aber wegen der allzugroßen Entfernung, selbst mit den Ferngläsern, nicht unterscheiden konnte, denn die Luft war auf der See noch trübe. Da ich nicht wußte, von welcher Nation diese Seefahrer waren, so wechselten Furcht und Hoffnung bei mir ab, und machten, daß ich mich nicht unbehutsam bloßgeben[259] durfte, ich spähte also nur theils von meinem Observatorium, theils an dem Rande meines Wäldchens, welche Landsleute die Ankömmlinge seyn möchten, entdeckte aber keine Spur ihres Daseyns; hingegen ward ich gewahr, daß das Schiff unbeweglich an derselben Stelle liegen blieb, machte also den Schluß, es müßte vor Anker liegen oder gestrandet seyn. Um meiner Sache gewiß zu werden, nahm ich meine Flinte und Pistolen und gieng nach dem felsigten Hügel, wo ich die Ströme beobachtet hatte, und da das Wetter jetzt völlig klar und heiter war, so konnte ich ganz deutlich den Wrak eines Schiffes sehen, das in der vorigen Nacht an jener entfernten Klippe gescheitert war, wo einst auch unser Fahrzeug das gleiche Schicksal hatte, und welche, bei jener verunglückten Umseglung meiner Insel die Gewalt der Strömung brachen und einen Gegenstrom verursachten, durch dessen Begünstigung ich der verzweifeltsten, hoffnungslosesten Lage, dem augenscheinlichen Verderben, glücklich entgieng. So ist, was dem Einen Rettung bringt, oft des Andern Verderben.

Dieser Anblick machte nicht nur einen schmerzhaften Eindruck auf mich, sondern erregte auch mancherlei Vermuthungen, denn der Umstand, daß ich nicht das geringste von dem Schiffsvolke bemerkte, war mir beinahe unerklärbar. Die trübe und dunkle Nacht war freilich Ursache, daß sie die Insel nicht sahen, denn sonst müßten sie sich bemühet haben, mit ihrem Boote sich an das Land zu retten, aber ihre Nothschüsse, die weit schneller auf einander folgten, nachdem mein Feuer hell brannte, bewiesen, daß sie es bemerkt hatten,[260] und da es sehr hoch über die Meeresfläche erhöhet war, so mußten sie Land in der Nähe vermuthen; sie mochten sich wahrscheinlich in ihr Boot geworfen haben, da aber die See hoch gieng, und Ebbezeit war, von dem Strom, in dem ich ehemals gewesen, in die weite See fortgerissen worden seyn, wo Elend und Verderben ihrer harrten, und wo sie vielleicht einander vor Hunger auffressen müßten. Dann dachte ich wieder, daß sie vielleicht ihr Boot verloren hatten, wie das durch vielerlei Zufälle geschehen kann, besonders wenn die ungestümen Wogen das Schiff zu heftig umherwerfen, daß die Boote zertrümmern oder über Bord fallen, oder daß man genöthigt wird, dies selber zu thun. Dann hoffte ich wieder, die andern Fahrzeuge, mit denen das Schiff in Gesellschaft war, wären der Schiffsmannschaft auf ihre Nothschüsse zu Hülfe gekommen, und hätten sie zu sich an Bord genommen. Das alles waren aber bloße Muthmaßungen, und diese armen Leute waren in jedem Fall zu bedauern. In meiner Lage hatte dies die gute Wirkung, daß ich darin eine neue Ursache fand, Gott zu danken, der auch in meinem verlassenen Zustande so väterlich für meine Rettung und für mein Glück gesorgt, da bereits zwei Schiffe an den Klippen dieser Insel Schiffbruch gelitten, und ausser mir kein Mensch davon gekommen war, denn daß dies das Schicksal dieser bedauernswürdigen Leute war, schien doch das Wahrscheinlichste.

Keine Worte sind ausdrucksvoll genug, meine Sehnsucht in ihrer ganzen Stärke darzustellen: daß auch nur ein Einziger sich zu mir gerettet haben möchte,[261] damit ich doch mit Jemanden sprechen und umgehen könnte; meine Begierde war so heftig, daß ich sie unwillkührlich ganz laut äusserte, und die Worte: – nur ein Einziger! – wohl tausend Mal wiederholte. Die ganze Zeit meines einsamen Lebens war mein Verlangen nach Umgang mit Menschen nie so unwiderstehlich, der Schmerz über dessen Entbehrung nie so überwältigend gewesen, als in diesem Augenblicke. Es giebt geheime Triebe, die durch nahe, oder durch die Einbildungskraft vergegenwärtigte Gegenstände aufgeregt, so heftig werden, daß ihre Entbehrung unerträglich wird. Die Naturforscher mögen dies erklären; ich begnüge mich damit, die Thatsache so darzustellen, wie ich sie erfahren habe. Meine Sehnsucht ward so rege, daß ich bei jedem Ausrufe meine Hände so zusammenschlug, meine Finger so fest in einander preßte, und meine Zähne knirschend so fest schloß, daß ich sie lange nicht von einander zu bringen vermochte.

Plötzlich fiel mir der Gedanke ein, mit dem Boot an den Wrak zu fahren, in der Hoffnung, noch lebende Menschen anzutreffen, denen ich nicht nur das Leben retten, sondern auch dadurch mein eigenes angenehmer machen und mein ungestümes Verlangen befriedigen könnte. Die Gewalt dieses Eindrucks auf mein Gemüth war so stark, daß ich ihr nicht zu widerstehen vermochte, und ihn für einen Wink hielt, dem ich folgen müßte. Ich eilte daher nach meiner Burg, um Alles zu meiner vorhabenden Fahrt zu veranstalten. Ich nahm einen bedeutenden Vorrath von Brod, einen Korb voll Rosinen, eine Flasche Rum und einen großen Krug [262] frischen Wassers, und vergaß diesmal meinen Kompaß nicht. Mit diesen Bedürfnissen beladen, gieng ich zu meinem Boote, schöpfte das Wasser heraus, machte es flott, und ordnete meine Fracht in die Behältnisse, kehrte dann nach Hause, um mehr zu holen, brachte eine zweite Ladung, welche aus einem großen Sack voll Reis, noch ein paar Dutzend Broden oder Kuchen, einem Käse, noch einem Krug voll frischen Wassers und einer Flasche Ziegenmilch bestand. Das alles brachte ich mit Schweiß und Mühe in mein Boot, betete zu Gott mich zu begleiten und stieß vom Strande. Nachdem ich mit der Ebbe längs dem Ufer des Bachs und der Bucht fortgetrieben war, kam ich an die Spitze der Sandbank, und nun kam's darauf an, auf die offenbare See hinauszufahren. Das Unternehmen war sehr gewagt, denn ich bemerkte den Strom, der in seiner ganzen Heftigkeit, doch etwas entfernter, vorbei rauschte; jetzt hätte ich zwar die Spitze leicht umfahren können, obgleich bei dem wehenden Südwind der südliche Strom sich derselben weit mehr näherte als das vorige Mal, aber meine Fahrt sollte, quer über den nördlichen Strom, nach der im Nordost liegenden Klippe gehen.

Dies alles schlug meinen Muth so sehr nieder, daß ich schon mein Unternehmen aufgeben wollte, ausstieg, mein Boot wirklich auf den Sand zog, und mich tiefsinnig zwischen Verlangen und Furcht auf einen Sandhügel setzte, um zu berathen was zu thun sey. Wenn ich wartete, bis die Fluth eintrat, so trieb sie mich nach Nordwest, der Strom der Ebbe hingegen nach [263] Südost, in beiden Fällen entfernte ich mich vom Wrake; die Entscheidung war sehr schwer, und ich weiß nicht, wozu ich mich würde entschlossen haben, wenn nicht der Wind sich so sehr verstärkt hätte, daß ich gewiß seyn konnte, die Strömung zu überwältigen. Ich begab mich sogleich wieder in's Boot, und lavirte in dem stillen Gewässer zwischen dem nördlichen Strome und der Sandbank hin und her, um Fahrt zu erhalten, und als das Boot Trieb genug hatte, setzte ich in der Richtung Nordnordwest glücklich, obgleich mit starker Abtrifft, hinüber, und nun war ich meiner Sache gewiß, lenkte nach Nordost um, steuerte dem Wrak zu, und in weniger als zwei Stunden war ich schon da; es mochte bereits Nachmittags 3 Uhr seyn.

Das Schiff, seiner Bauart nach ein spanisches, bot den bejammernswürdigsten Anblick dar; der Vordertheil steckte zwischen zwei Klippen fest, auf welche es mit großer Gewalt getrieben worden seyn mußte; denn der große Mast und Fockmast waren dicht über dem Verdeck abgebrochen, und hiengen an dem verwickelten Tauwerk über Bord, der Bugspriet hingegen war noch ganz, der Hintertheil aber war noch flott, und durch das Ungestüm der Wellen größtentheils zertrümmert.

Als ich nahe an das Fahrzeug kam, zeigte sich ein Hund der mir entgegen bellte, und, sobald ich ihn rief, in's Wasser sprang und zu mir schwamm; ich nahm ihn in's Boot und sah, daß das arme Thier vor Hunger und Durst halb todt war; ich reichte ihm Brod, das er mit der Gier eines Wolfs verschlang, der vierzehn Tage im Schnee gehungert hat; darauf gab ich ihm[264] auch Wasser, wovon er hastig und bis zum Bersten gesoffen haben würde, wenn ich nicht Einhalt gethan hätte, aber es war mir zu viel an der Erhaltung dieses Geschöpfs gelegen, das mir meinen alten Treu ersetzen sollte. Nachdem er den ersten Hunger gestillt hatte, konnte er mir nicht genug seine Freude ausdrücken, und ich würde mich an seinen Schmeicheleien gern länger vergnügt haben, wenn nicht dringendere Geschäfte meiner gewartet hätten; ich gieng also an Bord, und als ich zurück kam, fand ich ihn schlafend.

Ausser dem Hunde war nichts Lebendiges mehr auf dem Schiffe. Das Erste, was sich mir darstellte, waren zwei Männer, die im Vordertheil des Schiffs sich fest umarmt hielten und in dieser rührenden Stellung ertrunken waren; wahrscheinlich schlugen die Wellen mit solcher Gewalt über das Fahrzeug her, als es auf den Klippen fest saß, daß das überströmende Wasser sie erstickte, eben als ob sie unter Wasser gewesen wären.

Wäre der Hintertheil des Schiffs fest gesessen und ganz geblieben, wie der Vordertheil, dieser aber zertrümmert gewesen, so wäre mir wahrscheinlich meine Mühe reichlich belohnt worden, denn nach dem, was ich fand, zu schliessen, muß das Fahrzeug große Schätze an Bord gehabt haben, und, nach seinem Laufe zu urtheilen, von Buenos Ayres oder Rio de la Plata, südwärts von Brasilien in Südamerika, nach Havannah und von da weiter nach Spanien bestimmt gewesen seyn; das Schicksal hatte aber ein Anderes über die armen Seefahrer bestimmt, welche von all dem Reichthum keinen Genuß hatten.[265]

Auch ich suchte nicht sowohl nach Schätzen als nach solchen Dingen, die mir in meiner Lage von wirklichem Nutzen seyn konnten, aber der größte Theil schien mir vom eingedrungenen Seewasser sehr gelitten zu haben. Als die Ebbe abgelaufen war, sah ich unten im Raum mehrere Fässer, die vermuthlich Wein oder Branntewein enthielten; sie waren aber zu groß, als daß ich sie hätte aus der Stelle bringen können, hingegen fand ich ein kleines Tönnchen von ungefähr zwanzig Maaß und brachte es nebst verschiedenen Kisten auf mein Boot, ohne erst zu untersuchen, was sich darin befinden möchte. In der Kajüte waren einige Musketen und ein großes Pulferhorn, worin sich vier Pfund Pulfer befinden mochten, dieses nahm ich mit, die Musketen aber nicht, weil ich deren genug hatte. Was mir aber das größte Vergnügen machte, war eine Feuerschaufel, eine Zange und ein Rost, die mir auch nachher von vielem Nutzen waren; überdas fand ich zwei kleine kupferne Kessel und eine Schokoladekanne. Mit dieser Ladung machte ich mich auf den Rückweg, und kam von der wachsenden Fluth und hellem Mondschein begünstigt, eine Stunde in der Nacht, in Begleitung meines Hundes, auf der Insel an. Ich war viel zu müde, um noch in die Burg zurückzugehen, labte mich und ihn vor Schlafengehen noch mit Speise und Trank, und schlief dann im Boote ruhig und unbesorgt, denn ich hatte nun wieder einen Wächter, den ich schon oft vermißt hatte.

Die Sonne war bereits über die Meeresfläche herauf, als ich erwachte. Nachdem ich gefrühstückt und[266] dem Hunde, der immer noch sehr hungrig war, auch seinen Theil gegeben hatte, brachte ich meine ganze Fracht an's Ufer, und fieng an, sie Stück für Stück durchzusehen. Das Fäßchen enthielt Rum, aber nicht von der Art und auch nicht so gut, wie der in Brasilien. In den Kisten fand ich Manches, das mir fehlte; Vieles das mir sehr nützlich und anderes, das mir sonst sehr angenehm war. In der ersten, ein Flaschenfutter von sehr schöner Arbeit, in welchem sich sechs mit Silber beschlagene Flaschen befanden, von denen jede anderhalb Maaß vortrefflichen Kordialwassers enthielt. Ferner zwei Töpfe mit eingemachten Zuckersachen, welche so wohl vermacht waren, daß das Salzwasser nicht eindringen und sie verderben konnte. Dann mehrere Hemden, zwei Dutzend weiße leinene Schnupftücher und einige bunte Halstücher; alles das war mir sehr willkommen, denn es war mir besonders angenehm und erfrischend, bei schwüler Hitze, angestrengter Arbeit oder starkem Laufe das Gesicht abzutrocknen. Zu unterst in der Kiste fand ich noch drei große Beutel voll Stücken von Achten, deren, wie ich nachher fand, eilf hundert waren; in dem einen waren auch sechs Pistolen in Gold, und etliche kleine Stücke ungemünzten Goldes in ein Papier gewickelt, die ungefähr ein Pfund wogen. Wie gerne hätte ich dieses Gold und Silber für ein Dutzend Paar englische Schuhe und Strümpfe hingegeben! das waren Dinge, die ich schon längst vermißte, und wonach mich sehr verlangte; ich fand zwar an den Füßen der beiden Ertrunkenen zwei Paar Schuhe und noch ein Paar in einer Kiste, aber[267] sie waren nicht so gut und bequem wie die englischen. Hier fand ich noch mehrere Kleidungsstücke und drei Flaschen mit feinem Schießpulfer oder sogenanntem Vogeldunst. In einer dritten Kiste waren noch fünfzig Stücke von Achten in Realen, aber kein Gold, und einige geringe Kleidungsstücke, woraus zu schliessen war, daß sie einem Matrosen, so wie die beiden andern einem Offizier und Unteroffizier angehört hatten. Was mir neben den Hemden, Schnupftüchern und Kleidungsstücken die größte Freude machte, waren 10 Bücher weißes Papier, 6 Bund Federn, ein Schreibzeug mit allem Zubehör, 2 Federmesser und eine große Flasche voll Tinte.

Mehr hatte ich nicht gerettet, und es war, wie schon bemerkt, Schade, daß nicht der hintere Theil des Schiffs sich in so gutem Stande wie der vordere befunden hatte, denn ich bin versichert, daß ich mein Boot einige Mal mit Gold hätte beladen können, das mich einst, wenn ich so glücklich war, wieder nach England zu kommen, zum reichen Mann gemacht hätte, bis dahin aber in meiner Grotte ganz sicher lag. Dahin brachte ich heute den ganzen Fund, das Boot an seine gewohnte Stelle, und den Ueberrest meiner Lebensmittel in meine Burg, wo ich Alles ruhig und in Ordnung fand, wie ich es gelassen hatte. Die Ankunft meines Hundes machte zwar anfangs die beiden Katzen und die Ziegen etwas scheu, denn er war jung und lebhaft, allein das gab sich bald, und sie gewöhnten sich in kurzer Zeit recht gut zu einander.

Quelle:
[Defoe, Daniel]: Der vollständige Robinson Crusoe. Constanz 1829, Band 1, S. 251-268.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Robinson Crusoe
Robinson Crusoe: Der Bücherbär: Klassiker für Erstleser
Robinson Crusoe: Erster und zweiter Band
Robinson Crusoe (insel taschenbuch)
Robinson Crusoe
Robinson Crusoe: Roman (Schöne Klassiker)

Buchempfehlung

Brachvogel, Albert Emil

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.

68 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon