20.

[123] Und ein Abend rötet die Dächer alle.

Eine Taubenschaar kreist mit flammenden Schwingen,

als habe sie dem schwülen Tale

eine Himmelsbotschaft herabzubringen.

Da erklärt das Weib mit einem Male:


Lukas, nun muß ich dir etwas sagen:

ich hab einen Brief an dich unterschlagen.

Ich mußt endlich wissen, was du triebst,

wenn du zuweilen Nachts heimlich schriebst –

du brauchst dein Erblassen nicht zu verstecken:

auch mich kam Furcht an, Schmerz, Verwirrung, fast Schrecken.

Ich konnt die sonderbaren Chiffern[124]

zwar nit ganz und gar entziffern;

aber dieser Freund benutzt dich als Helfershelfer zu Zwecken,

die lichtscheu sind – er spricht von deinem Leben,

als wärst du gewohnt, falsche Karten zu geben.

Oh Lux, vertrau mir! Ich hab nichts, nichts zu verlieren

als Dich! Ich will mich in jede Armut finden.

Selbst verachtet zu werden, könnt ich verwinden.

Nur: laß dir nicht für Geld die Hände binden!

Sag mir –: was ist's mit den Archivpapieren? –


Schwül blickt der Mann nach den flammenden Tauben.

Seine Rechte hat versucht sich zu ballen.

Er sagt, und seine Worte fallen

wie metallen:


Es ist Nichts! ich fordre von dir Glauben

Und bis du reif bist, Näheres zu erfahren,

und um dir weiteres Mißtraun zu ersparen,

wird dieser Briefwechsel einfach unterbleiben;

denn ja – ich kann jetzt nicht mehr heimlich schreiben.

Einstweilen aber sollte dein eigen Treiben

dir die Erleuchtung innerst nahe legen:

kein Licht kommt anders als auf dunklen Wegen! –

Hier: blick mir in die Augen hinein:

sag, meinst du wirklich, Ich kann lichtscheu sein??


Zwei Menschenseelen schimmern sich entgegen.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 123-125.
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