Oben und Unten

[94] Ueber die grauen Dächer weg,

hoch hier oben,

durch die langen roten Nelken,

die vor meinem offnen Fenster

leise zwischen mir

und dem blauen Abendhimmel schwanken,

will mein Auge,

will meine Seele

hinaus, hinauf.


Um die höchste goldene Kirchturmkugel,

im letzten fernen Lichte,

mit hellen Flügeln,

zieht ein Taubenschwarm

zitternde Kreise

über dem Hause

meiner Geliebten.


Aus dem blassen Westen

will der erste Stern und überflimmert

scheu den lauten Dunst und trüben Lärm

der großen Stadt hier unten,

wie der erste, winkende Traumgedanke

aus dem wirren Schwarm der Lebensfragen

in der Seele des Müden taucht –

da klopft es.
[95]

Klopft und ist auch schon im Stübchen,

sitzt mir auf dem Stuhle gegenüber,

sagt kein Wort, und nur die roten Lippen

unterm schwarzen Ringelhaar

winken roter als die rote Bluse

auf den scheuen Knospen ihres Busens;

und ich sage auch nichts.


Ihre schwarzen Augensterne zittern

durch die stumme Dämmerung des Stübchens

hoch hier oben

einen süßen jungen Evablick

nach den langen roten Nelken hin;

ihre Augen!


Und ich angle nach ihr mit den Beinen,

diesen Perpendikeln meines Herzens:

Kleine, merkst du,

was die Uhr geschlagen hat? –

Quelle:
Richard Dehmel: Aber die Liebe. München 1893, S. 94-96.
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