35.

[229] Und Seel in Seele neu begnadet

umschreiten sie die alte Ahnengruft.

In den verschneiten Wäldern badet

der goldenblaue Morgenduft.

Und Hand in Hand vorbei an Baum und Baum

erzählt der Mann dem Weib einen Traum:


Es war, als ging ich irr auf Schicksalswegen,

und nur das Eine wußte ich:

ich kam vom Tod und ging dem Tod entgegen –

da fand ich in der dunkeln Wüste Dich.

Dein Haupt beschirmend hob zur Sternenzone

ein Palmbaum seine starre schwarze Krone;[230]

doch eins der Blätter neigte sich,

als sollten wir's auf einen Friedhof bringen.

Und da wir's nun zu uns herniederzwingen,

da fängt es an zu knistern und zu glühen,

und seine zitternden Adern sprühen

ein leuchtendes Gefäßnetz aus.

Und von dem Ätherglanz mit dir umschlungen,

entschweb'ich, aller Irrsal hell entrungen,

still heimathin durchs Weltgebraus.


Und Hand in Hand vorbei an Baum und Baum

erzählt das Weib: Es muß dein Traum

in meinen Schlaf geleuchtet haben:


Ich schwebte über einem breiten Graben,

und jenseits, hoch am grauen Himmelssaum,

stand deine strahlende Gestalt, doch schlief,

bewacht von sieben dunklen, die sich beugten.

Und während sie im Wasserspiegel tief

mir ihre Ähnlichkeit mit dir bezeugten,

begannen sie in dich hinein zu schwinden.

Und du, erwachend, sprachst, mir beigesellt:

wir sind so innig eins mit aller Welt,

daß wir im Tod nur neues Leben finden.


Und ringsher träumt die Waldung, weiß verkleidet.

Zwei Menschen fühlen, daß der Tod nicht scheidet.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 229-231.
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