19.

[121] Doch von fernen Höhen springt das Licht

über Land und Stadt durch den trüben Morgen;

zwischen rings aufglitzerndem Grün verborgen,

hebt der Mann sein verwachtes Gesicht.

In dem einsamen Garten knirschte der Sand.

Er lauscht noch, ob er träumte ob wachte

– eine Meise huscht um den Laubenrand –

da steht sie vor ihm, an die er dachte.

Sie nimmt die lahme, vernarbte Hand.

Er will sie ihr entreißen, entringen;

aber heiße Tränen dringen

über ihr und sein Gesicht,[122]

er kann es nicht –


Nein, Meiner! – und würdest du jetzt mich schlagen,

was wär mir's gegen dies Wiederfinden!

Oh, ich wär ja am liebsten mit vier Wagen

nach allen vier Winden

auseinandergejagt, dir endlich zu sagen:

was Du kannst, kann auch Ich ertragen!

alle, alle Weibeskraft sollst du in mir finden! –

Sieh: hier hast du zwei Hände statt der einen.

Ich bin ja nicht mehr wie früher. Schau:

da mußt'ich mein Menschlichstes verneinen,

um der Welt und mir etwas vorzuscheinen.

Jetzt bin ich etwas: Deine stolze Frau! –

Ja: steh auf! mir ist, als müßt'ich ersticken,

bis die Leute mit menschenfreudigen Blicken

uns wieder nachschaun: welch strahlend Paar!

Und schlichest du, so die Stirne hebend, an Krücken,

ich hör ihr Geflüster: Wunderbar,

wer muß das sein, was für ein Mann,

dem solch ein Weib gehören kann!


Sie lacht: seine Hand bebt auf ihrem Haar.

Von den fernen Höhen lacht der Morgen.

Um die Laube lachen die Vögel gar.

Zwei Menschen fühlen sich geborgen.

Quelle:
Richard Dehmel: Zwei Menschen. Berlin 1903, S. 121-123.
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