Vierundzwanzigster Abschnitt.

[69] Aufenthalt in England.


Meine Lebensgeschichte bestätigt vollkommen Horazens Spruch: »daß ein irdenes Gefäß den zuerst angenommenen Geruch nie ganz verliert1 Nach einem fünfunddreißig Jahre langen Kampf gegen vielartige und fast beispiellose Unglücksfälle, genoß ich jetzt alles, was zum Glücke des Lebens beitragen kann. Meine Fortun war gemacht, in Sicherheit, und vermehrte sich täglich, so daß ich meine Einkünfte nicht zu verzehren vermochte, weil ich nicht die geringste Neigung hatte zu glänzen, sondern geräuschlos aber anständig für mich lebte. Wer hätte nun nicht glauben sollen, daß der angeborne Hang zu Reisen und Abentheuern, wo nicht ganz, doch so sehr verschwunden seyn würde, und ich desto weniger an neue Reisen gedacht[69] haben sollte, da von allen Beweggründen, die sonst dazu Gelegenheit geben, auch nicht einer vorhanden war.

Aber nach einem so thätigen Leben war meine jetzige Lebensart gar zu ruhig und geschäftlos; die Neigung zu reisen erwachte auf's Neue. Es war ein Rückfall in eine alte Krankheit. Meine Insel, meine Pflanzungen, die zurückgelassene Kolonie, waren der einzige und unaufhörliche Gegenstand meiner Gedanken, meiner Träume, meiner Wünsche und meiner Gespräche, so daß ich selbst fühlte, daß ich mich dadurch langweilig und lächerlich machte, ohne die Kraft zu haben, mich derselben enthalten zu können.

Die gute Wittwe, welche meinem Hauswesen vorstand, bemerkte mein Thun und Lassen mit theilnehmendem Herzen, suchte mich zu beruhigen, zu zerstreuen, und da alles vergeblich war, so sann sie darauf, mich an eine verständige, liebenswürdige Gattin zu verheirathen, und hoffte, die würde wohl bald dem Unwesen ein Ende machen. Ich ließ mich gerne dazu bereden, und bald war ich wirklich der glückliche Gatte des besten Weibes. Aber nach ein paar Jahren fieng der Gedanke an meine Insel wieder an mich zu quälen. Oft täuschte mich meine Einbildungskraft so sehr, daß ich glaubte, wirklich vor meiner Burg zu stehen, Freitags Vater, den Spanier und die ausgesetzten Engländer zu sehen, und ich sprach sogar wachend mit ihnen, nach ihren verschiedenen Verhältnissen. In einem Traume erzählten mir die beiden Ersten von der Bosheit der Engländer, welche ihre Erndten und Vorräthe vernichteten, um sie durch Hunger aufzureiben,[70] oder sie sonst zu ermorden suchten, worüber ich mich so sehr entrüstete, daß ich die Bösewichte zum Strange verurtheilte. Mein Traum war zwar nicht völlige Wahrheit, kam ihr aber doch sehr nahe. Ich mag nicht über Träume und Ahnungen entscheiden, und lasse Jedem sein Recht, sie der Einbildungskraft zuzuschreiben, und mit vielen Gelehrten zu glauben – oder wenigstens zu behaupten – daß wir den Schatten für Wirklichkeit halten.

Meine Frau dachte anders. Als sie sah, daß der Wunsch, meine Insel noch einmal zu sehen, zu einer solchen Heftigkeit stieg, daß sie ihn weder durch Thränen, noch Vorstellungen, weder durch Seufzer, noch Gründe und Bitten zu schwächen vermochte, sondern daß meine Begierde mit jedem Widerstande zunahm, so fieng sie an zu glauben, daß die Vorsehung selbst diese Reise verlange, und daß nur meine zärtliche Liebe zu ihr mich davon abhalte, und da sie sich eine Gewissenssache daraus machte, das Hinderniß einer so wichtigen Reise zu seyn, die durch göttliche Eingebung anbefohlen zu seyn schien, so bot sie sich selbst an, meine Begleiterin zu seyn. Diese Bereitwilligkeit und ihre zärtliche Betrübniß rührten mich so sehr, daß ich in mich gieng, und mein Vorhaben genauer überlegte. Ich erwog alles: meine ungemeine Liebe zu ihr, ihre zärtliche Anhänglichkeit an mich, den Gedanken, bald Vater zu werden, meine hohen Jahre, meine glückliche Lage, die Gefahren der See, und nach einem langen Streite zwischen Vernunft und Leidenschaft, ward ich endlich Herr über mich selbst, so wie man es, nach meiner Ueberzeugung, jeder Zeit seyn wird, wenn[71] man nur ernstlich will. Was am meisten zu diesem glücklichen Ausschlage beitrug, war der Vorsatz, mich mehr als bisher zu beschäftigen, weil ich fand, daß die Muße der Thätigkeit meines Geistes, aus Mangel an soliden Gegenständen, mir nur Zeit und Stoff zu Träumereien gab.

Ich kaufte mir daher ein Landgut in der Grafschaft Bedford, das aber vieler Verbesserungen bedürftig und fähig war, und mir also Gelegenheit gab, alles auszuführen, was ich auf meiner Insel hätte thun können. Das Wohnhaus war sehr artig, wohl gelegen, und so weit von den Küsten entfernt, daß ich nicht leicht in Gefahr stand, durch den Anblick der See und der Schiffe, oder durch die Erzählungen der Seeleute an meine Thorheiten erinnert, oder die Lust zu Seereisen geweckt zu werden.

Ich richtete mich daselbst bald auf's Beste ein, kaufte Wagen, Pflüge, Pferde, Ochsen, Schaafe, und ward in kurzer Zeit ein wahrer Landwirth, ich baute meinen eigenen Herd, hatte keine Zinsen zu bezahlen, war völlig Meister zu pflanzen, auszurotten, einzufriedigen, zu bauen, niederzureissen, wie ich's gut fand, und der ganze Ertrag war für mich, und die Verbesserungen des Gutes für meine Kinder, denn meine Gattin hatte mich bereits mit einem Knaben und einem Mädchen beschenkt, die mich zum glücklichsten Vater machten. Ich führte das angenehmste Leben, dachte nicht mehr an meine Insel und meine Abentheuer, und befand mich wirklich in dem von meinem Vater so oft angepriesenen, beneidenswerthen Zustande. Diese[72] Zeit war gewiß die glücklichste und zufriedenste meines ganzen Lebens.

Ach wie bald ward dieses Glück, diese Ruhe gestört! Meine Gattin, sie, die mir Alles war, starb in ihrem dritten Wochenbette, nachdem wir kaum vier selige Jahre mit einander verlebt hatten. Ihre zärtlichen und verständigen Gespräche hatten einen stärkern Eindruck auf mich gemacht, als meine Vernunft und Erfahrung, als die Lehren meines verständigen Vaters, und die Thränen meiner lieben Mutter, und ich hatte mich tausendmal glücklich geschätzt, durch ihre Sanftmuth und liebevolle Anhänglichkeit beglückt worden zu seyn.

Ihr Tod vernichtete das ganze Gebäude meiner Glückseligkeit, meiner Zufriedenheit, meiner Hoffnungen. Alle Freude schien von meinem Gute verbannt, alles wie ausgestorben zu seyn, und ich war, mitten unter meinen Hausgenossen, einsam, ohne Hülfe, ohne Trost, wie auf meiner Insel, und mitten in meinem Vaterlande so fremd, wie einst in Brasilien. Ich ließ meine Geschäfte gehen und stehen, wie sie wollten, und hatte an der ganzen Landwirthschaft einen unüberwindlichen Eckel. Meine kleine Familie, mein niedliches Landhaus und seine herrlichen Umgebungen hatten keinen Reiz mehr für mich. Das emsige Bemühen betriebsamer Menschen um mich her verursachte mir Aerger und Widerwillen. Ich sah die Reichen durch Thorheiten und Laster verarmen, durch Wollust sich erschöpfen und durch zu öftern Genuß für jede Lebensfreude fühllos werden; ich sah den Armen seine äussersten Kräfte anstrengen, um sich empor zu schwingen,[73] arbeiten, um zu leben, und nur leben um zu arbeiten, und sich unaufhörlich in diesem endlosen und ermüdenden Kreise herumtreiben; so sah ich Alle auf verschiedenen Wegen dem allgemeinen Ziel und Wunsch, dem Glücke nachjagen, und getäuscht, ermattet, nur Schmerzen und Reue erhaschen.

Solche Betrachtungen und die Vergleichung derselben mit der ruhigen Lebensweise auf meiner Insel, wo ich nicht mehr Land bauete, als zu einer hinlänglichen Aussaat nöthig war, nicht mehr säete, als der jährliche Bedarf bei einer ergiebigen Erndte erforderte, wo ich nur eine kleine Heerde, sowohl zu meinem Unterhalt als zu meinem Vergnügen aufzog, wo ich sogar das Gold verschimmeln ließ, ohne es in achtundzwanzig Jahren nur einmal anzusehen, alle diese einseitigen Ansichten brachten natürlich die Insel und meine Abentheuer in meine Erinnerung zurück, erregten auf's Neue den nur eingeschlummerten Hang zu Seereisen. Doch die Schwierigkeit der Ausführung und besonders die Trennung von meinen Kindern, so wie die Vorstellungen der guten Wittwe, meiner alten erprobten Freundin, hielten mich von einem allzuraschen Entschluß ab. Der Verdruß und die Langeweile, die ich bei allem empfand, was mir kurz vorher die angenehmsten Beschäftigungen und Erholungen gewährt hatte, und die Ueberzeugung, daß die Einsamkeit des Landlebens meinen Kummer und meine Unruhe vermehre, bewogen mich, mein Landgut zu verkaufen, und wieder nach dem geräuschvollen London zu ziehen. Aber was gewann ich dabei? der Ueberdruß begleitete mich dahin, und ich fand hier nicht mehr Zufriedenheit[74] als auf dem Lande. Ich hatte hier keine Beschäftigung, ich lief ohne Zweck hin und her, fühlte mich das werthloseste, unbedeutendste Geschöpf, ein Müßiggänger, was mir, an ein thätiges Leben gewohnt, desto unerträglicher war, und nach wenigen Wochen war mir das großstädtische Getümmel eben so verhaßt, als die Stille meines ländlichen Aufenthalts. Auch verachtete ich meine jetzige Lebensweise bald so sehr, daß ich diejenige auf meiner Insel der Menschenwürde weit angemessener schätzte, wo ich einen ganzen Monat auf die Verfertigung einer Planke verwendete.

Es war zu Anfang des Jahrs 1693, wo ich eben darauf sann, gegen welchem Orte ich London vertauschen wollte. Ich verglich meine gegenwärtige Lage und meine Begierde zu reisen mit allen Verumständungen, und hatte jetzt den Entschluß gefaßt, nach Lissabon zu gehen, meinen alten Freund um Rath zu bitten, und wenn er meine Entwürfe billigte, eine Vollmacht zu verlangen, um meine Insel zu bevölkern, und daselbst eine Kolonie anzulegen. Kaum war ich darüber im Reinen, als mein Neffe hereintrat, der von seiner ersten Reise, die er als Schiffskapitän nach Bilbao gemacht hatte, zurückkam, und mir erzählte, daß ihm von einigen Handelsleuten der Antrag geschehen sey, für sie eine Reise nach Indien und China zu thun. »Und wie wär' es, fuhr er fort, wenn Sie mit mir giengen? Ich muß Brasilien berühren, von da ist's nicht weit bis zu Ihrer Insel, und ich führe Sie hin, wenn Sie wollen.«

Nichts scheint mir so sehr die Wirklichkeit eines[75] zukünftigen Lebens und das Daseyn einer Geisterwelt zu beweisen, als das Zusammentreffen unserer Gedanken mit denen anderer Menschen, ohne die geringste vorhergegangene Mittheilung und der sie begünstigenden Umstände. Mein Neffe wußte nicht das Geringste von meiner neu aufgewachten Lust, zu reisen, so wie auch seine neue Reise und ihre Richtung mir gänzlich unbekannt war. »Ach, welcher Dämon, rief ich, gab Ihnen ein, mir diesen unseligen Vorschlag zu thun?« Er war über diese Frage bestürzt, da er aber bemerkte, daß ich gar nicht so abgeneigt schien, so erwiederte er: »Ist denn, lieber Onkel, dieser Vorschlag so verwerflich? Es scheint mir so natürlich, zu wünschen, Ihr kleines Königreich wieder zu sehen, das Sie mit weit mehr Zufriedenheit beherrscht haben, als andere Monarchen die ihrigen.«

Bald waren wir einverstanden, denn der Vorschlag stimmte viel zu gut mit meinen Wünschen überein, und es kam bloß darauf an, daß mein Neffe von den Rheedern die Erlaubniß bekam, mich mitzunehmen. Noch war die Bedenklichkeit übrig, wie ich wieder von meiner Insel zurückkommen sollte, da ich, ungeachtet meiner Sehnsucht, nicht Lust hatte, weiter zu reisen, noch weniger, ohne Kolonie, dort zu bleiben, und mein Leben in kümmerlichen Umständen zu beschliessen. Ich schlug ihm vor, mich auf seiner Rückreise wieder abzuholen, aber dazu durfte er die Erlaubniß nicht erwarten, da dies einen großen Umweg und einen Zeitverlust von mehrern Monaten verursacht haben würde, und wenn er das Unglück haben sollte, Schiffbruch zu leiden,[76] so fand ich mich in der nämlichen traurigen Lage, aus welcher ich endlich das Glück hatte befreit zu werden.

Endlich fand ich Mittel, auch dieses Hinderniß zu beseitigen; ich schlug nämlich vor, alle Stücke, die zu einer vollständigen Schluppe gehören, nebst einigen Zimmerleuten mitzunehmen, die sie im Fall der Noth zusammenfügen und auf der Insel vollends fertig machen könnten, und dieses Fahrzeug sollte mich, wenn ich es verlangte, nach dem festen Lande übersetzen. Mein letzter Entschluß war bald gefaßt, denn die Antriebe meines Neffen stimmten so sehr mit meinem Hang überein, daß nichts im Stande war, mich von der Ausführung abzuhalten, und da meine Frau todt war, so fand sich Niemand mehr, der genug Antheil an mir nahm, um mich von meiner Thorheit abzubringen, als meine Freundin, die gute Wittwe, welche mir mit aller Lebhaftigkeit, aber umsonst, mein Alter, meinen Reichthum, die unnöthige und gefahrvolle Reise, und vorzüglich meine beiden Kinder vorstellte. Ich erwiederte, daß meine Sehnsucht unüberwindlich, mein Entschluß unabänderlich sey, und daß ich glaubte, mich gegen die Vorsehung zu versündigen, wenn ich der innern Stimme, die mich dahin riß, nicht nachgebe; so verwegen ist der Mensch, die Stimme seiner Leidenschaften für Winke des Himmels auszugeben, um seine Thorheiten zu beschönigen!

Als sie sah, daß alles vergebens war, um mich zur Vernunft zu bringen, so gab sie mir jeden guten Rath und Beistand, um alles, was zu meiner Bequemlichkeit und Nutzen auf der Reise diente, anzuschaffen, und[77] besorgte alles mit der ihr eigenen Treue und Thätigkeit, besonders aber suchte sie durch tausend vortreffliche Rathschläge alles für das Wohlseyn und die Erziehung meiner Kinder anzuordnen, und um hierin nichts zu vernachlässigen, machte ich mein Testament, lieferte mein Vermögen in sichere Hände, so daß ich überzeugt seyn konnte, daß meine Kinder nichts davon einbüßen würden. Die Erziehung derselben übergab ich der Wittwe selbst, und setzte ihr ein reichliches Auskommen fest, um anständig und bequem leben zu können. Auch fand ich nachher, daß nie ein Geschenk besser angewandt war, als dieses, denn sie betrug sich mit einer Klugheit, einer Mutterliebe und Treue, als ob es ihre eigenen Kinder gewesen wären. Sie lebte noch lange genug, um bei meiner Zurückkunft Beweise meiner Dankbarkeit zu erhalten.

Fußnoten

1 Quo semel imbuta recens, servabit odorum Testa din. – Horat. Epist. lib. 1.


Quelle:
[Defoe, Daniel]: Der vollständige Robinson Crusoe. Constanz 1829, Band 2, S. 69-78.
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