36.

[231] Und Tal und Berge ruhn in bleicher Pracht;

groß blühn die Sterne durch die Bäume,

und lautlos über Raum und Räume

erdehnt ins Leere sich die blaue Nacht.

Und nun ist bald das Schwere vollbracht;

schon rührt sich fern durchs Land, als schlüge

ein Herz im Schnee mit dumpfer Macht,

eisern das Bahngeräusch der Züge.

Und heiß, mit einem Lächeln heiliger Lüge,


haucht das Weib: Nun magst du gehn –

hier, wo wir noch durch unsern Himmel schreiten,

sag ich dir ruhig – – sie bleibt jäh stehn,[232]

ihre Stimme bricht, ihre Hände gleiten

ihr schützend unters Mutterherz,

ihre Lippen zwingen sich zum Scherz:

in guter Hoffnung auf Wiedersehn –


Da muß weit der Mann die Arme breiten:


Nicht aber so! – ja weine, weine –

o sieh: aus tiefster Quelle klar

quillt meine Träne heiß in deine –

und mich verklärend mit dem Glorienscheine

um dein nachtentsprossen Haar,

steh ich hier vor dir und schwör dir: Nie

wird diese Klarheit enden! – Sieh:

es legt das Dunkel sich in meine Hände,

als ob es Zuflucht suchte und nun fände:

zu Sternen heb'ich meinen sichern Blick!

Da – o Glück:

ahnst du sie, die Pflicht der Welt?

Ja: von Sphären hin zu Sphären

muß sie Saat aus Saaten gebären,

bringt sie uns das Licht der Welt:

rieselnd wie aus dunklem Siebe

sät es Liebe, Liebe, Liebe

von Nacht zu Nacht, von Pol zu Pol –


Zwei Menschen sagen sich Lebwohl.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 231-233.
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