6.

[19] Durch stille Dämmrung strahlt ein Weihnachtsbaum.

Zwei Menschen sitzen Hand in Hand und schweigen.

Die Lichter züngeln auf den heiligen Zweigen.

Ein Mann erhebt sich, wie im Traum:


Ich kann zu keinem Gott mehr beten

als dem in dein-und-meiner Brust;

und an die Gottsucht der Propheten

denk ich mit Schrecken statt mit Lust.

Es war nicht Gott, womit sie nächtlich rangen:

es war das Tier in ihnen: qualbefangen

erlag's dem ringenden Menschengeist!

O Weihnachtsbaum – oh wie sein Schimmer,[20]

sein paradiesisches Geflimmer

gen Himmel züngelnd voller Schlänglein gleißt –

wer kann noch ernst zum Christkind beten

und hört nicht tiefauf den Propheten,

indeß sein Mund die Kindlein preist,

zu sich und seiner Schlange sprechen:

du wirst mir in die Ferse stechen,

ich werde dir den Kopf zertreten!


Ein Weib erhebt sich. Ihre Haut

schillert braun von Sommersprossen;

ihr Stirngeäder schwillt und blaut.

Sie spricht, von goldnem Glanz umflossen:


Ich denk nit nach um die Legenden,

die unsern Geist vieldeutig blenden,

ich freu mich nur, wie schön sie sind.

»Uns ist geboren heut ein Kind«

das klingt mir so durch meine dunkelsten Gründe,

durch die zum Glück, dank einer Ahnensünde,

auch etwas Blut vom König David rinnt,

daß ich mich kaum vor Stolz und Wonne fasse

und deine Schlangenfabeln beinah hasse!


Er lächelt eigen; sie sieht es nicht.

Ein Lied erhebt sich, fern, aus dunkler Gasse.

Zwei Menschen lauschen – dem Lied, dem Licht.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 19-21.
Lizenz:
Kategorien: