Zweiter Traum

[32] Holder Sänger der Nacht! Schön ist im bebenden

Mondenschimmer dein Lied, wenn der gelinde West

Sich im sprossenden Wipfel

Kühler Maiengebüsche wiegt,


Wenn die Gegend umher duftender Knospendrang

Still durchathmet, und nur, nur der entfesselte

Fernher lispelnde Waldquell

Deiner Kehle Begleiter ist.


Schön ist, Sänger! dein Lied. Aber wer horchet ihm?

Buchen ragen um dich, ragen, und horchen nicht.

Hügel steigen um dich her,

Triften liegen, und horchen nicht.


Taub ist alles und todt. Ungehört, unbelohnt

Strömt dein heller Gesang dennoch die Nächte durch,

Federbarde, Verschwender

Deiner göttlichen Liederkraft!
[33]

Auf, und hasse den Hain ohne Gefühl und Dank!

Auf, und lenke den Flug milderen Gegenden,

Und verdienteren Zeugen

Deiner reizenden Künste zu!


Wo manch dürstendes Ohr, Sänger! dich ganz versteh't;

Wo manch fühlendes Herz deinem Geseufze schmilzt,

Und vom zärtlichen Auge

Deinen Klagen entgegenthau't.


Oder liebst du den Hain ohne Gefühl und Dank,

Willst du bleiben, so schweig', schwelge dich satt und fett

An dem Sommergewürme,

Buhl' und schnäble die Tage durch,


Und durchschlumm're die Nacht an der gefälligsten

Freundinn Seite! Warum folgtest du, Sänger! nicht

Andern Vögeln des öden

Haines ohne Gefühl und Dank? –


Doch du bleibest und ström'st deine Gesänge fort,

Hör'st mein Warnen nicht an. Ha, ich verstehe dich!

Zeugen sind dir entbehrlich,

Federbarde! Du sing'st für dich.
[34]

O so singe denn fort, sicher der Göttlichkeit

Deiner Klänge! Geneuß einsam, geneuß dich selbst,

Bis mit klügeren Sängern

Dich dein Winter verstummen heißt!

Quelle:
Michael Denis: Auserlesene Gedichte, Passau 1824, S. 32-35.
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